Archiv für die Kategorie ‘Castell Zuoz’

Natur? Kultur!

Ewa Hess am Dienstag den 11. Oktober 2016

Das Zeitalter, in dem wir leben, liebe Leserinnen und Leser der Private View (die sich übrigens mit Verspätung, aber umso begeisterter aus der langen Sommerpause zurückmeldet) also das Zeitalter wird seit Neustem «Anthropozän» genannt. Wie etwa Holozän, nur dass der Mensch drin steckt (anthropos, altgriechich). Wir sind nämlich in eine Ära eingetreten, in der der Mensch die Beschaffenheit seiner Umwelt selber gestaltet hat. Plastik in den Ozeanen, schmelzende Gletscher, Skipisten in hohen Bergen und abgeholzter Regenwald – wir kennen eigentlich die Liste unserer fragwürdigen Errungenschaften, wenn es um die Umwelt geht.

Was: Art Weekend im Hotel Castell in Zuoz
Wann: Ende September, wie jedes Jahr

Der Künstler Georges Steinmann, die Kuratoren Alexandra Blättler und Ruedi Bechtler, Alexandra Blättler gibt Einblicke in die Klöntal Triennale 2017

Der Künstler George Steinmann, die Kuratoren Alexandra Blättler und Ruedi Bechtler (Mitte); Alexandra Blättler gibt Einblicke in die Klöntal Triennale 2017

Doch der Mensch, meine liebe Damen und Herren, ist eigentlich nicht so blöd wie ihm immer nachgesagt wird. Darum denkt er darüber nach, wie er das schlechte Anthropozän noch in ein gutes Anthropozän wandeln könnte, fünf vor zwölf sozusagen. Da passt es bestens, dass an einer Veranstaltung, die Jahr für Jahr in achtungsgebietender Umgebung und schönster Natur, nämlich im Engandin, stattfindet, die Natur und die Kultur das Thema waren.

Kultur und Natur: Die atemberaubende Sicht aus dem Castell (Mitte), Blick auf die Garteninstallation von Lenzlinger/Steiner im Speisezimmer des Castell, ein letzter Sommervogel, fotografiert von der Art Weekend Teilnehmerin Madeleine Panchaud de Bottens

Kultur und Natur: Blick auf die hängende Garteninstallation von Lenzlinger/Steiner im Speisezimmer des Castell, die atemberaubende Sicht aus dem Castell und ein letzter Sommervogel, fotografiert von der Art-Weekend-Teilnehmerin Madeleine Panchaud de Bottens

Ich spreche natürlich vom Art Weekend des Hotels Castell. Von Castell haben wir hier schon erzählt und darum wissen die meisten Leserinnen und Leser der Private View, dass in den Räumen, in den Gängen und in der Umgebung des Castell die beste Avantgarde-Kunst unserer Zeit zu finden ist. Die Besitzer des Hotels sind eben der Kunst tief zugetan – es sind Regula und Ruedi Bechtler. Ruedi Bechtler ist zudem selber ein toller Künstler, auch in dieser Eigenschaft war er hier schon Thema.

Hausherr Ruedi Bechtler und Galeristin Monica de Cardenas am Tisch, eine Installation des Schweizer Künstlers Nicolas Party im Speisesaal, die Gaben des Waldes auf dem Teller

Hausherr Ruedi Bechtler und Galeristin Monica de Cardenas zu Tisch (links), eine Installation des Schweizer Künstlers Nicolas Party im Speisesaal, die Gaben des Waldes auf dem Teller

Für die Naturbetrachtung künstlerischer Art gesellte sich zu den Bechtlers eine junge Kuratorin, die in der letzten Zeit viel von sich sprechen macht, nicht zuletzt mit der kultigen Klöntal-Triennale, die im Sommer vor zwei Jahren oberhalb Glarus in unberührter mythischer Natur stattfand: Alexandra Blättler. Achtung übrigens: 2017 findet die nächste Klöntal-Triennale statt, nicht verpassen!

Das so verstärkte Power-Trio konnte drei ausserordentliche Künstler nach Zuoz locken, so dass die Teilnehmer des kleinen Seminars modernstes Denken kennen lernen konnten. (Ich nenne das mal «Seminar», aber ich will hier nicht verschleiern, dass diese Artweekends sehr viele angenehme Seiten haben, von Hamam bis Buffet, und dass also die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Kunst alles andere als ein Darben darstellt).

Die «kontaminierte» und die unberührte Landschaft: links das Tienschan-Gebirge, in dem die Cyanid-Lauge alles verseucht und die Engadiner Alpen

Die «kontaminierte» und die unberührte Landschaft: links das Tienschan-Gebirge, in dem die Cyanid-Lauge alles verseucht und rechts eine wunderbare Engadiner Matte

Was sich da aber in Zuoz auch gezeigt hat, meine Damen und Herren, ist, dass das moderne Denken nicht über Nacht entsteht. Denn alle unsere Mentoren an diesem Weekend sind schon seit Jahrzehnten daran, Natur, Kunst, Intelligenz und Menschlichkeit zu vernetzen. Nehmen wir mal den Berner George Steinmann. Er ist DER Pionier der künstlerischen Forschung über die Natur, das Wasser, die Umweltverschmutzung, den Klimawandel etc. 2011 zeichnete ihn die Universität Bern sogar mit dem Ehrendoktortitel aus! Diese Ehre wurde vor ihm nur drei anderen Künstlern zuteil, nämlich Hermann Hesse, Alberto Giacometti und Ilja Kabakov!

Steinmann, 66, eine durchaus energetische und humorvolle Figur, meint es mit seinem Engagement bitter ernst. Er reist seit Jahren furchtlos an Orte, die auf die schlimmste Art von den zivilisatorischen Übeln befallen wurden. Er nennt sie  «kontaminiert». Dort realisiert er Kunstwerke, welche die Kontaminierung erstens sichtbar machen, und zweitens ihr andere Kräfte entgegensetzen, doch davon später. Steinmann war also schon in Monchegorsk auf der Halbinsel Kola in Russland, wo in einem unglaublich schädlichen Prozess Nickel abgebaut wird oder in Tunduk in Kirgistan, wo in einer Goldmine Tagbau mit Cyanidlauge betrieben wird. Die giftigen Abfälle werden dann im Permafrost eingefroren (dass dieser bald schmelzen könnte, interessiert niemanden).

Die Heidelbeer-Kur: Georges Steinmanns Fotografien vom Schweizer Wald und russischer Pipeline, fixiert mit natürlichem Myrtillin, dazwischen das, was Steinmann «hard core beauty» nennt: in Hochtemperatur geschmolzener Sondermüll

Die Heidelbeer-Kur: George Steinmanns Fotografien vom Schweizer Wald und einer russischer Pipeline, fixiert mit natürlichem Myrtillin, dazwischen das, was Steinmann «hard core beauty» nennt: in Hochtemperatur geschmolzener Sondermüll

Dort, an diesen schrecklichen Orten, nimmt Steinmann Proben, macht Fotos, richtet Installationen ein. Um selber zu gesunden, sucht er danach Wälder auf. Es gebe nicht mehr viele echte Wälder, sagt er, einige kennt er aber gut: in Polen, Finnland, Wallis oder bei Bern auf der Hohgant. Da war er soeben, um Heidelbeeren zu sammeln: Acht Liter als Farbsubstanz für die Wintersaison. Steinmann hat es nämlich mit der Heidelbeere, die in ihr enthaltene Substanz Myrtillin habe heilende Wirkung auf die Augen. Darum fixiert der Künstler seine Bilder mit Heidelbeersaft. Das gibt ihnen einen schönen blauen Farbstich, und auf den Betrachter wirkt es dahingehend, dass er die wahre Schönheit besser sieht (so hofft man).

Kommunikation mit der Natur: Die Quallen und ihr Versteher, Künstler Mark Dion. Rechts: Georges Steinmann performt den Gletscher-Blues auf einem schmelzenden Gletscher

Kommunikation mit der Natur: Die Quallen und ihr Versteher, Künstler Mark Dion. Rechts: Georges Steinmann performt den Gletscher-Blues auf einem schmelzenden Gletscher.

Es ist zu spät für Pessimismus, sagt Steinmann. Jeder von uns müsse sich aktiv einmischen. «Ohne Teilhabe, ohne allgemeines Mitgefühl kommen wir aus dem Schlamassel nicht heraus!» Die Natur sei erschöpft, sie löse sich auf. Kürzlich reiste Steinmann zu den schmelzenden Gletschern und spielte ihnen den Blues auf seiner Gitarre – er ist nämlich auch ein toller Musiker. Die Tücher, mit welchen «die verzweifelte Tourismusindustrie» die eisigen Riesen bedecke, seien ihm wie Leichentücher vorgekommen.

Auch Mark Dion, der andere Künstler-Wissenschafter, der in Zuoz war, glaubt ans Einmischen. Seine Methode erinnert an gute Pädagogik. Er stellt Missstände fest und umgibt sie als Künstler mit liebevoller Anteilnahme. Seine Arbeit «The trouble with jellyfish» ist ein schönes Beispiel davon.

Dion, 55, geboren in Massachussets, macht sich nämlich Sorgen um die Ozeane. Es ist bekannt, dass der Mensch ihnen Übles antut. Statt aber sich in der Negativität zu ereifern, stellt Dion einen überraschenden Zusammenhang fest: Alles Böse, was wir den Ozeanen antun, ist gut für die Quallen. «Wir kreieren einen perfekten Lebensraum für Quallen», sagt Dion. Denn ja, Quallen haben es gerne warm (globale Erwärmung), sie können nicht weit schwimmen, lieben darum Schiffe, an denen sie sich festhalten können, aus dem gleichen Grund mögen sie die Kehrichtansammlungen in der Tiefe und sie sind froh, dass wir den Fischen den Garaus gemacht haben, denn diese sind ihre natürlichen Feinde.  Und vor allem: Quallen pfeifen auf Sauerstoff. Für sie ist es ganz okay, wenn die Ozeane ersticken.

Das Wilde und wir: Künstlerin Dana Sherwood macht essbare Skulpturen für Waschbären und filmt sie beim Verzehr, Mark Dion hat in einem unterirdischen Verlies in Norwegen eine schlafende Bärin auf einem menschengemachten Abfallberg installiert

Das Wilde und wir: Künstlerin Dana Sherwood macht essbare Skulpturen für Waschbären und filmt sie beim Verzehr, Mark Dion hat in einem unterirdischen Verlies in Norwegen eine schlafende Bärin auf einem menschengemachten Abfallberg inszeniert.

«Der Ozean spricht zu uns», sagt Dion, «und seine Sprache sind die Quallen». Dion machte ein Workshop, in dem die Menschen versucht haben, mit den Quallen den Frieden zu schliessen. Warum auch nicht? Sie bestehen schliesslich aus Wasser und Collagen, bestimmt können wir auch das irgendwie nutzen.

Während also Dion über Quallen nachdenkt (und in einer anderen Arbeit auch PR für verhasste Möwen macht) und somit das angespannte Verhältnis zwischen Mensch und Natur therapeutisch beeinflusst, ist seine Frau Dana Sherwood, auch Künstlerin, obsessiv mit den Wildtieren beschäftigt, die sich nahe an uns heranschleichen. Die 39-jährige Künstlerin (sie war in Zuoz mit ihrem 8 Wochen alten Baby) stellt aus Lebensmitteln (aus solchen, die für Tiere gut sind) skulpturale Objekte her, die sie in der Nacht vor die Tür ihres Hauses in Long Island stellt. Dann filmt sie im Dunkeln die Waschbären, die ihre Kunst schmausen kommen. Am Tag aquarelliert sie possierliche Szenen, die sich im Bereich zwischen dem Wilden und dem Domestizierten abspielen.

Inspiration Kunst: Art-Weekend-Teilnehmerin und Direktorin der Economie Suisse Monika Rühl (Bild links, rechts im Bild), Mark Dion und Dana Sherwood mit ihrem Baby, Elisabeth Garzoli und im Gespräch mit der Künstlerin Maria Loboda und dem Direktor der Bundeshalle Bonn Rein Wolfs, Gianni Garzoli

Inspiration Kunst: Art-Weekend-Teilnehmerin und Direktorin der Economie Suisse Monika Rühl (Bild links, rechts im Bild), Mark Dion und Dana Sherwood mit ihrem Baby, Elisabeth und Gianni Garzoli im Gespräch mit der Künstlerin Maria Loboda und dem Direktor der Bundeskunsthalle Bonn, Rein Wolfs.

Fazit, liebe Leute: Es ist zu spät für den Pessimismus und auch zu spät fürs Hadern. Wir müssen Koexistieren! Wie die Flechten werden, sagt Georges Steinmann. In diesen koexisistieren eigentlich zwei Spezies: Moos und Alge. So müssen wir das auf der Erde machen, das Wilde, das Kontaminierte, das Reine und das Verdorbene in uns aufnehmen, die Schöhnheit in den Gegensätzen sehen und die Widersprüche auf diese Weise versöhnen. Und dazu brauchen wir Kunst. Amen.

Das Art-Weekend-Ritual: Beim Einnachten besucht man den Sky Space von James Turrell

Das magische Art-Weekend-Ritual: Beim Einnachten besucht man den Sky Space von James Turrell neben dem Castell

 

 

 

Dämmerung im Engadin

Blog-Redaktion am Dienstag den 30. Juni 2015

Ein Gastbeitrag von Nicole Büsing und Heiko Klaas*

Marilyn Monroe trifft auf Karl Marx, frei laufende Hühner in bunten Blumenwiesen auf All-over-Installationen. «Liquid Stories» nennt der Zürcher Sammler, Künstler und Hotelier Ruedi Bechtler ein von ihm kuratiertes Programm in seinem für Kunsthöhenflüge bekannten Hotel Castell in Zuoz. Als Gastkünstler sind diesmal die in Zürich lebende Schweizer Videokünstlerin Elodie Pong und das Basler Künstlerduo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger angereist. Kuratorin Filipa Ramos und Stephan Kunz, der Direktor des Bündner Kunstmuseums Chur, setzten Akzente. Sechzig Kunstbegeisterte aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich haben geschaut, gestaunt und mitdiskutiert.

Was: «Art Weekend», jährlich stattfindendes dreitägiges Kunstfreunde-Treffen
Wo: Hotel Castell Zuoz, Engadin
Wann: 26.–28. Juni 2015, (nächstes «Art Weekend» Sommer 2016)

«Art Weekend»-Ritual im Sky xx von James Turrell (rechts Aussenansicht)

«Art Weekend»-Ritual im Skyspace Piz Uter von James Turrell (rechts Aussenansicht).                         Bilder: Heiko Klaas

Wir erinnern uns: Seit 1996 veranstalten Ruedi Bechtler und seine Frau Regula Kunz im familieneigenen Castell die «Art Weekends». Die ersten Veranstaltungen sind inzwischen als Künstler-Happenings legendär. Roman Signer liess hier einen mit Feuerwerkskörpern präparierten Tisch durch die verschneite Winterlandschaft fliegen. Erwin Wurm animierte die Teilnehmer zu absurden One-Minute-Sculptures. Und Pipilotti Rist veranstaltete nach dem Motto «Was will der Mensch an der Bar?» eine Art Workshop, aus dem die Konstruktion der legendären «Bar Rouge» hervorging – immer noch einer der beliebtesten Treffpunkte im Hotel Castell.

Heute läuft das so: Man trifft sich einmal im Jahr auf 1800 Meter Höhe, um mehr über Kunst zu erfahren, Insidertipps auszutauschen, Künstler hautnah zu erleben und ins Gespräch zu kommen. Bei gemeinsamen Wanderungen, von Künstlern angeregten Spielen, Kunstführungen durchs Hotel oder bei den Gesprächen während der gemeinsamen Essen auf der Sonnenterrasse von Tadashi Kawamata herrscht lockere Atmosphäre. Spröder Seminarcharakter jedenfalls kommt hier nicht auf.

Filipa Ramos, die in London lebende portugiesische Co-Kuratorin der Videoplattform Vdrome und Chefredaktorin des Onlinemagazins art-agenda, vermittelte ihre Begeisterung für das Werk der in Boston geborenen Schweizer Videokünstlerin Elodie Pong. Es gehe bei Pong ums Zeigen und Verbergen, eine Dialektik, die Ramos mit Querverweisen zu Sigmund Freuds Maskentheorie versah. Sie wies auch auf die Arbeit des US-Konzeptkünstlers Douglas Huebler hin sowie den Fischli/Weiss-Film «Der geringste Widerstand» (1980), in welchem die beiden als Ratte und Bär verkleidet staunend durch die Welt wandern.

Stills aus Elodie Pongs Arbeiten «xy» (links), «Secrets for Sale» (Mitte) und «Empire xy» (rechts)

Stills aus Pongs Arbeiten «Ersatz», «Secrets for Sale» und «After the Empire» (v. l.).

Pongs Video «After the Empire» (2008) erweist sich als die wunderbare Praxis, zu der die Theorie passt. In diesem Werk arbeitet sie mit Tänzern und Performern, die in die Rollen von Ikonen wie Marilyn Monroe, Elvis, Batman, Mickey Mouse oder Karl Marx schlüpfen. In einem humorvollen Mix aus anspielungsreichen Zitaten, Dialogen, kleinen Szenen, Posen und Songs entfaltet Elodie Pong ein Panorama der westlichen Kultur, ihrer Klischees und Stereotype: Es ist ein visueller Trip, in dem melancholische Momente sich immer wieder mit humorvollen Wendungen abwechseln.

Etwas nachdenklicher wurde es dann, als nach dem gemeinsamen Nachtessen Elodie Pong ihren einstündigen Videofilm «Secrets for Sale» (2003) vorstellte. In einem Bunker hatte die Künstlerin ein Setting aus mehreren Räumen mit Überwachungskameras aufgebaut. Freiwillige wurden dabei gefilmt, wie sie einer nach dem anderen von einer Stimme aus dem Off angeleitet wurden, vor der Kamera ihr persönliches Geheimnis zu erzählen. Dabei konnten sie sich wahlweise hinter einer Maske verbergen, die Stimme verzerren lassen oder auch ganz ohne Anonymisierung auftreten. Nach der häufig intimen, manchmal peinlichen und oft emotional vorgetragenen Offenlegung ihres Geheimnisses betraten die Protagonisten den letzten Raum der Installation. Dort trafen sie die Künstlerin, die über das Honorar verhandelte. Zehn Schweizer Franken empfanden viele als angemessen. Andere versuchten, einen höheren Preis für ihr Geheimnis herauszuschlagen. Erstaunlich: Ob sexueller Missbrauch, die Angst vor dem Tod oder das schlechte Gewissen einer Hobbygärtnerin, die Maulwürfe tödlichen Gefahren aussetzt – Geheimnisse vor der Kamera preiszugeben und als Teil einer Kunstaktion zu verkaufen, war für die rund 700 Personen, die Elodie Pong ursprünglich für ihr Video gecastet hatte, offenbar kein Problem. Der Zuschauer jedoch wird in ein Wechselbad der Gefühle zwischen Anziehung und Abstossung, Mitleid und Schadenfreude, Voyeurismus und Fremdschämen versetzt. Am Ende räumte auch Pong ein, dass sie die Arbeit an diesem Film als emotional belastend empfunden habe.

Gerda lenzlinger & Jörg Steiners Arbeiten «Seelenwärmer», «Lift Up» und «Jardin de Lune»

Steiners und Lenzlingers Arbeiten «Seelenwärmer», «Lift Up» und «Jardin de Lune».

Der Samstagvormittag gehörte dann ganz dem Basler Künstlerduo Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger, das auch für das Hotel Castell vor einigen Jahren eine Installation im Jägerstübli realisiert hatte. Die beiden Schweizer sangen zur Einstimmung ein mundartliches A-cappella-Lied, bevor sie ihre Präsentation mit frühen Arbeiten starteten. Schon in ihren ersten Kooperationen zeigt sich ihr ausgeprägter Humor und ihr Sinn für Details und ortsspezifische Situationen: Man erinnerte an die «Lift Ups», die während einer Reise um die Welt entstanden. Gerda Steiner hob dabei Personen, die sie während ihrer Reise traf, in die Höhe, während Jörg Lenzlinger auf den Auslöser drückte. Einen korpulenten Schiffskapitän schulterte die Künstlerin ebenso wie einen schmalen Inder.

Traumwandlerische Kombinatorik könnte man das Arbeitsprinzip der beiden nennen, die den Betrachter in eine fantastische Gegenwelt entführen – nicht selten indem sie ganze Räume mit gartenähnlichen Installationen verwandeln. Im Bündner Kunstmuseum Chur arbeiteten Steiner und Lenzlinger im Jahr 2013 eng mit dessen Direktor Stephan Kunz zusammen. Er lud das Künstlerpaar ein, in den Räumen des ehemaligen Naturhistorischen und Nationalparkmuseums die letzte Ausstellung vor dem Abriss des Gebäudes zu realisieren. Die beiden verwandelten das alte Gebäude in eine Wunderkammer aus Sammelsurien und Fundstücken, die langsam dem Verfall ausgeliefert war. Programmatisch war auch die Ausstellungsdauer: vom längsten bis zum kürzesten Tag des Jahres.

Eine Vorschau auf das neue Bündner Kunstmuseum Chur

Eine Vorschau auf das neue Bündner Kunstmuseum Chur: Der grösste Teil der Erweiterung ist unterirdisch.

Dann stellte Stephan Kunz vor, was nach dem Abriss des alten Gebäudes kommt: Den Erweiterungsbau für das Bündner Kunstmuseum Chur. Die Überraschung dabei: Der grösste Teil der neu hinzugewonnenen Ausstellungsfläche wird unterirdisch errichtet. Möglich wurde dieser Bau durch eine private Spende von 20 Millionen  Franken. Aus einem Wettbewerb gingen die spanischen Architekten Barozzi Veiga aus Barcelona als Sieger hervor. Die Eröffnung des Erweiterungsbaus, der das Museum, so hofft Stephan Kunz, in eine andere Liga katapultieren wird, ist für Juni 2016 geplant.

Im Engadin haben sich in den letzten Jahren einige einige Galerien angesiedelt. Der St. Moritzer Architekt Hans-Jörg Ruch, der auch einen Teil des Hotels Castell renoviert hat, hat die Galerien Tschudi und Monica de Cardenas in Zuoz und von Bartha in S-chanf zu attraktiven Ausstellungsorten umgebaut.  Monica de Cardenas empfing in ihrer aktuellen Ausstellung mit kinetischen Objekten, Lichtobjekten und begehbaren Treppenskulpturen des 1993 verstorbenen Mailänder Künstlers Gianni Colombo, die sie in enger Zusammenarbeit mit dessen Estate realisiert hat. Einen Ort weiter in S-chanf in der Galerie von Bartha führte der extra angereiste Künstler Beat Zoderer in seine Ausstellung mit Rasterbildern aus drei Jahrzehnten ein, die zum Saisonstart Ende Juli eröffnen wird, aber bereits gehängt ist. Eine Exklusiv-Preview, das lässt man sich gern gefallen.

JoinedArtweek

Installation von Tadashi Kawamata in der Nähe des Castell, Ruedi Bechtler, Terrassen-Lunch. Fotos Mitte und rechts: Heiko Klaas

Ein Ritual wird bei jedem «Art Weekend» wiederholt. Zur Stunde der Dämmerung trifft man sich im Skyspace von James Turrell etwas oberhalb des Hotelgeländes. Nach wenigen Minuten verstummen die Gespräche. Das nuancenreiche Lichtspiel im steinernen Rund mit der Öffnung zum Himmel versetzt in eine Art Trance. Jemand stimmt ein gesummtes Lied an. Ruedi Bechtler schnalzt mit der Zunge. Es wird Nacht im Hotel Castell. Zeit, das Erlebte in Ruhe auf sich wirken zu lassen.

* Nicole Büsing und Heiko Klaas sind seit 1997 als freie Kunstjournalisten und Kritiker tätig. Sie leben in Hamburg und Berlin. (Bild © Cathryn Drake)