Das Jahr 2017 kündigte sich als das «Superkunstjahr» an. Jetzt sind die Grossereignisse hinter uns: die Documenta (alle fünf Jahre), die Biennale (alle zwei Jahre), die Skulpturprojekte Münster (alle zehn Jahre) – und? An allen Ecken und Enden der Kunstwelt hat es geknarzt und geknirscht.
Dabei ist die Kunst, vor allem die schwierige zeitgenössische Sparte, durchaus die Gewinnerin der gegenwärtigen Wertekrise. Ihr Markt ist stark, die Werke sind begehrt. Die angesagten Künstler führen Wartelisten. Gerade dadurch gerät sie unter einen Generalverdacht.
Was so gierig gekauft wird, geht die Argumentation, ist moralisch zweifelhaft. Die hohen Preise, die für Kunst bezahlt werden, scheinen sie zu einem eitlen Luxusgut zu degradieren wie Uhren, Jachten und SUVs. Ausgerechnet die Avantgarde-Kunst gilt jäh als frivol, servil, irrelevant und moralisch angreifbar. Hofkunst der Reichen!
Unter diesen Vorzeichen traten die Kuratoren der grossen Schauen zu einer Ehrenrettung der Kunst an und wollten unbedingt beweisen, dass die Kunst noch kritisch, existenziell und unbequem sein kann. Dennoch wird das Superkunstjahr 2017 als das Krisenjahr der Grossausstellungen in die Geschichte eingehen.

Der Künstler Daniel Chluba (links) und Gleichgesinnte protestierten schon 2014 gegen den Grössenwahnsinn der Documenta. (Bild via Wirwollennichtzurdocumenta14.de)
«Der Himmel hängt so voll von diesen Biestern, Biennalen, Triennalen, Festivals, dass man die Sonne kaum noch durchsieht», schrieben in einem offenen Brief Künstler bereits 2014 an den Documenta-Kurator Adam Szymczyk, und äusserten ihre Unlust, an einem weiteren Grossereignis teilzunehmen. Die Documenta bemühte sich daraufhin redlich, alles andere als Salonkunst zu zeigen – und verkam zu einem seltsamen Jahrmarkt des politischen Aktivismus, der am Ende gerade künstlerisch nicht überzeugte. Die Biennale unter der Leitung der Französin Christine Macel wollte hingegen vor allem die Kunst und nur die Kunst feiern – und versank im Wirrwarr wohlmeinender, doch am Ende harmloser Gesten.

Proteste gegen die Installation des israelischen Künstlers Omar Fast in Chinatown (Bild assamnews)
Die interessanteste Überlegung zu dieser 2017-Misere hörte ich vor wenigen Tagen anlässlich der Kunstkonferenz der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» in Berlin. Wolfgang Ullrich, ein Kunstwissenschafter mit originellen Ideen, sprach dort über einen Rollenwechsel in der Kunstwelt. Und entlarvte ausgerechnet die überpolitisierte «Kuratoren-Kunst» als einen Angriff auf die Souveränität der Sparte.
Ullrich stellte gerade in den westlichen Ländern eine Tendenz fest, gewisse Kunstwerke «in offener Feindschaft und ohne Kompromissbereitschaft» an den Pranger zu stellen. Das Verblüffende daran ist, dass es eben nicht Wutbürger oder Populisten sind, die zu moralisch motivierten Kunst-Taliban mutieren, sondern gerade Intellektuelle und Feuilletonisten.

Blackfacing verboten? Cindy Sherman stellt in ihren Film Stills von 1976 «Bus Riders» nach. (Bilder Storify, ©artist)
Tatsächlich gab es 2017 mehrere Fälle solcher Moralzensur, die für Schlagzeilen sorgten. Cindy Sherman etwa wurde angegriffen, weil in ihren frühen Film Stills von 1976 angeblich die Rollen der Schwarzen klischierter ausgefallen sein sollten als die anderen Rollen, welche die Künstlerin in ihrer bekannten Manier als Fotosujets nachstellt. Unter dem Hashtag #cindygate wurde dazu aufgerufen, diese Werke, die mittlerweile zu den Klassikern der zeitgenössischen Kunst gehören, kurzerhand zu zerstören.

Dana Schutz’ Werk «Open Casket»: War der Shitstorm umso stärker, weil die Künstlerin ihre Werke gut verkauft? (Bild artnetnes)
Die Malerin Dana Schutz wurde angefeindet, weil sie die Ermordung eines schwarzen Jugendlichen darstellte – und das angeblich gar nicht tun durfte, weil ihr dazu als Weisse die Kompetenz fehle. Jimmie Durham wird von den Cherokees gehasst, weil er laut seiner Stammgenossen nicht Cherokee genug ist, um sich als solcher zu bezeichnen. Marina Abramovic soll sich in ihren Memoiren achtlos über die Ureinwohner Australiens geäussert haben, und der Israeli Omar Fast erlebte einen gewaltigen Shitstorm, weil er in Chinatown einen Raum als ein ärmliches Chinatown Environment installierte: Poverty-porn!

«Still Life with Spirit and Xitle» (2007), ein Werk von Jimmie Durham (Bild phaidon)
In dieser Situation, erzählte Ullrich den in Berlin versammelten Kunstkoryphäen, kann ausgerechnet der als unmoralisch verschriene Markt eine kunstfreundliche Gegenposition verkörpern. Weil eben: amoralisch. Also auch nicht moralinsauer. Den Fesseln der politisch korrekten Zensur unzugänglich. «Markt und Kunst», so das verblüffende Fazit, seien in ihrem innersten Wesen verwandt, weil sie eben vom Abenteuer lebten, «in dem die sonst geltenden Konventionen zumindest entkräftet, wenn nicht gänzlich suspendiert werden».

Wolfgang Ullrich an der Kunstkonferenz in Berlin (Bild ewh)
Ich persönlich würde dabei nicht so weit wie Ullrich gehen, der bereits einen schmerzhaften Riss ortet, der die Kunstwelt bald auseinanderreissen könnte: Hier Kuratorenkunst, dort die Exzesse des Marktes. Als ewige Optimistin bleibe ich zuversichtlich, dass sowohl die neuen Taliban, denen die Kritik des Neoliberalismus und der Minderheitenschutz über jedes kunstimmanente Kriterium gehen, als auch die Marktstrategen, die kaltblütig den aufgewärmten Leonardo inmitten der zeitgenössischen Kunst als ein Event verkaufen, eine kurzfristige Erscheinung bleiben. Eine Laune unserer Zeit, die auf der Suche nach einer neuen Identität so etwas wie ein zweites Mittelalter durchmacht. Inklusive heiliger Inquisition und des irrationalen Reliquienhandels.