Die Berner sind pünktlich! Schon vor 18 Uhr, dem offiziellen Beginn der Vernissage, formiert sich vor der Kunsthalle eine ziemlich lange Schlange, die darauf wartet, dass sich die Türen öffnen. Auf dem Dach – die Wartenden sehen nichts davon – hat die Ausstellung bereits begonnen: Ein Astronaut raucht vor sich hin. Einen Joint? Stärkeres?
Was: Eröffnung der Ausstellungen «Sie sagen, wo Rauch ist, ist auch Feuer» und «Séction Littéraire» in der
Wo: Kunsthalle Bern (zweiter Teil der Ausstellung im Kunsthaus Glarus)
Wann: Freitag, 12. August, Ausstellung bis 1. Oktober

Astronauten-Performance auf dem Dach, Werk von St. Bernard, Rex, 1990. Bilder CS/KHB
Die Astronauten-Performance heisst jedenfalls «High» und führt ins Thema der Ausstellung ein: «Sie sagen, wo Rauch ist, ist auch Feuer», heisst sie, und es soll darin um Gerüchte gehen. Gerüchte etwa, die über Künstler(innen) und deren Identität gestreut werden. So weiss auch niemand, welcher Künstler oder welches Kollektiv hinter dem Astronauten steckt. Man kennt nur den Namen: Puppies Puppies.

Puppies Puppies: Der Künstler ohne Hirn oder das Kunstwerk mit mehreren Namen. Bilder: CS
Von Puppies Puppies stammt auch die Leiche aus Latex, dem Hingucker auf dem Boden des grossen Ausstellungsraums. Der Schädel des Toten ist offen und leer, ohne Hirn. Etwas eklig ist das und rätselhaft, und der gleich mehrfache Werktitel, auf den da angespielt wird, schürt Gerüchte: «Untitled (portrait of the artist with no brain) (portrait of the artist after brain surgery) (Sylar (Zachary Quinto) brutally kills Isaac Mendez) (Heroes tv show prop) (Duane Hanson – murdered artist).» Nicht einmal Valérie Knoll, die 39-jährige Direktorin und Kuratorin der Ausstellung, sagt, sie wisse – trotz Mailkontakten –, wer hinter Puppies Puppies stecke.

Ausstellungsexponat Umfrage: Die anonyme US-Künstlerinnen-Gruppe Guerilla Girls (sie treten immer in Gorilla-Masken auf) kämpft seit 30 Jahren gegen sexistische Sammlungs- und Anstellungspolitik der Kunstmuseen. Bild: KHB (Kunsthalle Bern)
Sie hätte, sagt sie während der Eröffnungsrede, auch mit einer Gorilla-Maske über dem Kopf die Ansprache halten können (womit sie auf die in der Ausstellung vertretene Künstlerinnen-Gruppe Guerilla Girls anspielte), um ihr Ich zum Verschwinden zu bringen, wie das gewisse Künstler täten. Allerdings hätte sie dann Judith Welter, die Direktorin des Kunsthauses Glarus, nicht erkannt. Dass sich die beiden erkannten, um sich gemeinsam an der Eröffnung zu freuen, war an diesem Abend essenziell, denn für die Ausstellung haben sie zusammengespannt. So kann man parallel zur Berner Ausstellung auch in Glarus in die Gerüchteküche eintauchen. Nicht gerade um die Ecke, aber warum nicht?

Macherinnen (links): Judith Welter vom Kunsthaus Glarus (ganz links), Valérie Knoll von der Kunsthalle Bern. Beucher (rechts): Galeristin Isabelle Bortolozzi aus Berlin und Künstler Danny McDonald, der in der Ausstellung vertreten ist. Bilder: CS
Während der Fokus in Bern vor allem auf Künstlerinnen und Künstlern liegt, die ihre Identität hinter Pseudonymen verstecken, konzentriert sich die Ausstellung in Glarus auf Kunstwerke, die ihre Wirkung durch eine gerüchteartige Verbreitung entwickeln. Seltsame Nebenwirkung: Plötzlich ist man selbst ein wenig elektrisiert, was Gerüchte anbelangt. Stimmt es wirklich, dass Sophie Hunger da ist? Tatsächlich, da huscht sie mit einer Kollegin durch die Räume (sie will dann aber nicht fotografiert werden. Und so bleibt die Behauptung, dass sie da war, fast nur ein Gerücht).

Installationsansicht: Guerilla Girls, «It is even worse in Europe», 2016. Bild KHB
Sowieso tauchen an diesem Abend viele Berner Künstler auf – aber weniger bildende Künstler, sondern singende, dichtende, schreibende: Neben Hunger sind auch die Autoren Jürg Halter und Tom Kummer anwesend. Letzterer steht lange rauchend vor der Kunsthalle und erklärt grad einem Gast, dass hier der grosse Kurator Harald Szeemann tätig war. Als ihn der Gast fragend anschaut, erklärt er ihm, WER Szeemann war – oje!

Aussteller und/oder Gäste: Erklärer Tom Kummer und Dichter Jürg Halter (Kutti MC) mit der Berner Museumsdirektorin Nina Zimmer. Bilder: CS
Kummer ist, wie sich herausstellt, nicht nur zum Aufklären da, er hat auch bei der Ausstellung der bald 100-jährigen Kunsthalle mitgewirkt. Er, der mit erfundenen Interviews Medienskandale ausgelöst hat, schrieb für die Ausstellung ein Interview mit einer – wen wunderts – fiktiven Person namens Tracy, die für ihn den Marktwert der in Bern ausstellenden Künstler analysiert.

Migros-Museum-Kurator Raphael Gygax mit Amy und David Bossert, Kunstsammler aus Paris, dem das Bild von Philippe Thomas gehört, das an der Wand hängt. Bilder: CS
Nicht ausstellen tut Peter Fischli, der an diesem Abend mit seinem Grosskind durch die Räume huscht. Fischli ist Teil einer recht grossen Gruppe, die aus Zürich angereist ist, darunter auch Raphael Gygax, der Kurator des Migros-Museums. Auch den Weg nach Bern gefunden hat Isabella Bortolozzi, die bekannte Galeristin aus Berlin, die regelmässig an der Art Basel ausstellt und eine der wenigen Frauen ist, die lange, graue Haare mit Grandezza tragen kann. Sie ist da wegen «ihres» Künstlers Danny McDonald, der an der Ausstellung drei Werke zeigte.

Multimedial und auf verschlungenen Wegen, so entstehen Gerüchte: castillo/corrales, Notorious (Christian Leigh), 2011/2014. Bild: KHB
Eine Künstlerin reiste von weither an die Eröffnung an: Jacqueline de Jong. Eines ihrer Werke ist in Bern zu sehen. Allerdings muss die reizende 80-Jährige aus Amsterdam lange danach suchen. Fündig wird sie im Untergeschoss. Dort geht es nicht mehr um Gerüchte: Die Ausstellung «Séction Littéraire», die am Abend ebenfalls eröffnet wird, zeigt Kunstwerke, die Texte beinhalten, sowie Künstlerliteratur. De Jong schrieb auch viel; sie war Gründerin und Herausgeberin der «Situationist Times», die sie in den Sechzigerjahren herausgab.

Die Grande Dame (links) Jacqueline de Jong in der Kunsthalle, rechts die Kuratorin der «Section Littéraire», Geraldine Tedder. Bilder CS
Darin widmete sie sich unter anderem den Typologien. Es ging um Labyrinthe, Knoten und Ketten. Sie war auch Mitglied der Situationistischen Internationalen, einer Künstlergruppe, die das Leben der Moderne hinterfragte und Kommerz und Konsum ablehnte. In Bern stellt De Jong ein «Köfferchen» aus zusammenklappbaren «Diptychen» aus, die sie mit Bildern und Tagebucheinträgen bemalte, und die sie damals zwischen Paris und Amsterdam, den Städten, in denen sie lebte, hin- und hertransportierte.

Kein Gerücht, sondern eine Legende: «The Situationist Times». Bilder via Pinterest
De Jong war sichtlich bewegt, hier zu sein: 1942 flüchtete sie als Kleinkind mit ihrer Mutter vor den Nazis in die Schweiz und blieb hier während des Krieges. Sie spricht bis heute Schwiizertüütsch, und das ist kein Gerücht.
die situationisten waren die geilsten…die brauchen das bild gar nicht mehr darstellen, die sehens, das reicht.