Sechs Stunden lang Reiskörnchen zählen? Das geht – vor allem unter der Anleitung der Mrs. Performancekunst Marina Abramovic herself. Aber Achtung – es bringt das Gehirn ganz schön ins Schleudern. Ein Bericht des modernen Aschenputtels aus Genf.
Marina Abramovic wurde gerade vom Magazin «Time» als eine der hundert einflussreichsten Menschen der Welt gekürt – ja, der Welt, nicht nur der Kunstwelt. Am 1. Mai steht sie als strenge Lehrerin vor ihrer Klasse, also vor uns, im Centre d’Art Contemporain in Genf. Ganz in schwarz, begleitet vom Direktor Andrea Bellini, sagt sie uns, warum wir Reis zählen sollen: Weil es ein wichtiges Beispiel dessen ist, was sie «immaterial and long durational work» nennt. Ein langes Ritual, welches unser Hirn aus der zerstückelten Hektik des modernen Alltags befreien wird.
Nach der Ansage entschwindet die Leitung. Fortan werden wir von jungen Damen in weissen Kitteln überwacht – auf ihrer Brust prangt der Schriftzug MAI, Marina Abramovic Institute. Es ist das geplante Performance-Zentrum in der Ortschaft Hudson unweit New Yorks, wo Marina ihre Kunst an jüngere Generationen weitergeben will. 600’000 Dollar hat sie dafür schon per Kickstarter gesammelt. Rem Koolhaas baut es. Man muss sich das MAI als ein Zauberberg-Sanatorium vorstellen, in dem Menschen in bequemen Rollstühlen und mit Klangschutz auf den Ohren Performances anschauen, Reis zählen, Wasser trinken oder andere Rituale effektuieren und am Ende in eine Trance verfallen, einen reinigenden Schlaf. In diesem Zustand werden sie in einen Aufwachraum gekarrt, wo sie in ihren druckfreien Sesseln in den Armen des Schalfgottes Morpheus schwelgen und sich erneuern werden.
Uns aber hier in Genf soll kein Schlaf vergönnt werden, und von druckfrei kann bei der Sitzstruktur auch keine Rede sein. Die vom Stararchitekt Daniel Libeskind entworfene, labyrinthisch verwinkelte lange Sitzbank gemahnt eher an mönchische Exerzitien. Was genau wir mit dem weiss-schwarzen Häufchen anstellen sollten, wird nicht verraten. Trennen? Verlesen? Gezähltes notieren? Man weiss es nicht, aber: Los gehts!
11.15 Uhr Beherzt treffe ich die ersten Entscheidungen. Ich werde nur weisse Körnchen zählen. Ein Strich gleich 10 Körnchen. Mein Finger kommt mir dick wie eine Wurst vor.
11.20 Uhr Oh mein Gott, geht das langsam. Soll ich die zerbrochenen Körnchen auch zählen? Ich schaue verstohlen links und rechts – alle trennen weiss von schwarz. Also gut. Apartheid.
11.36 Uhr Ich habe schon genug. Die rechts hat schon zwei sauber getrennte Berge. Warum ist die so schnell? Der Tastsinn hat sich aufs Kornfassen eingestellt.
11.40 Uhr Ich entscheide mich nachträglich fürs Aussortieren der zerbrochenen Körner. Die Arbeit wirft mich um eine Viertelstunde zurück, aber das weisse Häufchen sieht jetzt richtig sauber aus.
11.45 Uhr Hallo, es ist kein Wettrennen! Mahnt Marina Abramovic in meinem Kopf. Die echte Marina wird unterdessen im Nebenraum für einen Fernsehauftritt geschminkt. Das flüstert ein Zuschauer meiner Sitznachbarin von links zu. Wie ich später erfahre, ist sie eine Journalistin der Tribune de Genève und der Zuschauer ist ihr Fotograf. Peinlich, wie mir die mondäne Unterbrechung willkommen erscheint.
12 Uhr Schicke heimlich eine Bildmessage mit dem Reis-Smiley an einen Freund. Die Aufseherin im weissen Kittel blickt streng – Gottseidank ist die Liebeskind-Bank blickdicht.
12.15 Uhr Schaue aus dem Fenster – keine Tauben in Sicht? Es ist erst eine Stunde vergangen und ich habe schon die Nase voll.
12.30 Uhr Die Dinger fallen ständig in eine Ritze zwischen zwei Spannplatten. Ich bastle mir aus Papier einen Ritzenfüller. Perfekt.
12.45 Uhr Ich ernte böse Blicke von links und rechts. Stimmt wohl schon, ich bin die schlimmste Zapplerin in der Reihe. Ich muss unauffälliger mit dem Notizblock hantieren.
13 Uhr Ich habe Hunger. Riecht es hier nach gekochtem Reis? Die immer neuen Zuschauer nerven. Sind wir etwa ein Zoo?
13.15 Uhr Die von links drosselt ihr Tempo. Ha, alter Fehler der Marathon-Neulinge, sofort Gas geben. Ich beruhige mich und hoffe auf bald einsetzende Reiszähltrance.
13.30 Uhr Der Hunger stört. Solle ich das Strichblatt auch schöner gestalten?
13.45 Uhr Die rechts hat schon 10 mal so grosses Häufchen. Aber ich notiere meine Gedanken. Bewusstsein, Bewusstsein! Kann übrigens exakt fünf Reiskörner mit einer Fingerbewegung vom Haufen abtrennen.
14 Uhr Die rechts von der rechts zählt mit den Daumen. Das muss die neue Generation sein, die schreiben auf ihren Handys mit den Daumen. Präzisionsdaumen – bestimmt ein evolutionärer Vorteil!
14.05 Uhr Zähle Menschen statt Reis. An die 30 sind es, ca 17 Frauen, 13 Männer. Die ersten zeigen Ermüdungserscheinungen.
14.15 Uhr Die rechts geht!!!! Eine zweite folgt.
14.30 Uhr Die rechts von rechts gähnt. Hm. Ich wusste es ja. Schöpfe einen zweiten Atem. Bin bald bei 1500 Körnchen.Vierte Person geht.
15 Uhr Oh, das war wohl eine Trance. Habe eine halbe Stunde nicht auf die Uhr geschaut. Der Saal hat sich ziemlich geleert!
15. 15 Uhr Was bedeutet ein Strich? Nicht philosophisch, sondern ganz konkret, 10 oder 100 Körner? Ich hätte es notieren sollen.
15.30 Uhr Seit die rechts weg ist, habe ich mehr Platz für meine Werkstatt. Beginne aufs Tageswerk stolz zu sein.
15.45 Uhr Ich denke, dass es der Aufsicht langweilig sein muss. Unbewusst muss ich meine Beschäftigung für Unterhaltung halten! Bin ich schon erneuert?
16 Uhr Ich entwickle eine sehr persönliche Beziehung zu den Reiskörnchen. Eigentlich eine Sauerei, dass ich die Krummen und die Unvollständigen aussortiert habe. Reintegrieren?
16.45 Uhr Huh, nochmals eine Trance! Sogar der Hunger ist vergessen.
17 Uhr Geschafft! Ich stehe auf und gehe im Saal herum. Was für Muster da sichtbar werden! Was in den Köpfen passiert ist, bleibt opak, schwarz wie die Beluga-Linsen.