Am Sonntag haben wir alle gehört, dass die Kunstszene-Satire «The Square» die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, und schon meinen wir, den Film vor unserem geistigen Auge abrollen zu können: narzisstische Kuratoren, präpotente Künstler und stinkreiche Mäzene, die auf jeden Scheiss der beiden Erstgenannten reinfallen. Das stellte ich mir zumindest so vor, als ich von diesem Palmarès hörte, und ich spürte Unmut in mir aufsteigen.
Denn da die meisten Filme über Kunst oder Künstler (und es gibt ihrer sehr viele, allein diesen Frühling kamen mindestens 12 ins Kino) sich durch eine stossende Unkenntnis der Kunst und ihrer Prämissen auszeichnen, wäre es doch wirklich ein Skandal, wenn ein grob gestrickter Unfug, der sich gefällig an jene anbiedert, die Kunst einfach nur lächerlich finden, in Cannes die Goldene Palme davontragen würde. Denn Cannes, meine Damen und Herren, das ist nicht irgendein Filmfestival, sondern die Hochburg der europäischen Raffinesse. Das ist jenes Festival, in dem die französische Liebe zur spielerischen Intellektualität sich mit der französischen Tradition des gefühlvollen Ausdrucks paart und dafür sorgt, dass das Herz und der Kopf nicht auseinanderdriften.

In allem etwas extrem: Regisseur Ruben Östlund beim Fototermin nach der Preisverleihung in Cannes. Foto: Anne-Christine Poujoulat (AFP)
Darum rief ich meinen Kollegen, den Filmkritiker Matthias Lerf, an – er stand noch in der Check-in-Schlange in Nizza, um nach dem Festival nach Hause zu fliegen – und fragte, was es denn mit diesem «schwedischen Quadrat» auf sich hatte. Er konnte mich einigermassen beruhigen, dass der Film keineswegs eine primitive Kunstverulkung sei, alle würden darin ihr Fett abbekommen. Und es gehe – ganz ernst – um Fragen der sozialen Verantwortung darin. Das Kunstwerk, von dem im Film die Rede ist, gebe es übrigens in echt irgendwo, sagte Matthias noch.
Und: ja. Das gibt es. Und es heisst «The Square». Es handelt sich dabei um eine Installation, welche der Regisseur des soeben preisgekrönten Films, Ruben Östlund, und sein Freund, Professor Kalle Boman, gemeinsam entworfen und in drei skandinavischen Städten auch tatsächlich verwirklicht haben. Es gibt ihn also, den «Square». Auf Schwedisch heisst er «Rutan», zuerst wurde er im Museum Vandalorum im schwedischen Städtchen Värnamo verwirklicht.

Ruben Östlund und sein Freund Kalle Boman inmitten ihres Kunstwerks in Värnamo. Bild: Vandalorum
Der Regisseur Ruben Östlund («Force majeure») und der Produzent Kalle Boman sind in Schweden natürlich gut bekannt. Bei dem Projekt «Rutan» haben sie erstmals eine Kunstinstallation entworfen. Es ging darin um die Fähigkeit der Menschen, einander zu vertrauen, Hilfe zu akzeptieren. Es ging um soziale Verantwortung – aber nicht als eine von Firmen-PR ausgelutschte Floskel, sondern um die echte, ehrliche Ausgestaltung davon. Als sie das Geviert erstmals in 2015 in Värnamo einrichteten, hatten die beiden Filmemacher bereits ihren späteren Cannes-Film im Kopf.

Das Konzept des Quadrats: Ein Ort, an dem man füreinander sorgt. Bild: zvg
Das Konzept des «Square» ist ziemlich klar: In der Stadt wird auf einem öffentlichen Platz ein Viereck eingerichtet, das so einfach funktionieren soll wie ein Zebrastreifen. Innerhalb des Vierecks haben alle die gleichen Rechte und Pflichten. Wer Hilfe braucht, steht hinein. Die Passanten sind aufgefordert, dem Viereck-Mensch zu helfen oder zumindest zu versuchen, ihm Hilfe angedeihen zu lassen. Die Installation war begleitet von einer Ausstellung im Museum Vandalorum, das recht idyllisch aussieht und offensichtlich gut besucht ist.

Kunst- und Designcenter Vandalorum in Värnamo, Schweden. Bild: visitsmaland
An der Ausstellung 2015 gab es diverse Interaktionen mit den Besuchern. Eine ging so: Man fragte einen Besucher, ob er den anderen Menschen traue. Die meisten sagten natürlich ja – und hatten Pech. Denn darauf wurden ihnen das Handy und die Börse abgenommen und auf eine unbewachte Bank gelegt. Anschliessend liess man sie die Ausstellung schauen. Natürlich machten sich die Besucher Sorgen um ihre Sachen, und jeder Gedanke an das diebstahlgefährdete Portemonnaie und das Telefon brachte ihnen die kleine Lüge zu Bewusstsein – denn trauten sie den Menschen wirklich?

Vielleicht ein Einfall zu viel? Der obligate Kunstwitz von der Putzequipe, die Kunst aufräumt, weil sie sie für Dreck hält, fehlt nicht in «The Square». Bild: zvg
Im Film, sagt Matthias, wimmelt es von Einfällen wie diesen, und manche weisen ins Nichts – das hat unseren Filmkritiker zunächst verwirrt, und dann hat es ihm sogar gefallen, weil der Film dadurch nicht so steril wirkt. Immerhin hat die Geschichte über die Verwicklungen des Soziallebens die Cannes-Jury unter Vorsitz von Pedro Almodovar so weit überzeugt, dass es für den Film die erste Goldene Palme für Schweden gab. Und das will etwas heissen, schliesslich gab es Cannes bereits, als Ingmar Bergman seine Meisterwerke schuf.

Das sogenannte Konformitätsexperiment von Asch, bei der ersten Durchführung 1951. Bild: Wikipedia
Ich habe inzwischen ein Interview mit Ruben Östlund auf Arte gesehen, in dem er erzählt, dass es seine Mutter war, die die Faszination für solche kruden sozialen Experimente bei ihm geweckt hat. Diese war nämlich Lehrerin in Schweden und machte mit ihren Knirpsen das sogenannte Solomon Asch Conformity Experiment. 1951 vom Psychologen Solomon Asch erstmals veröffentlicht, zeigt der Versuch, wie Gruppendruck eine Person beeinflussen kann. Das Experiment geht so: Man zeigt einer Gruppe Jugendlicher eine Linie, die dann mit drei weiteren Linien verglichen werden soll. Die Probanden sollen entscheiden, welche der drei Linien gleich lang wie die erste ist.
Es zeigt sich: Das Augenmass des Einzelnen ist an sich intakt. Also sagen die Probanden zunächst, wie es wirklich ist. Doch dann stellt sich heraus, dass die meisten aus der Gruppe anders entschieden haben. Der Trick dabei: Die restlichen Gruppenmitglieder sind Komplizen des Untersuchungsleiters. Und siehe da – der Proband schwenkt um. Anstatt den eigenen Augen traut er dem Urteil der Mehrheit.

Die Schauspielerin Elisabeth Moss (die Texterin Peggy aus der populären TV-Serie «Mad Men») darf sich im Film mit dem Protagonisten (Claes Bang) um ein gebrauchtes Kondom streiten. Bild: zvg
Wie lächerlich also ist die zeitgenössische Kunst? Die richtige Antwort ist: sehr – und gar nicht. Die Goldene Palme in Cannes bekam der Schwede jedenfalls nicht, weil er sich über die Kunst lustig machte. Sondern dafür, dass er inmitten dieser Absurdität, die sich Wirklichkeit nennt, nach den Spuren der authentischen Menschlichkeit suchte.
Ich glaube nicht, dass man “die Kunst” lächerlich findet, sondern eher das elitäre Gehabe eines Zirkels, der mit einen Selbstverständnis die Deutungshoheit darüber verlangt, was Kunst ist und was nicht, das schon fast weh tut.
Wikipedia (jaja, ich weiss, für einen Prolo wie mich aber völlig ausreichend):
“Seit der Aufklärung [versteht man] unter Kunst vor allem die Ausdrucksformen der Schönen Künste:
– Bildende Kunst
– Musik
– Literatur
– Darstellende Kunst”
Wenn die Schreibende also implizit den 3 letztgenannten Gattungen den künstlerischen Aspekt abspricht, wen wundert es dann, dass man die selbsternannte (bildende) “Kunstszene” als abgehoben und narzisstisch wahrgenommen…
Na, na, na, von wegen Absprechen, lieber Leser Zuercher, i wo. Habe einfach “bildende” vor Kunst weggelassen, da es umständlich klingt.
Eigentlich sonnenklar, wie es gemeint ist – nämlich sicher nicht als ein Angriff auf andere Künste. Schöne Pfingsten, wünscht ewh
Kunst an sich würde ich nicht als lächerlich bezeichnen, hingegen der soziale Faktor zum Teil schon, d.h. ich meine den oberen Bereich des Kunstbetriebs, den sogenannten Bluechip-Bereich. Es gibt beispielsweise Künstler/innen, die sind knapp 40 und haben bereits 250 oder mehr Ausstellungen gemacht. Da fragt man sich, was wollen solche Menschen wem beweisen? Und dann braucht man ja Big-Data-Maschinen, um die einzelne Werke in so einem Wust noch zu finden und KI, um sie zu bewerten. Oder Abramovic, Koons usw., Celebrity usw. Das ist eher real gewordenes “Gilbert&George”, und weist eher auf ein kulturelles Defizit, dass aber gar nicht bewusst ist, eine neurotische Ersatzhandlung.
Filme über die Kunst gibt es nur wenige, meistens sind es Biografien, manchmal geht es um einzelne Werke oder Kunstformen.
Und fast immer sind sie schlecht. Aber ich lasse mich gerne auf noch einen Versuch ein.
Ein Individuum kann von mir aus “Kunst” frei definieren. Aber es gibt eine globale Betrachtung in der praktisch alles was explizit als Kunst durchgehen soll, eben genau dies nicht ist. Kunst ist immer [sic!] das Ergebnis eines kreativen Prozesses. Was kreativ ist und was nicht entscheidend jeder für sich aber die Entscheidung gilt auch nur denjenigen. Wenn jemand in die Ecke pinkelt und ein anderer sagt, es wäre Kunst, dann gilt dies höchstens für ihn und nicht “allgemein”.
Über die Qualität des Prozesses kann sehr wohl mit definierten Parametern abgestimmt und Kunst somit als solche identifiziert werden. Danke für die Liste. Damit weis ich, was ich auf keinen Fall sehen muss.
Kunst ist das, was von jenen als solche definiert worden ist, die Kunst verkaufen.
Filme über Kunst oder Künstler (und es gibt ihrer sehr viele, allein diesen Frühling kamen mindestens 12 ins Kino)…
Frau Hess, bitte geben sie uns die Liste… bitte…
Zum Beispiel diese:
Christoph Schwochows “Paula” (über Modersohn-Becker)
Corinna Belz’ “Kunst keine Kunst” (über Hans-Peter Feldmann) von ihr früher: “Gerhard Richter Painting”
Andres Veiels “Beuys”
Stanley Tuccis “Final Portrait” (über Alberto Giacometti)
Bald kommt: “Loving Vincent” Animationsfilm über das Leben von Van Gogh
Dieter Berners “Egon Schiele. Tod und das Mädchen”
Nicola Graefs “Neo Rauch – Gefährten und Begleiter”
„Mein Leben mit Cézanne“, Regie Danièle Thompson,
Lopez-Linares, “The Garden of Dreams” (über Hieronymus Bosch)
“Boticelli Inferno” von Ralph Loop kommt bald
Danièle Thompson “Mein Leben mit Cézanne”
usw usf
Vielen Dank!
Und im Moment auch in den Kinos von Frauke Knappke “Bunch of kunst”…
Sleaford Mods!
Kunst kommt – für mich – von Können. Schaue ich mir die Bilder alter Meister an muss ich sagen, das war echte Kunst. wie konnte man sowas überhaupt malen. Unglaublich. Oder die Statuen von Michelangelo. Wie hat man das damals so hinbekommen ?
Heute spricht mich wenig an. Es sind vorwiegend lustige Ideen, die als Kunst stilisiert werden. Man denke da nur an die Butter in der Ecke von Beus.
Mir geht es ähnlich. Manchmal finde ich das Konzept, die Idee oder die Aussage noch spannend – aber dann ist das ganze sehr oft handwerklich schlecht bis stümperhaft gelöst…. Gut bei Butter braucht es jetzt nicht viel Geschick…
wenn man keine Ahnung hat, sollte man sich auch mit Kommentaren zurückhalten. Das ist zum Beispiel eine Kunst!
Gehe mit Ihnen einig – Kunst kommt von Können. Allerdings heisst für mich Können nicht nur etwas “richtig” oder “schön” Malen zu können. Können ist auch, eine neue Bildsprache zu entwickeln. Das Können, einen eigenen Stil zu haben. Auch abstrackte Kunst kann “gekonnt” sein. Auch ein Hearing ist ein Könner, weil er einen unverwechselbaren, neuen, eigenen Stil entwickelt hat. Was ich aber auch nicht leiden kann ist das andere für Dumm verkaufen wollen. Die, deren Können sich einzig daran zeigt, jeden Mist verkaufen zu können, weil sie immer einen Dummen finden, der – um ja nicht als Kunstbanause stigmatisiert zu werden – jeden Quatsch gut findet. Beus ist da ein gutes Beispiel. Oder…