Archiv für die Kategorie ‘Art Basel’

Achtung, Hexen!

Ewa Hess am Mittwoch den 28. Juni 2017

Es war vorletzte Woche in Basel. Just als wir den Kunstbrocken, die uns der Parcours-Kurator Samuel Leuenberger gestreut hatte, quer durch die Stadt nachspürten, ging mir ein Licht auf. Ich roch es förmlich in der Luft: Die Hexen waren wieder voll da. Gut, es könnte sein, dass da ein atavistischer Instinkt in mir wach wurde, weil die sommerliche Sonnenwende vom 21. Juni nahte. Aber, und das ist um einiges wahrscheinlicher, der Gedanke könnte sich eingeschlichen haben, weil die Hexen eigentlich nie so richtig weg vom Fenster waren. Als ich also die tollen und lustigen Performances von Marvin Gaye Chetwynd in Basel sah (übrigens an einem Ort, der sich lustigerweise Elftausendjungfern nennt, was einen apokryphen Hintergrund hat), wusste ich: Es ist wieder Hexenzeit. Wie damals, in den Seventies. Und die Frage ist: Was ist jetzt anders?

Marvin Gaye Chetwynd in Basel: «The Green Room & Science Lab», eine Mischung zwischen Chemielabor und Hexenküche. Foto via Instagram

Marvin Gaye Chetwynd, muss man wissen, die wir bis vor wenigen Jahren auch als Spartacus Chetwynd kannten, ist eine Londoner Kulturfigur. Ihr richtiger Vorname ist Alalia, was in meinen Ohren sehr schön klingt. In ihren eigenen übrigens auch. Die Künstlerin, die vor einigen Jahren für den Turner-Preis nominiert war, ändert ihre Vornamen als eine Art Zauberritual. Um stärker zu sein oder vielleicht (mit Marvin Gaye) beschwingter. Am Rande der Art Basel hat die 44-jährige Britin mit ihrem «The Green Room & Science Lab» eine echte Hexenkammer kreiert, in der sie zweimal pro Tag geheime Rituale aufführte. In Zürich hat sie übrigens zurzeit eine wunderbare Ausstellung in der Galerie Gregor Staiger im Löwenbräu.

Marvin Gaye Chetwynds Installation «The Stagnant Pool» in der Galerie Gregor Staiger in Zürich, bis 8. Juli

Geheime Rituale? Man kann eine Performance nicht wirklich geheim nennen, ansonsten hat sie aber viele Attribute einer magischen Handlung. Und ihre Popularität steigt seit einigen Jahren kontinuierlich, sodass manche schon fürchten, die bildende würde sich in eine performative Kunst verwandeln.

Natürlich besinnen sich die Künstlerinnen und Künstler im Zuge dieses neu erwachten Interesses auf die uralte Tradition der Magie und der Hexerei. Was war die berühmte Parforce-Tour «The artist is present» im Grunde anderes als ein magisches Ritual, mit der Oberhexe Marina Abramovic die Besucher des Moma mit ihrem starren Blick zur Selbsteinkehr zwang?

Kollektiv WITCH bei der «rituellen Performance für Mietrechte» in Chicago, Februar 2016. Foto via Flickr

Aber auch immer mehr junge Künstler wenden sich der Hexerei zu, indem sie Hexenzirkel aufsetzen, Beschwörungsformeln aufschreiben und Workshops für Magie sowie Feminismus aufsetzen. Im Februar berichtete man über ein Performance-Kollektiv aus Chicago, genannt WITCH, das eine «rituelle Performance» aufführte, um gegen unfaire Mietpraktiken in seinem Quartier zu protestieren.

«Hexe» Juliana Huxtable, fotografiert von Alex John Beck für das Portal Artsy.

Die Künstlerin, Dichterin und Musikerin Juliana Huxtable bezeichnet sich selbst als «Cyborg, Fotze, Priesterin, Hexe und Nuwaubianische Prinzessin». Nuwaubian Nation war ein religiöser Kult, welcher schwarzen Nationalismus, UFO-Theorien und ägyptische Ikonografie zusammenbrachte.

Natürlich erinnert das an die Zeit, als die Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts die Geschichten über Hexenverbrennungen des Mittelalters zum Symbol der Frauenunterdrückung gemacht haben, ein Zeichen all der Schmerzen, die Frauen im Patriarchat zugefügt wurden. In den späteren 1960ern hiess eine der Frauenbefreiungsgruppen in den USA  W.I.T.C.H., sie wollte den Kapitalismus mit Hexenpraktiken ausräuchern.

Insignien der Nuwaubian Nation, via unnm.org

Die Aktivistin Barbara Ehrenreich (heute 75), wir erinnern uns, hielt Hexen für Heilerinnen, die vom erstarkenden Beruf der Ärzte zwecks Konkurrenzbeseitigung brutal zum Schweigen gebracht wurden. Und wir (oder die älteren unter uns) erinnern uns an die deutsche Filmemacherin Luisa Francia, die die Hexenverteufelung als einen Frontalangriff auf die weibliche Sexualität entlarvte und mit Hexentarot in der feministischen Szene der 80er-Jahre Erfolge feierte.

Künstlerische «Oberhexe» Marina Abramovic 2010 bei ihrer langen (sie dauerte 2.5 Monate) Performance «The Artist Is Present» im MoMA, Foto: Wikimedia commons

Eigentlich kein Wunder, dass jetzt, da die Errungenschaften der Seventies wie Gleichberechtigung der Frauen, Rassengleichheit und Menschenrechte allgemein an vielen Krisenherden der Erde in Gefahr geraten (womit auch die USA mitgemeint sind), die Hexen wieder stärker in Erscheinung treten. Zumal in der Ära der technologischen Machbarkeit der Angriff des «Systems» auf das, was die Hexen symbolisch verkörpern, nämlich die freie Entfaltung des weiblichen (oder des «anderen» Körpers) eine neue Dimension bekommen könnte. Denn wer weiss, wie lange genormte menschliche Ersatzkörper vom Fliessband eine SF-Fantasie bleiben.

Namedropping nach der ART

Ewa Hess am Mittwoch den 21. Juni 2017

Bei den Preisen, die mittlerweile für gute Kunst bezahlt werden, könnte man die Aufregung um die ART für übertrieben halten – einkaufen können dort die meisten Normalsterblichen nicht. Aber: Die Messe, das ist ja nicht Kunsthandel allein! Nein, die Messe in Basel schliesst vor allem die vorsommerliche Kunstaufregung mit einem grossen Branchenpalaver ab. Wenn Art ist, dann sind Venedig, Documenta, Skulpturenprojekte (selten alle drei im gleichen Jahr, aber 2017 war es so) vorbei, und man hat sich viel zu erzählen.

Man pilgert durch die Liste, durch die Hauptmesse, durch die Ausstelllungen in Basel, trifft Kunst, trifft Menschen und macht sich ein Bild. Darum, liebe Leserinnen und Leser von Private View, will ich heute ein bisschen Namedropping betreiben. Folgen Sie mir, einfach nur so quer durch die Messe.

Ein stolzer Japaner: Yusaku Maezawa postet seinen neunstelligen Einkauf. (via Instagram)

Basquiat

Einen Monat vor der Messe wurde Jean-Michel Basquiat zum teuersten US-Künstler und deklassierte damit Andy Warhol nach vielen Jahren der Marktführung. Der japanische Milliardär Yusaku Maezawa (sein Geld stammt aus dem E-Business, woher denn sonst) kaufte das Bild ohne Namen für 110,5 Millionen Dollar an einer Sotheby’s-Auktion. Seinen obsessiven Kauf macht er kurz darauf auf seinem Instagram-Account publik. Natürlich war Basquiat danach ein Dauerthema auf der Messe. Weil die Galerie Acquavella den ihren für «nur» 20 Mio. verkauft hat (also ist der Basquiat-Markt doch erst im achtstelligen, und noch nicht im neunstelligen Bereich?). Weil mit Basquiat aufs Mal zwei Minderheiten gewürdigt werden: Sein Vater stammt aus Haiti, seine Mutter aus Puerto Rico. Nicht nur schwarz, sondern auch Latinx! (Das Latinx ist kein Tippfehler, sondern die neue geschlechtsneutrale Bezeichnung für einen Latino oder eine Latina).

Basquiats Zeichnung mit einer Schweizer Speisekarte, Künstler mit Bruno Bischofberger in St. Moritz, dazwischen Brooke Bartlett (courtesy Bischofberger collection)

Mir hat einer an der Messe gefehlt, der sehr viel über Basquiat erzählen könnte: Bruno Bischofberger! Der legendäre Galerist nimmt schon seit Jahren nicht mehr teil, er war gemeinsam mit Andy Warhol einer der Förderer des Strassenkünstlers und kannte ihn sehr gut. Vor sieben Jahren, als die Fondation Beyeler ihre famose Basquiat-Retrospektive zeigte, sass ich mucksmäuschenstill in Bischofbergers von Ettore Sottsass erbautem Privathaus hoch über dem Zürichsee und hörte den Erzählungen zu (zum Beispiel wie Basquiat in die Schweiz kam und Bratwürste zeichnete, nachzulesen hier). In Bruno Bischofbergers Privat-Schaulager in Männedorf könnten viele unschätzbare Basquiats bewundert werden, und nicht nur diese (open by appointment only).

Bruno Bischofbergers Privat-Schaulager in Männedorf, erbaut von seiner Tochter Nina (Baier-Bischofberger). Bilder: Galerie BB

Fischer

Die Skulptur «The Kiss» des Schweizer Schwergewichts Urs Fischer war der erklärte Publikumsliebling der Messe. Kein Wunder – da durfte jeder ran. Die Rodin-Replik aus Plastilin konnte «weitergearbeitet« werden. Eigentlich erstaunlich, dass die Eingriffe nicht besonders einschneidend waren – offensichtlich reichte der Mut bei den meisten höchstens zu einem tiefen Fingerdruck. Diese Methode der Mitarbeit des Kollektivs hat der Künstler schon früher angewandt, indem er etwa seine Künstlerkollegen bat, an einer Skulptur aus Plastilin mitzuformen, und die so entstandene Vorlage später in Bronze goss.

Urs Fischers interaktive Skulptur «The Kiss» bei Sadie Cole’s HQ. (Bild: ewh)

Einige haben sich unoriginellerweise zu Obszönitäten hingewagt. Man fragte sich, wer so eine bearbeitete Skulptur denn kaufen würde – irgendwie sah sie nicht so appetitlich aus. Doch es stellte sich heraus, dass die ART-Kopie nach der Messe zerstört wurde, und die beiden Käufer (denn die Skulptur durfte man zwei Mal kaufen, was auch geschah, zu je 500’000 Dollar) bekommen eine jungfräuliche Version. Man stellt sich vor, dass sie diese dann an einem geselligen Abend ihren Gästen zur Verfügung stellen …

“Der Kuss” am Schluss der Messe, s. dazu Kommentarspalte. Bild: Rolf Bismarck

Karma

Den schnittigsten Auftritt an der Art Unlimited hatten drei Frauen: die beiden Galeristinnen Karolina Dankow und Marina Olsen von der Zürich-Los Angeles-Galerie Karma International sowie die Genfer Künstlerin Sylvie Fleury, die zum Galerieprogramm gehört. Zu sehen war Fleurys Ami-Schlitten (ein 1967 Buick), ihr eigenes Auto, mit dem sie manchen Kilometer zurückgelegt hat und den sie nur mit leicht blutendem Herz (aber was macht frau nicht alles für die Kunst) in eine Installation umgewandelt hat.

 

Sylvie Fleurys «Skylark» und der Rücken einer ihrer Galeristinnen. (Bild: ewh)

 

Die pfiffige Genferin Fleury hat es wie immer geschafft, mit lockerer Geste kühne Weiblichkeit, Stil und raumgreifenden Anspruch miteinander zu verbinden. Karolina und Marina (die beiden Teile von Kar-Ma) machten nicht weniger stilvoll die Honneurs. Vor dem Auto lag ein Rouge-Döschen, im Auto war eine elegante Szene mit Foulard und Zeitschrift arrangiert: Hollywood-like! Es passt, dass die Wipkinger Galerie Karma International einen erfolgreichen Ableger in Beverly Hills unterhält.

 

Karolina Dankow (links aussen), Marina Olsen (ganz rechts) und das Stillleben in Fleurys Buick. (Bild: ewh)

Der interkontinentale Spagat zahlt sich aus – auch in der aktuellen Ausstellung in Wipkingen, wo mit Flannery Silva und ihrem «Sugaring off» eine 27-jährige Künstlerin von der Westküste einen so souveränen und lustigen Auftritt hinlegt, dass man nur staunen kann. Worum es darin geht? Natürlich um Frauenfantasien! Zu Karma übrigens gibt es Breaking News (das muss man sich jetzt blinkend vorstellen). Nach der Messe wurde bekannt, dass Karma nun neu den Nachlass von Meret Oppenheim betreut! Das passt im allerschönsten Sinne.

Gupta

Was mir besonders gefiel, war der sympathisch moderne Umgang mit den Genderrollen, der sich in der Unlimited-Halle zeigte. Während die Frauen Gas gaben, kochte Subodh Gupta, der grosse Inder, in seinem Pfannenhäuschen ein so leckeres Süppchen (eher einen Curry), dass allen Messebesuchern der Speichel im Munde zusammenlief. Leider muss man berichten, dass man am langen Tisch selten einen Platz fand. Nun ja, Gupta kochte ja auch nicht die ganze Zeit selbst. Dennoch berichten jene, die sich einen Platz ergattert haben, dass das Essen wirklich gut schmeckte. Was an den Messen ja nicht immer der Fall ist.

Subodh Gupta kocht, das «Pfannenhäuschen» von aussen. Eigentlich heisst das Werk «Cooking the World». (Courtesy Galleria Continua und Hauser & Wirth)

Ruf

Ebenfalls beliebt: Die Kunst-Doppelgänger von Rob Pruitt. Zugegeben, das von der New Yorker Galerie Gavin Brown ausgebreitete Werk «Rob Pruitt’s Official Art World / Celebrity Look Alikes» roch stark nach einem Insiderwitz. Aber hey, wo kann man noch Insiderwitze machen, wenn nicht an dem weltgrössten Branchentreff? Die sind doch bekanntlich die lustigsten. Der Künstler hat die ganze Sache mit den Doppelgängern sozusagen in umgekehrte Richtung durchexerziert. Für die im breiten Publikum weniger bekannten, dafür in der Kunstwelt sehr vertrauten Gesichter von Kuratoren und Künstlern suchte Pruitt Entsprechungen in der Welt der Mainstream-Celebritys. Es waren ganz viele! Eine ganze Koje voll, von der Decke bis zum Boden. Ich suchte nach Schweizern und fand natürlich Sam Keller (Beyeler, Art Basel), den Unlimited-Kurator Gianni Jetzer, den Serpentine-Unermüdlichen Hans Ulrich Obrist sowie Beatrix Ruf, ehemals Kunsthalle Zürich, jetzt Stedelijk Amsterdam. Beatrix Ruf alias Liza Minelli, das hat etwas, finden Sie nicht auch??? Hingegen den Schauspieler neben HUO kann ich nicht knacken, obwohl mir das Gesicht etwas sagt … Ich komme einfach nicht darauf … Helfen Sie, liebe Leserinnen und Leser? Weitere Schweizer – siehe unten.

«Rob Pruitt’s Official Art World / Celebrity Look Alikes», Ausschnitte, 2017          Bild: ewh

 

Sam Keller = Dr. Evil (Mike Myers)

 

Art-Basel-Direktor Marc Spiegler = Drogenbaron El Chapo

 

Unlimited-Kurator Gianni Jetzer = Schauspieler Colin Farrell

 

Künstler Urs Fischer = Schauspieler Michael Madsen

 

 

An der ART entdeckt

Ewa Hess am Dienstag den 23. Juni 2015

Vieles wird am heutigen entfesselten Kunstmarkt kritisiert, auch von mir, doch eine der Nebenerscheinungen finde ich wunderbar: Die Neigung der Galerien, bisher verkannte Künstlerinnen und Künstler wiederzuentdecken. Der Markt ist trocken, die Käufer suchen Qualität, der Nachschub von tollen Werken, historischen oder aktuellen, ist beschränkt. Und so kommt es, dass man nochmals nach hinten schaut und oft auf diese Weise die Ungerechtigkeit der Geschichte korrigiert. Denn ja, es gibt Künstler, die so ungewöhnlich, so avantgardistisch oder so scheu bzw. widerspenstig sind, dass sie zu ihrer Lebzeit übersehen werden. Und, falls sie schon tot sind, auch später im Verborgenen bleiben. An der am Sonntag zu Ende gegangenen (tollen) Art Basel, bei der die Messeleitung die Galeristen explizit ermuntert hat, hochwertige historische Kunst mitzubringen, gab es für mich in dieser Beziehung richtige Offenbarungen. Ich teile sie mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser von Private View. Als Inspiration und auch als Tipp, falls Sie etwas Spielgeld zur Verfügung haben und es gegen Zeugnisse ephemerer Schönheit und exemplarischer Lebenshaltung tauschen möchten.

Ray Johnson (1927-1995), der Erfinder von Mail Art und so manchem anderen

Ray Johnson (1927-1995), der Erfinder von Mail Art und so manchem anderen.


 

Beginnen wir mit Ray Johnson. Ich sah eine wunderschöne Collage von ihm am Stand der New Yorker Galerie Richard L. Feigen & Co., die auch seinen Nachlass verwaltet. Der 1927 geborene Künstler war ein Wegbereiter für verschiedene Kunstströmungen. Seine Werke der 1950er-Jahre erinnern an Pop Art  (Jahre vor seinem Freund und manchmal Rivalen Andy Warhol). Johnson machte Performances, bevor es diese Bezeichnung überhaupt gab. Konzeptkunst, damals noch kaum vorhanden und heute praktisch Alleinbeherrscherin der Szene, war sein Sandkasten. Auch wenn er sich später über ihre gezierten Possen lustig machte (und uns allen, die wir des prätentiösen Konzeptkunst-Kauderwelschs müde sind, schon damals aus dem Herzen sprach). Und er war der Erfinder der Mail-Art, die damals den Gang zum Briefkasten bedingte. Johnson verbreitete seine Collagen und sibyllinischen Texte, indem er sie an ein riesiges Netz von Künstlerkollegen, Freunden und Fremden verschickte und diese ermunterte, den Ball seiner Inspiration aufzunehmen. Erinnert uns das an etwas? Ja, Johnson war ein analoges Social Medium, bevor es das Internet gab.

Ray Johnson «Untitled (Send to Brain Surgeon I)», 1974-76-1980-1985-1993-94,  collage, 38.10 x 38.10 cm., 30,000 Dollar

Ray Johnson «Untitled (Send to Brain Surgeon I)»

Vor zwanzig Jahren, an einem klirrend kalten Januartag, sprang Ray Johnson von einer Brücke im schönen Sag Harbor in den Hamptons, schwamm ins Meer hinaus und ertrank. Zwei Teenager sahen ihn springen und wollten die Polizei benachrichtigen, fanden aber den Polizeiposten nicht und gingen, anstatt das Leben des Unbekannten zu retten, ins Kino (das hätte ihm bestimmt gefallen). Erstaunlicherweise geschah das zu einem Zeitpunkt, als sein kommerzieller Erfolg gerade einzusetzen begann – was er nie suchte und sogar aktiv verhinderte, etwa als er 1990 von der Galerie Gagosian umworben wurde. Er war befreundet mit fast allen Grössen der amerikanischen Avantgarde jener Zeit, schon seit seiner Zeit am Black Mountain College, der avantgardistischen Kunstschule in North Carolina, der die amerikanische Kunst fast alles verdankt (ich erwähne hier nur die Namen einiger seiner Kommilitonen: John CageMerce CunninghamWillem de KooningBuckminster Fuller).

In den vergangenen Jahren begann Johnsons Ruhm stark zu wachsen, es gab Bücher, Artikel, Ausstellungen (alles, inklusive einer Timeline und schönen Videodokumenten) findet man auf der Website seines Nachlasses hier). Er wird ein Schwerpunktthema des Festivals Performa (NY) im November sein, und die Museen stehen offensichtlich Schlange bei Feigen, wie mir die nette Galeriedame an der Art erzählt hat. Dennoch, sagt sie, lagern noch stapelweise Kisten mit noch unbearbeitetem Material in einem unbenutzten Badezimmer der Galerie in New York, Arbeit genug für mehrere Generationen von Kunststudenten. So reich war das Lebenswerk dieses «Unbekannten».

Ray Johnsons Mail Art, Beispiele seines unnachahmlichen Humors

Ray Johnsons Mail Art, Beispiele seines unnachahmlichen Humors.

Die Arbeiten von Ketty La Rocca waren mir ebenfalls nicht bekannt – ich sah einige am Stand der Düsseldorfer Galerie Kadel Willborn. Sie haben mich sofort mit ihrer scheuen Grazie erobert. Ketty, was ich nicht wusste,  gehört zu den wichtigsten ersten Konzeptualisten in Italien. Sie starb 1976 mit nur 38 Jahren, und obwohl es nachher einige Retrospektiven gab, wurde ihr Name nicht allgemein bekannt. Schade! Überhaupt, die Italiener jener Zeit, aus den 60er- und 70er-Jahren, haben Kunst geschaffen, die ihrergleichen weit suchen muss. Ich denke daran seit meinem Besuch bei der Fondazione Prada Milano, weil die Bertelli-Pradas so viele tolle Werke in ihrer Sammlung haben. Viele dieser Künstler sind mittlerweile zu Marktstars geworden, wie Lucio Fontana oder Giuseppe Penone. Aber es gibt (gerade auch im konzeptuellen Bereich) noch so viel zu entdecken.

Ketty La Rocca und ihre Sprache der Hände

Ketty La Rocca und ihre Sprache der Hände.

Aber zurück zu Ketty. Sie entwickelte eine neue Sprache, die mit Händen zu tun hatte. Sie untersuchte deren Ausdrucksstärke, beschriftete sie mit Wörtern und versuchte, diese neue Kommunikationsmethode der existierenden Sprache entgegenzusetzen. Für die Frauen sei heute keine Zeit der Erklärungen, schreibt sie 1974 aus ihrer feministischen Perspektive, die hätten zu viel zu tun und überdies nur eine Sprache zur Verfügung, die ihnen fremd und feindlich sei. Sie seien der Gesamtheit beraubt bis auf die Sachen, die niemand beachte, und das seien viele, auch wenn sie geordnet werden müssten: «Die Hände zum Beispiel, zu langsam für weibliche Fähigkeiten, zu arm und zu unfähig, um das Hamstern fortzusetzen; es ist besser, mit Worten zu sticken.» Ich musste natürlich auch an die Arbeit Judith Alberts in der Grossmünster-Krypta denken, die ich vor drei Wochen hier vorgestellt habe und die eine weibliche «Händesprache» dem männlich geprägten Evangelium hinzufügt.

ketty La Roccas Werk «Il Mio Lavoro» von 1973 basiert auf einem Foto, in dem sie sich selber in ihrem Atelier aufgenommen hat und dann die Umrisse des Fotos mit Handschrift-Notizen nachgezogen hat. Es ist schon verkauft, der Preis war um die 20 000 Euro.

Ketty La Roccas Werk «Il mio lavoro» von 1973 basiert auf einem Foto, in dem sie sich selber in ihrem Atelier aufgenommen hat und dann die Umrisse des Fotos mit Handschriftnotizen nachgezogen hat. Es ist schon verkauft, für um die 20’000 Euro.

Kadel Willborn hat eine schöne schmale Publikation zu Ketty La Rocca herausgegeben, die den wunderbar poetischen Titel trägt: «The you has already started at the border of my I.»

Vito Acconcis Beiss-Performance

Vito Acconcis Beiss-Performance «Trademarks».

Die dritte Position, von der ich heute erzählen möchte, habe ich schon gekannt. Ich habe sie bei Grieder Contemporary vor einem Jahr nochmals gesehen, doch damals konnte ich dem Werk nicht genug Ehre erweisen. Jetzt war Damian Grieder mit seiner Acconci-Präsentation in Basel (in der «Features»-Sektion) und ich war wieder restlos begeistert. Vito Acconci ist heute 75 Jahre alt und ähnlich wie die zwei oben Beschriebenen prägte er die 70er-Jahre mit seinen Gedichten, Aktionen und Konzepten. Mit «Seedbed» (1972) hat er seine Karriere begründet. Achtzehn Tage lang lag Acconci unsichtbar unter einer Holzrampe in der Galerie Ileana Sonnabend. Besucher konnten ihn nicht sehen, aber aus dem Lautsprecher hören. Es wurde gemunkelt und den Geräuschen nach schien es wahrscheinlich, dass der Künstler dort unten masturbierte, während er Ungehöriges über die über ihn wandernden Galeriebesucher murmelte. Der heilige Nimbus einer Kunstgalerie wurde ganz gehörig erschüttert.

Bei Grieder sind von Acconci persönlich adnotierte Fotografien seiner diversen Aktionen zu sehen. Etwa: «Trademarks». Da hockt er im Schneidersitz vor einer weissen Wand und beisst sich in alle Körperteile, die er erreicht. Detailfotos zeigen einige der Bissspuren, die er sich 1970 in seinem Atelier zufügte. Weil ich direkt von Ketty La Rocca kam, musste ich daran denken, wie spektakulär es war, eine solche Performance von einem Mann vorgeführt zu bekommen. Die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und Auto-Aggression waren für lange Zeit das verschämte Spielfeld der Frauen. Die Integration dieser Elemente zeigt eine besondere Sensibilität des Künstlers. Seit den 1980er-Jahren hat er sich übrigens ganz der Architektur und dem Design zugewandt,  mit dem Ziel, zukunftsweisende, partizipatorische Architektur-Kunst-Projekte durchzuführen.

5 Thesen nach der Art

Ewa Hess am Dienstag den 24. Juni 2014

Die Art ist ein Fest. Man zieht ein hübsches Röckchen an und trinkt Unmengen von jenem Champagner, der zu den ART-Sponsoren gehört, den Kunstruin aber im Namen trägt (Ruinart, wirklich superb). Jene Galerien, welchen das Auswahlkommittee erlaubt hat, zig Tausend Franken in einen Stand zu investieren, machen anderthalb Jahresumsätze an zwei Tagen. Die anderen Galerien schmeissen Partys am Rande und haben es auch lustig, wenn nicht gar lustiger. Und wir? Wir, das nomadische Volk der Kunstliebhaber, -kitiker und -betrachter, versuchen nach der Überdosis der Eindrücke, das Karussell im Kopf anzuhalten – und Übersicht zu gewinnen.

Grossgalerist Larry Gagosian (links in der Mitte der Gruppe), Art Conultant Michaela Neumeister und Sammler «Mick» Flick am Rande der Messe

Grossgalerist Larry Gagosian (links in der Mitte der Gruppe),  Michaela Neumeister-de Pury (mit Telefon) und Sammler «Mick» Flick

In diesem Sinne: Hier mein Fazit. In fünf übersichtlichen Punkten.

1. This is speculation

Die Arbeit des deutschen Künstlers Tino Sehgal (von 2004) zeigte allen, die es sehen wollten, die absurde Seite des Wettbewerbs. In seiner Installation im Rahmen von «14 Rooms» priesen Mitarbeiter zweier Galerien  die Werke des Künstlers an. Fast gleichzeitig. Es war wie abstrakte Poesie. Komplett unverständlich. Der Titel der Arbeit hiess: «This Is competition». Was ist also Wettbewerb? Sinnverlust.

Eine dazu passende Geschichte dazu fand ich bei Katja Kazakhina auf Bloomberg: Sie erzählt von einem gewissen Herrn Philip Hoffman, CEO eines Art Funds soundso, der am ersten Tag der Messe ein Werk zu Spekulationszwecken gekauft, und am Nachmittag bereits wieder Gewinn bringend verkauft hatte. Er habe für das Werk gar nicht bezahlen müssen, prahlt Herr Hoffman,  nur den Gewinn eingestrichen. Das Werk, den Künstler und die Galerie nennt er nicht. Mit gutem Grund, weil den Galeristen, der bei solchem Blödsinn mitmacht, hätte ich sofort von der Art ausgeschlossen. Aber gut, ich bin nicht im Auswahlkommittee.

Martin Kippenbergers «Ertragsberg» und Berlinde de Bruyckyeres Knochenhaufen

Martin Kippenbergers «Ertragsberg» und Berlinde de Bruyckyeres Haut-und-Knochenhaufen

2. Old skills need new forms

Messehalle 3 mit «14 Rooms» war  der Ort, an dem man aus dem alljährlichen Art-Ritual ausbrach – indem man alte Rituale neu belebte. Viele der gezeigten Performances waren altbekannte Stücke. Etwa das Touch-Piece von Yoko Ono, das ganz simpel funktioniert: Ein komplett dunkler Raum, in dem sich die Besucherinnen und Besucher durch ein Labyrinth tasten müssen. Dabei berühren sie die samtig ausgekleideten Wände und die anderen Menschen. Ganz einfach und überaus wirkungsvoll. Perfektes Antidotum zur digitalen Antiseptik. Und siehe da: Die alten Performances zeigten sich gross in Form. Auch dank der intelligenten Architektur. Der endlose Gang von H & deM liess die Vorstellungskraft rattern, noch bevor man die kleine raue Holzklinke zu einem der 14 Räume in die Hand nahm. Die beabsichtigte Distanznahme vom Markt gelang indes nicht so gut: Eine Kontroverse um die Eintrittspreise für eine subventionierte Veranstaltung entbrannte in Basel.

Ein Werk von Jan Fabre, «14 Rooms»

Ein Werk von Jan Fabre, «14 Rooms»

3.  There are ways to keep your artist

Larry Gagosian zeigte sich an der Art unbeeindruckt von den vielen Streitigkeiten, die in der letzten Zeit aus seinem Galeriestall zu hören sind (Damien Hirst, Jeff Koons, Yayoi Kusama rebellieren, weil sie nicht genug an den immensen Gewinnen beteiligt werden). Es gibt aber Galeristen, vor allem Galeristinnen (ich muss es sagen, auch auf die Gefahr hin, dass ich dem eigenen Geschlecht gegenüber als parteiisch erscheine), zu welchen Künstler einfach treu bleiben. Etwa Marian Goodman (NY) eröffnet mit 83 Jahren demnächst eine neue Galerie in London, hat Senkrechtstarter wie Oscar Murillo im Programm und konnte  Steve McQueen oder Gerhard Richter behalten, als sie gross wurden. Oder Galerie Eva Presenhuber (Zürich), sie hat mit Sam Falls und Oscar Tuazon zwei sehr aktuelle Positionen im Programm, behält aber ihre ursprünglichen Künstler wie Peter Fischli oder Karen Kilimnik scheinbar mühelos bei der Galerie. Offensichtlich geht es doch. Geht es ums «bemuttern»? Die gering geschätzte Haltung bedeutet auch eine  Verbindlichkeit im Umgang mit den Künstlern. Kritiklos braucht man dabei keineswegs zu sein.  Gute Mütter (auch männlichen Geschlechts) können durchaus ab und zu schelten.

4. New collectors = new artists

Aber klar. Wäre ja schlimm, wenn es anders wäre. Die asiatischen Sammler mögen nun mal besinnlichere Werke. Meine kühne Behauptung: Dass der Arte-Povera-Visionär Giuseppe Penone endlich sichtbar wird, haben wir den chinesischen Sammlern zu verdanken. Obwohl der Schweizer Sammler Hubert Looser auch schon sehr früh Penones Wert erkannte und wunderbare Werke von ihm dem Kunsthaus Zürich geschenkt hat. Wünschenswert wäre überdies: Das Interesse der westlichen Sammler an den chinesischen Meistern. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Beschäftigung mit den Details der chinesischen Tuschmalerei beruhigend aufs System wirken könnte. Obwohl… in China hat es ja auch nicht geholfen.

ein Werk von Giuseppe Penone, Chinesischer Sammler vor einem Gemälde Lee Ufans

Ein Werk von Giuseppe Penone, chinesischer Sammler vor einem Gemälde Lee Ufans

5. Empower the center!

Die Verteilung wird immer starrer: Die grossen Galerien sind an der Art, die aufstrebenden an der Liste. Die Liste war dieses Jahr übrigens wunderbar, doch davon ein anderes Mal (vielleicht). Volta und Scope schaffe ich persönlich gar nicht anzusehen – wer kann so viel Kunst in einer Woche überhaupt verarbeiten? Ich wäre also dafür, dass es an der Art nicht nur «Statements», also eine Plattform für junge Galerien gibt (die dieses Jahr seltsam kraftlos daherkamen, vielleicht mit Ausnahme von Kraupa-Tuskanys Katja Novitskova), sondern auch eine stärkere Mitte. Es sind die mittleren, soliden Galerien die vom gegenwärtigen Hype um die zeitgenössische Kunst überrollt werden. Sie haben die Mittel nicht, um 15 Messen pro Jahr mitzumachen. Dabei  sind sie es, welche die grosse Arbeit leisten, den inhaltlichen Diskurs fast eigenhändig vorwärts stossen. Sie geben den Künstlern ihre erste Plattform, verschaffen ihnen Raum, oft eben auch nur, um später von den Erfolgreichsten verlassen zu werden. Ich würde sie gerne an der Art sehen. Mittlere Galerien sind Stütze und Pfeiler unseres Kunstsystems. Ein Hoch auf die Unermüdlichen.