Archiv für die Kategorie ‘Documenta’

Die Kunst-Taliban kommen!

Ewa Hess am Mittwoch den 6. Dezember 2017

Das Jahr 2017 kündigte sich als das «Superkunstjahr» an. Jetzt sind die Grossereignisse hinter uns: die Documenta (alle fünf Jahre), die Biennale (alle zwei Jahre), die Skulpturprojekte Münster (alle zehn Jahre) – und? An allen Ecken und Enden der Kunstwelt hat es geknarzt und geknirscht.

Dabei ist die Kunst, vor allem die schwierige zeitgenössische Sparte, durchaus die Gewinnerin der gegenwärtigen Wertekrise. Ihr Markt ist stark, die Werke sind begehrt. Die angesagten Künstler führen Wartelisten. Gerade dadurch gerät sie unter einen Generalverdacht.

Was so gierig gekauft wird, geht die Argumentation, ist moralisch zweifelhaft. Die hohen Preise, die für Kunst bezahlt werden, scheinen sie zu einem eitlen Luxusgut zu degradieren wie Uhren, Jachten und SUVs. Ausgerechnet die Avantgarde-Kunst gilt jäh als frivol, servil, irrelevant und moralisch angreifbar. Hofkunst der Reichen!

Unter diesen Vorzeichen traten die Kuratoren der grossen Schauen zu einer Ehrenrettung der Kunst an und wollten unbedingt beweisen, dass die Kunst noch kritisch, existenziell und unbequem sein kann. Dennoch wird das Superkunstjahr 2017 als das Krisenjahr der Grossausstellungen in die Geschichte eingehen.

Der Künstler Daniel Chluba (links) und Gleichgesinnte protestierten schon 2014 gegen den Grössenwahnsinn der Documenta. (Bild via Wirwollennichtzurdocumenta14.de)

«Der Himmel hängt so voll von diesen Biestern, Biennalen, Triennalen, Festivals, dass man die Sonne kaum noch durchsieht», schrieben in einem offenen Brief Künstler bereits 2014 an den Documenta-Kurator Adam Szymczyk, und äusserten ihre Unlust, an einem weiteren Grossereignis teilzunehmen. Die Documenta bemühte sich daraufhin redlich, alles andere als Salonkunst zu zeigen – und verkam zu einem seltsamen Jahrmarkt des politischen Aktivismus, der am Ende gerade künstlerisch nicht überzeugte. Die Biennale unter der Leitung der Französin Christine Macel wollte hingegen vor allem die Kunst und nur die Kunst feiern – und versank im Wirrwarr wohlmeinender, doch am Ende harmloser Gesten.

Proteste gegen die Installation des israelischen Künstlers Omar Fast in Chinatown (Bild assamnews)

Die interessanteste Überlegung zu dieser 2017-Misere hörte ich vor wenigen Tagen anlässlich der Kunstkonferenz der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» in Berlin. Wolfgang Ullrich, ein Kunstwissenschafter mit originellen Ideen, sprach dort über einen Rollenwechsel in der Kunstwelt. Und entlarvte ausgerechnet die überpolitisierte «Kuratoren-Kunst» als einen Angriff auf die Souveränität der Sparte.

Ullrich stellte gerade in den westlichen Ländern eine Tendenz fest, gewisse Kunstwerke «in offener Feindschaft und ohne Kompromissbereitschaft» an den Pranger zu stellen. Das Verblüffende daran ist, dass es eben nicht Wutbürger oder Populisten sind, die zu moralisch motivierten Kunst-Taliban mutieren, sondern gerade Intellektuelle und Feuilletonisten.

Blackfacing verboten? Cindy Sherman stellt in ihren Film Stills von 1976 «Bus Riders» nach. (Bilder Storify, ©artist)

Tatsächlich gab es 2017 mehrere Fälle solcher Moralzensur, die für Schlagzeilen sorgten. Cindy Sherman etwa wurde angegriffen, weil in ihren frühen Film Stills von 1976 angeblich die Rollen der Schwarzen klischierter ausgefallen sein sollten als die anderen Rollen, welche die Künstlerin in ihrer bekannten Manier als Fotosujets nachstellt. Unter dem Hashtag #cindygate wurde dazu aufgerufen, diese Werke, die mittlerweile zu den Klassikern der zeitgenössischen Kunst gehören, kurzerhand zu zerstören.

Dana Schutz’ Werk «Open Casket»: War der Shitstorm umso stärker, weil die Künstlerin ihre Werke gut verkauft? (Bild artnetnes)

Die Malerin Dana Schutz wurde angefeindet, weil sie die Ermordung eines schwarzen Jugendlichen darstellte – und das angeblich gar nicht tun durfte, weil ihr dazu als Weisse die Kompetenz fehle. Jimmie Durham wird von den Cherokees gehasst, weil er laut seiner Stammgenossen nicht Cherokee genug ist, um sich als solcher zu bezeichnen. Marina Abramovic soll sich in ihren Memoiren achtlos über die Ureinwohner Australiens geäussert haben, und der Israeli Omar Fast erlebte einen gewaltigen Shitstorm, weil er in Chinatown einen Raum als ein ärmliches Chinatown Environment installierte: Poverty-porn!

«Still Life with Spirit and Xitle» (2007), ein Werk von Jimmie Durham (Bild phaidon)

In dieser Situation, erzählte Ullrich den in Berlin versammelten Kunstkoryphäen, kann ausgerechnet der als unmoralisch verschriene Markt eine kunstfreundliche Gegenposition verkörpern. Weil eben: amoralisch. Also auch nicht moralinsauer. Den Fesseln der politisch korrekten Zensur unzugänglich. «Markt und Kunst», so das verblüffende Fazit, seien in ihrem innersten Wesen verwandt, weil sie eben vom Abenteuer lebten, «in dem die sonst geltenden Konventionen zumindest entkräftet, wenn nicht gänzlich suspendiert werden».

Wolfgang Ullrich an der Kunstkonferenz in Berlin (Bild ewh)

Ich persönlich würde dabei nicht so weit wie Ullrich gehen, der bereits einen schmerzhaften Riss ortet, der die Kunstwelt bald auseinanderreissen könnte: Hier Kuratorenkunst, dort die Exzesse des Marktes. Als ewige Optimistin bleibe ich zuversichtlich, dass sowohl die neuen Taliban, denen die Kritik des Neoliberalismus und der Minderheitenschutz über jedes kunstimmanente Kriterium gehen, als auch die Marktstrategen, die kaltblütig den aufgewärmten Leonardo inmitten der zeitgenössischen Kunst als ein Event verkaufen, eine kurzfristige Erscheinung bleiben. Eine Laune unserer Zeit, die auf der Suche nach einer neuen Identität so etwas wie ein zweites Mittelalter durchmacht. Inklusive heiliger Inquisition und des irrationalen Reliquienhandels.

Der Geist der Documenta

Ewa Hess am Mittwoch den 12. April 2017

Die Documenta 14 in Athen hat mehr oder weniger harsche Kritiken geerntet. Der Tenor: Gut gemeint, doch zu harmlos. Der im Vorfeld produzierte riesige Theorieberg hat ein Kunstmäuschen geboren. Von Adam Szymczyk, diesem coolsten aller Kuratoren allein schon seines Aussehens wegen (schlacksiger Gang, hohe Wangenknochen, rebellische Stirnfransen) hat man etwas Kantigeres erwartet als diesen warmen Strom wohlmeinender Sozialkunst, der, über die Athener Kulturinstitutionen verteilt, wie ein Süppchen vor sich hin kocht. Was ging da schief?, fragen sich Kunstfreunde. Hier ein Erklärungsversuch.

Was: Documenta 14 in Athen
Wann: Seit Samstag, dem 8.4., dem Publikum zugänglich, bis 17.9.
Wo: Erst einmal in Athen, ab 10.6. geht es in Kassel weiter

Kurator Adam Szymczyk bei Pressekonferenz (l.) und Kunst-Event «Transit des Hermes».

Dabei hat sich diese Sache mit dem «Parlament der Körper» zunächst recht kantig angekündigt, das Konzept hatte Potenzial, neuen Wein in die alten Documenta-Schläuche zu pumpen. Die politisch stramm links angesiedelten «34 Freiheitsübungen» folgten, die «die linksradikale Tradition mit dem antikolonialen Selbstbestimmungskampf indigener Bewegungen in Europa» verbinden sollten. Vielleicht fing die Sache schon hier an, aus dem Ruder zu laufen, denn von Anishinaabe-Volk über das Kwakwaka’wakw-Volk bis zu den Samen waren plötzlich so viele Minderheiten vertreten und erbost zugange, dass jeder, der noch nie etwas vom grausamen nordkanadischen Potlatch-Bann gehört hat, sofort ein schlechtes Gewissen bekommen musste.

Masken von Künstler Beau Dick, der Tage vor Eröffnung der Documenta verstorben ist.

Zunächst aber ein Schritt weiter zurück: Mit den Riesenausstellungen verhält es sich wie mit dem Radsport. Bei jeder neuen Veranstaltung erwartet man Rekorde, irgendwelchen Fortschritt, doch möglicherweise ist in beiden Fällen die menschliche Entwicklungsgrenze erreicht.

Die Muskeln und das Herz eines naturbelassenen Radfahrers geben womöglich nicht mehr her. Ebenso gilt: kann die Kunst wirklich noch etwas komplett Neues erfinden? Zweifel sind angebracht. Man hat also zwei Möglichkeiten: Entweder dopt man oder man enttäuscht.

David Knorrs Abfallinstallation im Konservatorium Odeon (l.), realer Abfall hinter der Kunstakademie.

Die Kunst war in den letzten, sagen wir, 10 Jahren, ganz eindeutig auf Dope. Die Werke wurden durch Grösse, kostbare Verarbeitung und astronomische Preise so aufgebläht, dass im Hirn der Besucher jener herrliche Dopaminrausch entstehen konnte, der sie nach immer mehr glamourösen Events verlangen liess. Zigtausende, die sich nach Kassel, Venedig oder Basel aufmachen, um spröde zeitgenössische Kunst wie ein Heiligtum zu bestaunen, sind ein frappierendes Resultat von diesem Prozess.

Kritische Flyer und Inschriften in Athen.

Schon seit einer Weile zeichnet sich allerdings ein Gegentrend ab. Dem Rausch folgt der Kater. Es gibt ein Bedürfnis nach einer neuen Askese, was dem hageren Polen Szymczyk nun zugutekommt. Den Zuschlag für die Documenta bekam er aufgrund seines Konzepts, wie er in seinem Katalogbeitrag erwähnt. Es war also nicht so, dass Szymczyk Kassel Athen untergejubelt hat, sondern er wurde gerade aufgrund der Idee gewählt, sich in Athen mit dem globalen Süden zu verbrüdern.

Verherrlichung und Veräppelung: Tshibumba Khanda Matulus Lumumba-Porträt, Roee Rosens Fantasiegeschichte über Eva Braun und Hitler.

Es müsse eine Form der Zwischenmenschlichkeit geben, lautete die politische These hinter dem geografischen Konzept, die sich irgendwo in der Mitte zwischen der rasenden Vereinzelung der Ich-AG und dem formbaren Menschenbrei des Totalitarismus situiert.

Und weil das Hirn als das bis zur Charakterlosigkeit flexible Organ gilt, verfiel man auf den Körper als die Trägerstruktur der neuen Demokratie. Der Körper, der treue Esel, die ehrliche Haut, immun gegen Fake-News und strukturierte Produkte, sollte Garant einer neuen gesellschaftlichen Redlichkeit werden, in der das Leiden des Einzelnen nicht mit einer grosszügigen Geste vom Verhandlungstisch gewischt werden kann.

Die Leiden des Einzelnen und die Verachtung der Masse: Performance von Kettly Noël.

Der Tätschmeister des Parlaments der (geschundenen) Körper wurde Paul B. Preciado, ein spanischer Kurator und Denker. Das B. in seinem Namen steht für Beatriz, als welche Paul geboren wurde. Als eine Transgender-Person verkörpert der Radikaldenker einerseits das Bedürfnis des modernen Menschen, den Körper ebenso flexibel formen zu dürfen wie den Geist.

Als solche bringt er aber auch eine erhöhte Sensibilität den soziopolitischen Zwängen gegenüber, welche ein Körper bei der Vergesellschaftung erfährt. Preciado soll im Vorfeld der Eröffnung in Athen sehr präsent gewesen sein. Sein Aktivismus kommt aus einer Ecke, die nicht künstlerisch, sondern rein gesellschaftlich motiviert ist. Sein Emanzipationskampf ist wütend und schert sich am allerwenigsten um seine eigenen Widersprüche.

Pressekonferenz mit den Betroffenen eines Neonazi-Verbrechens in Kassel.

Und da fing die Sache mit dem Körper endgültig an, aus dem Ruder zu laufen. Denn, und da liegt vielleicht die ganze Krux des «Parlaments der Körper»: Das Hirn mag das Leiden des Einzelnen wohl allzu leicht ausblenden, der Körper kann es dafür gar nicht. Der Körper ist seiner Emotionalität gnadenlos unterworfen, und es gibt keinen Ausweg daraus. Da steckte also das täglich wachsende Documenta-Team in dieser Queer-Transgender-Minderheiten-Antikapitalismus-Occupy-Betroffenheitssauce und konnte nicht mehr raus.

 

Beatriz Gonzalez, «Decoración de Interiores», ein politisches Werk über Kolumbiens politische Klasse.

Man sah das schon an der Pressekonferenz, wie sie da alle auf der Bühne sassen und jeder schaute, dass er dem anderen nicht vor dem Licht sass, und jeder gab das Mikrofon weiter mit der Bemerkung, dass er nun «my dear colleague» ankündet, und man grüsste nicht «Ladies and gentlemen», sondern «all the others» immer auch dazu. Es mag sein, dass der Journalist, der fragte: «Ist Adam Szymczyk die neue Mutter Theresa?», ein notorischer Störenfried war. Aber irgendwie war die Frage nicht ganz ohne.

Bilder aus Alexandra Bachzetsis Performance «Private Song» im schönen Stadttheater von Piräus.

Darum vielleicht strahlte diese in vielen Ecken doch starke Schau als Ganzes dieses lauwarme Gefühl von «gut gemeint» aus, das im krassen Gegensatz zu Relevanz steht. 

Dabei, es gab Ansätze. Ausgerechnet in der Performance der griechisch-schweizerischen Tänzerin Alexandra Bachzetsis, mit der Szymczyk romantisch liiert ist, sah man tief in den Abgrund der modernen conditio humana. Ihr «pas des trois» zeigte eben kein geschwätziges «Parlament der Körper». Dafür menschliche Leiber, zueinander hingezogen und doch unfähig, eine Umarmung auszuhalten.

Wo ist vorne, wo hinten? Alexandra Bachzetsis auf der Bühne.

Bachzetsis führt gnadenlos und ironisch vor, wie sich diese unseren durchtrainierten, Crunches und Liegestützen gewohnten Körper, dennoch in der Unmöglichkeit der Leidenschaft winden. Das ist Kunst, und sie erscheint dort am besten zu sein, wo sie am meisten Widerspruch aushält.

Von der asketischen Kunst ohne Dope – ja, es braucht ihrer mehr denn je – muss diese geistige Fitness erwartet werden.

Graffiti an der Wand der Kunstakademie. Bilder: Ewa Hess

Stolpernd und irrend

Ewa Hess am Dienstag den 1. November 2016

Der Ruf aus Genf klang geheimnisvoll – man solle sich doch zu einem «Library Talk» im Palais des Nations einfinden. Bibliotheksgeflüster? Am Genfer Sitz der UNO? Was konnte das sein? Die Neugierde allein befahl schon hinzugehen.

Was: UN Library Talk in Geneva
Wann: Freitag, 21.10., abends
Wo: Room XII, Building A, 3rd Floor, Palais des Nations

Links: Palais des Nations, erbaut als Sitz des Völkerbundes, heute das Zuhause der UNO in Genf (Bild: Hess), Rechts: Das «Pantheon der Bücher», ein riesiges Gebäude aus verbotetenen Büchern, von der argentinischen Künstlerin Marta Minujin schon 1973 in Argentinien errichtet, jetzt noch grösser für die documenta 14 in Kassel geplant

Links: Palais des Nations, das Zuhause der UNO in Genf (dieses und weitere Bilder, falls nicht anders erwähnt: ewh). Rechts: Der «Parthenon der Bücher», ein riesiges Gebäude aus verbotenen Büchern, von der Künstlerin Marta Minujin schon einmal 1973 in Argentinien errichtet (Bild: Documenta 14), jetzt noch grösser für Kassel geplant.

Aber auch die Namen der Beteiligten lockten. Adelina von Fürstenberg hat eingeladen. Die Genf-Armenierin und Gründerin der Organisation Art for the World steht bekanntlich für die allermenschlichste Kunstauffassung. Sie hat den Künstler Barthélémy Toguo eingeladen – er gibt alles, was er mit seiner Kunst verdient, an den Bau eines Kulturzentrums in seiner Heimat Kamerun. Sie hat den Leiter der brasilianischen Kunstbehörde Sesc eingeladen, Professor Danilo Santos de Miranda. Und den geheimnisumwitterten Polen Adam Szymczyk, dessen zweigeteilte Documenta 14 bald in Athen (April 17) und dann auch in Kassel (Juni 17) aufmacht. Auch Pro-Helvetia-Präsident Charles Beer hat das Wort ergriffen. Kurz und gut, es war hochkarätig, im allerbesten Sinn.

Bibliotheks-Geflüster: der kamerunische Künstler Barthélémy Toguo, die Talk-Organisatorin Adelina von Fürstenberg, Sesc-Chef Professor Danilo Santos de Miranda (v. l.).

Zuerst ein Geständnis: So ein Gang durch die marmorgesäumten Korridore der UNO wirkt – ob man es wahrhaben will oder nicht – erhebend. Sogar der Kulturbeauftragte der Stadt Basel, Philippe Bischof, einer der freundlichsten Kulturbeamten des Landes, sah auf einmal ehrfürchtig feierlich aus. Schliesslich standen wir da an jenem Ort, wo einst die Völker beschlossen haben, zum Wohle des Planeten Friedenspläne zu schmieden. Es klappte nicht, der Zweite Weltkrieg ist trotzdem ausgebrochen. Die Nachfolgerin des damaligen Völkerbundes, die heutige UNO, schafft es ebenfalls nicht immer, alle Krisen zu verhindern.

Wie im Film (könnte auch ein Kubrick-Schocker sein): die Korridore des Palais des Nations beim Einnachten

Wie im Film: die Korridore des Palais des Nations beim Einnachten. Links Michela Negrini (dipcontemporaryart Lugano), rechts Philippe Bischof, Kulturchef der Stadt Basel.

Charles Beer, der Chef der Pro Helvetia, definierte die Intoleranz als eine Art Identitäts-Krampf. Weil wir nicht mehr wissen, wer wir sind, verkrampft sich etwas in uns, was sich dann als Fremdenhass äussert. Das Rezept der Pro Helvetia: kulturelle Massage, also Transfer unserer Kultur zu den Fremden und der fremden Kultur zu uns. Stetig und sanft angewendet, verhindert es die gefährlichsten Krampfattacken, glaubt Beer.

Das Gemälde im Saal 12 der UNO, wo das Library-Talk stattfand, stammt noch vom alten Völkerbundpalast her, gemalt hat es der italienische Maler und Journalist

Der Bau eines Gebäudes zum Wohle des Planeten (links): Das Gemälde im Saal 12 der UNO, wo der «Library Talk» stattfand, stammt noch vom alten Völkerbundpalast her, gemalt hat es der italienische Maler und Journalist Massimo Campigli (1895–1971). Rechts: Pro-Helvetia-Präsident Charles Beer.

Barthélémy Toguo zeigte sich als ein äusserst sympathischer Kerl, doch so richtig erstaunt hat uns erst der brasilianische Professor Danilo Santos de Miranda. Der Mann ist Anthropologe und verteilt seit bald zwanzig Jahren die immensen Kulturgelder der Sesc. Es handelt sich dabei um eine vor 48 Jahren eingeführte Lohnsteuer, die von den Firmen Brasiliens erhoben wird und der Kultur zufliesst, 1,5 Prozent von der Lohnsumme. So etwas wie Migros Kulturprozent, nur dass es jede Firma entrichten muss. Da es der brasilianischen Wirtschaft gut geht, hat die Sesc immer mehr Geld. Eigentlich schwimmt sie im Geld: 600 Millionen Dollar im Jahr. Die Organisation leistet aber auch Erstaunliches, und zur Kultur gehören auch Schwimmbäder, Medizin, Kreativkurse – ein sehr inklusives Konzept.

Documenta-Chef Adam Szymczyk verrät uns seine Pläne für die kommende Documenta (links, Photo Bischof), auch Fluchtweg-signalisation entbehrt im UNO-Gebäude nicht einer gewissen Dramatik.

Documenta-Chef Adam Szymczyk verrät uns seine Pläne für die kommende Documenta (links, Photo Bischof); auch Fluchtweg-Signalisation entbehrt im UNO-Gebäude nicht einer gewissen Dramatik.

Inklusivität fordert auch die Documenta 14. Die Einbeziehung des Publikums ist die lauteste Parole des kuratorialen Teams um den Ex-Kunsthalle-Basel-Chef Adam Szymczyk. Der schweigsame Pole ist ein Superstar unter den Kuratoren (gerade Nr. 2 der ArtReview Power List geworden). Die «New York Times» hat einst behauptet, es liege bestimmt auch an seinem coolen Popstar-Aussehen. Hat etwas! Gross, hager, das dreieckige Katzengesicht immer hinter dem Stirnfransen-Vorhang versteckt – Adam Szymczyk ist schon eine Erscheinung wie nicht aus dieser Welt. Er spricht gerne in gelehrten Rätseln, und das tat er auch in Genf; doch ich werde übersetzen.

Enigmatische Blicke, komplexe Konzepte: Adam Szymczyk (hier nach dem Talk mit Assistent Krzysztof Kosciuczuk) lässt sich nicht trivialisieren. Rechts immer noch die monumentale signaletik der UNO.

Enigmatische Blicke, komplexe Konzepte: Adam Szymczyk (hier nach dem Talk mit dem Assistenten Krzysztof Kosciuczuk) lässt sich nicht trivialisieren. Rechts wieder die monumentale Signaletik der UNO.

Also, liebe Leserinnen und Leser der Private View: Hier kommt eine Vorschau auf die Documenta 14 – ein kleines Glossar – für die neugierigen Early Adopters.

  1. Wir werden rückwärtsschauen. Szymczyks Theorie geht so: Die Geschichte Europas ist nach dem Zweiten Weltkrieg falsch gelaufen (Stichwort: Marshallplan). Darum sind wir an dem seelenlosen, profitorientierten und unempathischen Ort gelandet, wo wir jetzt leben. Es gab aber Ansätze einer besseren Entwicklung, man hat sie nur damals übersehen. Es ist aber noch nicht zu spät!
  2. Wir werden in die Pflicht genommen. Passive Kunstbeschauer will Szymczyk weder in Kassel noch in Athen dulden. Man muss sich mit den Kunstwerken und den Prozessen, die zu ihrer Entstehung geführt haben (sie sind bereits im Gange), intensiv auseinandersetzen. An die Arbeit, meine Damen und Herren!
  3. Die Sprache wird im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Einerseits in Form von diversen Urkunden (schliesslich heisst es ja Documenta), etwa Rerum Novarum, die päpstliche Enzyklika von 1891, welche die Paramater der katholischen Soziallehre definierte, oder die Menschenrechtserklärung von 1948 oder der Code noir des französischen Königs Louis XIV von 1658, der die Bedingungen der Sklaverei festlegte. Aber auch als «Sprache der Unmenschlichkeit», so wie sie der deutsche Schriftsteller Viktor Klemperer in seinem Werk «Lingua Tertii Imperii (1947)» am Beispiel der Sprache der Nationalsozialisten analysierte. 
  4. Einiges wird sich um die «griechischen Probleme» drehen, Stichwort monetäre Systeme. Es wird der Vergangenheit des Euro nachrecherchiert, bis zur «Konklave von Rothwesten», an der ein Ami namens Edward A. Tenenbaum den Deutschen die Währungsreform diktiert hat und den harten Schnitt von der Reichsmark zur Bundesmark befahl. 
  5. Alles in allem eine sehr politische Documenta. Das Werk «Parthenon der Bücher» der argentinischen Künstlerin Marta Minujin, schon jetzt im Entstehen begriffen, wird bestimmt spektakulär! Sie baut den Parthenon in Kassel nach, im Originalformat und aus Büchern, die irgendwo auf der Welt verboten sind. Sie hat es schon einmal gemacht in ihrer Heimat Argentinien, als die Militärjunta-Herrschaft fertig war.
  6. Und hier noch eine kleine Liste mit Namen der Cicerones, also der Figuren, die uns durch diese Documenta führen werden. Wie sagte es Szymczyk so schön? «These and other figures help us to navigate the darkness and complexity of experience we are immersed in as we move on, stumbling and erring.» (Diese Figuren helfen uns, die komplexe Dunkelheit unserer Erfahrung zu durchqueren, wenn wir uns, stolpernd und irrend, vorwärtsbewegen …)
Szymczyks Visionäre: (Obere Reihe von links) Schweizer Architekt Lucius Burckhardt, griechischer Komponist Janni Christou , deutscher Schriftsteller Viktor Klemperer, (untere Reihe von links) Brasilianischer Theatermacher Augusto Boal, Mexikanischer Dichter Ulises Carrion, polnischer Architekt Oskar Hansen

Szymczyks Visionäre: (obere Reihe von l.) Schweizer Architekt Lucius Burckhardt, griechischer Komponist Jani Christou, deutscher Schriftsteller Viktor Klemperer, (untere Reihe von links) brasilianischer Theatermacher Augusto Boal, mexikanischer Dichter Ulises Carrion, polnischer Architekt Oskar Hansen (Bildernachweis: SRF, Pemptousia, «Tagesspiegel», Haikudeck, «Bombmagazine», Ciolek/Fotonowa)

Oskar Hansen (1922–2005), polnisch-norwegischer Architekt, mit einer Theorie der «offenen Form», welche die Subjektivität des Bauenden ausgleicht.

Augusto Boal (1931–2009, brasilianischer Theaterautor mit der Theorie des «Theaters der Unterdrückten», einer Art theatralischer Aktivierungstherapie für Bürger.

Ulises Carrion (1941–1989), mexikanischer Dichter, der die Zeile gedichtet hat über «das Blut, welches aus der Wunde fliesst, welche die Sprache dem Mann zugefügt hat» (und der Frau auch, fügt Szymczyk, immer politisch korrekt, dazu).

Viktor Klemperer, der kluge Holocaust-Überlebende mit seiner Detektivarbeit über die Sprache der Unmenschen.

Lucius Burckhardt, der Basler Architekt, den bereits Hans Ulrich Obrist als den Patron der letzten Architekturbiennale sah – er lehrte an der Universität Kassel und erfand die Wissenschaft der Promenadologie, eines sehenden und erkennenden Spaziergangs.

Jani Christou, der griechische Komponist, Freund von Mikis Theodorakis, der jung starb (in einem Unfall) und das sogenannte Continuum erfand, einen Versuch der orchestralen Improvisation.