Bergpredigt, radikal

Ewa Hess am Mittwoch den 1. Februar 2017

Intelligenz! Klarsicht! Unterscheidungsvermögen! Vernetztes Denken! Dialektisches Verständnis für Widersprüche! Liebe Leute, dieses 2017 fordert uns einiges ab. Dabei sind wir doch «only humans»! Vergeblich warten wir auf diese künstlichen Intelligenzen (AI), die uns bei der Bewältigung der Hypermodernität zur Seite stehen könnten – wenn sie denn endlich einsatzbereit wären. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns selber schlauzumachen. Zum Glück trifft sich zurzeit die Hautevolee des avantgardistischen Denkens in den Schweizer Bergen. Hier ein Bericht vom Olymp.

Was: Art Summit Verbier, 20. und 21. Januar 2017, und Engadin Art Talks, Zuoz, 28. und 29. Januar 2017

Links: Die Organisatoren der Engadin Art Talks in Zuoz: Philip Ursprung, Bice Curiger, Hans Ulrich Obrist sowie die Gründerin Cristina Bechtler. Rechts: Das Team des Art Summit in Verbier: Beatrix Ruf, Prinz Constantijn von Oranien-Nassau und Rem Koolhaas. (Bilder EAT/Hana/Jacobovitz)

Die Ankunft der künstlichen Intelligenz mag zwar auf sich warten lassen, ein vorherrschendes Gesprächsthema ist sie bereits jetzt. Sie war es in Verbier vor einer Woche und auch letztes Wochenende in Zuoz. Ich spreche von Art Summit und von Engadin Art Talks. Beide Veranstaltungen haben ein ähnliches Profil: Man trifft sich in den Bergen nach dem Vorbild des WEF in Davos und diskutiert interdisziplinär dringende Zeitfragen. Nur in Davos geht es um die Wirtschaft und die Politik. In Zuoz und Verbier um noch Wichtigeres, nämlich um die Kultur und die Wissenschaft (also um die Werte, welche jedem Handeln als Grundlage dienen sollten).

Die Redner: Architekt Rem Koolhaas (Verbier, links) und Künstler Heinz Mack (Zuoz).

Das vorgegebene Thema in Verbier war die «Grösse». In Zuoz gab man die Parole «Wüste und Eis» aus.  Doch an beiden Talks ging es um erstaunlich verwandte Themen (siehe unten). Kunststück, die Konferenz in Verbier stand unter der geistigen Oberaufsicht von Beatrix Ruf, hierzulande gut bekannt als langjährige Direktorin der Kunsthalle Zürich (jetzt Chefin des Stedelijk Museum in Amsterdam), und diese war bis vor kurzem Mitstreiterin im Team Zuoz. Die Zuozer Kuratorengruppe um die Gründerin Cristina Bechtler besteht aus dem einflussreichen Serpentine-Chef Hans Ulrich Obrist, dem neuen Kunsthalle-Zürich-Leiter Daniel Baumann und dem ETH-Professor Philip Ursprung  sowie (neu) der Biennale-Direktorin und «Parkett»-Gründerin Bice Curiger.

E.A.T. Zuoz: Cristina Bechtler begrüsst, Hans Ulrich Obrist und Daniel Baumann besprechen.

Liebe Leserin und lieber Leser von Private View, ich habe als eure Berichterstatterin an beiden Wochenenden die Ohren gespitzt, drei dicke Hefte mit Notizen voll geschrieben und präsentiere hier einige Begriffe, die mir zentral vorkommen.

Die Wüste.

Wir sprechen im Alltag ununterbrochen von den Städten, von ihrer Entwicklung, ihrer Anziehungskraft, dabei sind Symptome unserer Zeit dort zu finden, wo niemand hinschaut – in der Wüste. Sie stand bei mehreren Vorträgen im Zentrum der Überlegungen. Denn die Wüste ist kein «grosses Nichts», sondern ein umkämpftes geopolitisches Territorium, darüber waren sich die Redner einig. «Der Anschein des Nichts wird hergestellt, um Spuren zu verwischen», sagte die US-Kunsthistorikerin Emily Scott in ihrem Vortrag in Zuoz und erinnerte an experimentelle militärische Missionen, welche meist abseits der Aufmerksamkeit stattfanden und immer noch stattfinden.

Die Wolke ist keine Wolke: Googles Serverfarm in Iowa.

Rem Koolhaas seinerseits erzählte in Verbier von den monströsen Serverfarmen – die stehen dort, wo man nicht hinschaut, also in der Wüste. Sie sind die Kehrseite unserer digitalen Mobilität, ein gigantisches Back-up der «Wolke» (die Wolke ist eben keine Wolke, sondern ein schweres, grosses Ungetüm). Ebenfalls in der Wüste war der Basler Architekt Manuel Herz (Zuoz) tätig. Er befreundete sich dort mit dem Volk der Sahrawis, das der Besetzung der Westsahara durch Marokko weichen musste. Statt elender Flüchtlinge in einem Zeltlager traf er ein hoch diszipliniertes und gut organisiertes Volk, welches seinen temporären Status lediglich aus Protest nicht aufgibt.

Fazit: Wo angeblich «nichts» ist, ist erst recht etwas.

Nicht nur Kinsthistorikerin, sondern auch Rangerin: Emily Scott. Architekt/Künstler: Manuel Herz.

Die Spuren.

Wir sind endgültig im Anthropozän angelangt – in einem Zeitalter, in dem der Mensch das gesamte Ökosystem unseres Planeten tiefgreifend verändert hat. Es ist, als ob wir erst jetzt, augenreibend, die wahre Tragweite unserer Taten erkennen. Künstler spiegeln diese Haltung – etwa, wenn der Westschweizer Künstler Julian Charrière nach Spuren vergangener Nukleartests in der Wüste von Kasachstan oder auf dem Bikini-Atoll sucht.

Der Westschweizer Künstler Julian Charrière (in der Zuozer Galerie Tschudi, wo er gerade eine sehr schöne Ausstellung hat) und die von ihm auf dem Bikini-Atoll gefundenen mutierten Kokosnüsse, wegen der radioaktiven Verseuchung unfruchtbar. «Sterile Penisse», wie sie der Künstler schmunzelnd nennt.

Der indisch-amerikanische Fotograf (und Physiker) Subhankar Banerjee (Zuoz) dokumentiert lieber mit seinen wegweisenden Alaska-Fotos das Vorhandensein dichter Biotope in der vermeintlichen Eiswüste. Er gerät damit – unbeabsichtigt – in einen politischen Konflikt mit den Ölgesellschaften, welche die Zeichen der Zeit nicht erkennen und nach neuen Bohrungen gieren. Der deutsche Künstler Tino Sehgal (Verbier) findet sogar im menschlichen Verhalten Spuren. Der moderne Mensch suche immer noch nach einem Äquivalent des Stammestanzes am Feuer, sagt er, nach einem Ritual, mit dem er sich der Grundwerte seiner Gesellschaft versichere.

Fazit: Der Weg zum Neuen führt durch eine Neuinterpretation des Alten.

Subhankar Banerjee dokumentiert mit seinen Fotos u.a. die Wanderungen der Karibus in Alaska.

Die (Un)sichtbarkeit.

Kaum war die Verschiebung von analog zu digital vollzogen, wurde unsere Kultur geflutet: Bilder, Bilder, Bilder. Inmitten dieser visuellen Kakofonie sind sowohl die Sichtbarkeit wie die Unsichtbarkeit problematisch. Darüber hat man in Verbier debattiert. Wie gross muss ein Museum sein, damit es global sichtbar wird? (Sehr gross.) Darüber sprachen Rem Koolhaas und auch Tino Sehgal.

Die deutsche Künstlerin Hito Steyerl (die leider nicht nach Zuoz kam, weil sie Grippe hatte) breitet in einem Künstlerfilm die Techniken des visuellen Verschwindens aus. Darin springen etwa glückliche Pixel in eine niedrigere Auflösung (sehr lustig). Emily Scott erzählt später von den Techniken der Rebellen aller politischer Couleur, zu Camouflagezwecken ihre Körpertemperatur herunterzukühlen, um nicht von den Erkennungsdronen, die menschliche Wärme registrieren, erkannt zu werden.

Fazit: In der modernen Welt ist die Sichtbarkeit totalitär, die Unsichtbarkeit aber subversiv.

Eine Szene aus Hito Steyerls Film «How Not to Be Seen»: Pixel verstecken sich in einer niedrigeren Auflösung.

 

Die Glaziologie.

Die Wissenschaft von den Gletschern, vertreten in Zuoz durch die fotografierende Wissenschafterin Christine Levy, wartet mit der dem neuen Zeitalter angepassten Perspektive auf. Einer «von sehr hoch oben», weil die Gletscher ja nur aus der luftigen Höhe so fotografiert werden können, dass man die Veränderungen erkennt.

Auch die glaziologische Zeitperspektive hat es in sich. Levy stellte fest, wie schnell die Gletscher schmelzen, erzählte, wie sie sich teilen, wie sie löchrig werden und Grotten bilden, bedauerte als Engadinerin auch ein bisschen, in Zukunft keine weissen Bergspitzen mehr den Touristen anbieten zu können. Und fügte dann mit echt glazialer Langmut hinzu, dass das eigentlich gar nicht so schlimm sei, weil ja in 10’000 Jahren die nächste Eiszeit komme, in der die Gletscher wieder nachwachsen würden.

Fazit: Keep cool. Auch wenn wir die Atmosphäre nicht erwärmen würden, blieben wir eine erdgeschichtliche Anekdote.

Dr. Christine Levy betrachtet das Schrumpfen des Morteratsch-Gletschers.

Radical Hope.

Sowohl der hochkomplex denkende Zeitanalytiker Benjamin H. Bratton wie auch der gnadenlose Weltgestalter Rem Koolhaas (beide in Verbier) machten auf ihre eiskalte Art keinen Hehl daraus, dass sie zurzeit Umschichtungen unserer Welt feststellen (neue, digital diktierte Weltordnung, das Aufkommen selbst lernender Maschinen etc.), die schon bald die Rolle des Menschen in seinem eigenen Universum radikal infrage stellen werden.

Der interdisziplinäre Künstler Subhankar Banerjee brachte die Haltung, die eine solche Situation erfordert, auf die Formel Radical Hope. Der Begriff geht auf den US-Denker Jonathan Lear zurück, der in seinem schmalen Büchlein gleichen Namens die Frage stellte: Welche geistige Haltung überlebt einen Kulturuntergang? Er bezieht sich in seinem Aufsatz auf die Erzählung des letzten grossen Indianerhäuptlings Plenty Coups, der berichtet, wie mit dem Verschwinden der Büffel «die Herzen seiner Leute zu Boden fielen und nicht mehr erhoben werden konnten». Lear zeigt auf, dass keine Kultur ihren eigenen Untergang vorhersehen kann – darin liegt ihre systemische Blindheit. Wir haben also keine ererbten oder angelernten Muster, wie wir uns in einem solchen Fall verhalten sollen.

Es bleibt uns nur eins, und das ist hier auch das letzte Fazit: Die undenkbare, radikale Hoffnung, dass das Gute unsere Kultur überlebt.

Auf dem Berg, dennoch ganz im Innern: Die Teilnehmer der Art Talks im Engadin. Fotos: E.A.T./Alexander Hana

3 Kommentare zu “Bergpredigt, radikal”

  1. hans sagt:

    Es stört mich nicht, wenn Eliten, hier einige Eliten des westlichen Kunstbetriebs, über sich selber nachdenken, über ihre Welt, die Teil dieser ganzen Welt ist. Die Gesellschaft ist vielfältig, und so gibt es noch viele andere Gesellschaftsteile. Man darf nicht vergessen, gerade in einer kapitalistischen Gesellschaft gibt es beispielsweise nun mal immer Klassen. Aus solchem Grund ist es so, dass alle Teile der Gesellschaft, also die Eliten und alle anderen Teile, sich in einem demokratischen gleichberechtigten Prozess durch Abstimmungen entscheiden, was man als Gesellschaft nun machen möchte. Deswegen finde ich die liberale und soziale rechtsstaatliche Demokratie sehr gut.

  2. Monique Schweizer sagt:

    “Zum Glück trifft sich zurzeit die Hautevolee des avantgardistischen Denkens in den Schweizer Bergen.”
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    Das sind doch die, die vom gemeinen Wahlvolk immer weniger verstanden werden. Vermutlich ist das Anthropozän so schnell wieder vergangen wie es erst kürzlich ins Leben gerufen wurde und wir sind spätestens seit Brexit und Trump mittlerweile schon im tiefsten Ochlozän, dem Zeitalter in dem ein konsumgetriebener, ignoranter und egoistischer Pöbel trotz besserem vorhandenen Wissen unsere Lebensgrundlagen rücksichts- und hemmungslos ausbeutet, vergiftet, aufheizt und schlussendlich noch ganz an die Wand fährt!
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    Proscht Nägeli, aber schön hat die Hautevolee wieder mal drüber geredet!

    • Ewa Hess sagt:

      Liebe Leserin Monique, ich verstehe Ihren Unmut, angesichts der komplexen Situation der Weltpolitik, der frau/man sich ohnmächtig ausgesetzt fühlt. Aber eben – komplex ist diese Welt schon geworden, und manchmal muss man beim Nachdenken über die Situation bzw beim Erahnen der künftigen Szenarien schon auf eine höhere Abstraktionsebene steigen. Danach muss der Prozess der Evaluation und der Vermittlung einsetzen: Stimmen die Szenarien? Zu welcher Teilnahme rufen sie uns auf? Im Sinne einer solchen Weiterführung und Vermittlung habe ich mir erlaubt, die Quintessenz der Tagung zusammenzufassen und sie Ihnen und anderen geneigten Leserinnen und Lesern in Form einer Online-Kolumne zu unterbreiten. Ich hoffe trotz Ihres Unmuts, dass der eine oder andere Ansatz des Nachdenkens Ihnen neu oder zumindest weiterführend vorgekommen ist. Man darf doch nicht resignieren, wenn – wie sie schreiben – die Lebensgrundlagen in Gefahr geraten. Sie stören sich an dem zugegebenermassen etwas altmodischen Wort Hautevolée, aber bedenken Sie bitte, das heisst wörtlich nichts anderes, als dass man versucht, eine Zeit lang auf eine etwas über der Sache gelegene Flughöhe zu gelangen. Damit man besser sieht, wohin man steuern soll. Mit bestem Gruss, die Chronistin, EWH