Stolpernd und irrend

Ewa Hess am Dienstag den 1. November 2016

Der Ruf aus Genf klang geheimnisvoll – man solle sich doch zu einem «Library Talk» im Palais des Nations einfinden. Bibliotheksgeflüster? Am Genfer Sitz der UNO? Was konnte das sein? Die Neugierde allein befahl schon hinzugehen.

Was: UN Library Talk in Geneva
Wann: Freitag, 21.10., abends
Wo: Room XII, Building A, 3rd Floor, Palais des Nations

Links: Palais des Nations, erbaut als Sitz des Völkerbundes, heute das Zuhause der UNO in Genf (Bild: Hess), Rechts: Das «Pantheon der Bücher», ein riesiges Gebäude aus verbotetenen Büchern, von der argentinischen Künstlerin Marta Minujin schon 1973 in Argentinien errichtet, jetzt noch grösser für die documenta 14 in Kassel geplant

Links: Palais des Nations, das Zuhause der UNO in Genf (dieses und weitere Bilder, falls nicht anders erwähnt: ewh). Rechts: Der «Parthenon der Bücher», ein riesiges Gebäude aus verbotenen Büchern, von der Künstlerin Marta Minujin schon einmal 1973 in Argentinien errichtet (Bild: Documenta 14), jetzt noch grösser für Kassel geplant.

Aber auch die Namen der Beteiligten lockten. Adelina von Fürstenberg hat eingeladen. Die Genf-Armenierin und Gründerin der Organisation Art for the World steht bekanntlich für die allermenschlichste Kunstauffassung. Sie hat den Künstler Barthélémy Toguo eingeladen – er gibt alles, was er mit seiner Kunst verdient, an den Bau eines Kulturzentrums in seiner Heimat Kamerun. Sie hat den Leiter der brasilianischen Kunstbehörde Sesc eingeladen, Professor Danilo Santos de Miranda. Und den geheimnisumwitterten Polen Adam Szymczyk, dessen zweigeteilte Documenta 14 bald in Athen (April 17) und dann auch in Kassel (Juni 17) aufmacht. Auch Pro-Helvetia-Präsident Charles Beer hat das Wort ergriffen. Kurz und gut, es war hochkarätig, im allerbesten Sinn.

Bibliotheks-Geflüster: der kamerunische Künstler Barthélémy Toguo, die Talk-Organisatorin Adelina von Fürstenberg, Sesc-Chef Professor Danilo Santos de Miranda (v. l.).

Zuerst ein Geständnis: So ein Gang durch die marmorgesäumten Korridore der UNO wirkt – ob man es wahrhaben will oder nicht – erhebend. Sogar der Kulturbeauftragte der Stadt Basel, Philippe Bischof, einer der freundlichsten Kulturbeamten des Landes, sah auf einmal ehrfürchtig feierlich aus. Schliesslich standen wir da an jenem Ort, wo einst die Völker beschlossen haben, zum Wohle des Planeten Friedenspläne zu schmieden. Es klappte nicht, der Zweite Weltkrieg ist trotzdem ausgebrochen. Die Nachfolgerin des damaligen Völkerbundes, die heutige UNO, schafft es ebenfalls nicht immer, alle Krisen zu verhindern.

Wie im Film (könnte auch ein Kubrick-Schocker sein): die Korridore des Palais des Nations beim Einnachten

Wie im Film: die Korridore des Palais des Nations beim Einnachten. Links Michela Negrini (dipcontemporaryart Lugano), rechts Philippe Bischof, Kulturchef der Stadt Basel.

Charles Beer, der Chef der Pro Helvetia, definierte die Intoleranz als eine Art Identitäts-Krampf. Weil wir nicht mehr wissen, wer wir sind, verkrampft sich etwas in uns, was sich dann als Fremdenhass äussert. Das Rezept der Pro Helvetia: kulturelle Massage, also Transfer unserer Kultur zu den Fremden und der fremden Kultur zu uns. Stetig und sanft angewendet, verhindert es die gefährlichsten Krampfattacken, glaubt Beer.

Das Gemälde im Saal 12 der UNO, wo das Library-Talk stattfand, stammt noch vom alten Völkerbundpalast her, gemalt hat es der italienische Maler und Journalist

Der Bau eines Gebäudes zum Wohle des Planeten (links): Das Gemälde im Saal 12 der UNO, wo der «Library Talk» stattfand, stammt noch vom alten Völkerbundpalast her, gemalt hat es der italienische Maler und Journalist Massimo Campigli (1895–1971). Rechts: Pro-Helvetia-Präsident Charles Beer.

Barthélémy Toguo zeigte sich als ein äusserst sympathischer Kerl, doch so richtig erstaunt hat uns erst der brasilianische Professor Danilo Santos de Miranda. Der Mann ist Anthropologe und verteilt seit bald zwanzig Jahren die immensen Kulturgelder der Sesc. Es handelt sich dabei um eine vor 48 Jahren eingeführte Lohnsteuer, die von den Firmen Brasiliens erhoben wird und der Kultur zufliesst, 1,5 Prozent von der Lohnsumme. So etwas wie Migros Kulturprozent, nur dass es jede Firma entrichten muss. Da es der brasilianischen Wirtschaft gut geht, hat die Sesc immer mehr Geld. Eigentlich schwimmt sie im Geld: 600 Millionen Dollar im Jahr. Die Organisation leistet aber auch Erstaunliches, und zur Kultur gehören auch Schwimmbäder, Medizin, Kreativkurse – ein sehr inklusives Konzept.

Documenta-Chef Adam Szymczyk verrät uns seine Pläne für die kommende Documenta (links, Photo Bischof), auch Fluchtweg-signalisation entbehrt im UNO-Gebäude nicht einer gewissen Dramatik.

Documenta-Chef Adam Szymczyk verrät uns seine Pläne für die kommende Documenta (links, Photo Bischof); auch Fluchtweg-Signalisation entbehrt im UNO-Gebäude nicht einer gewissen Dramatik.

Inklusivität fordert auch die Documenta 14. Die Einbeziehung des Publikums ist die lauteste Parole des kuratorialen Teams um den Ex-Kunsthalle-Basel-Chef Adam Szymczyk. Der schweigsame Pole ist ein Superstar unter den Kuratoren (gerade Nr. 2 der ArtReview Power List geworden). Die «New York Times» hat einst behauptet, es liege bestimmt auch an seinem coolen Popstar-Aussehen. Hat etwas! Gross, hager, das dreieckige Katzengesicht immer hinter dem Stirnfransen-Vorhang versteckt – Adam Szymczyk ist schon eine Erscheinung wie nicht aus dieser Welt. Er spricht gerne in gelehrten Rätseln, und das tat er auch in Genf; doch ich werde übersetzen.

Enigmatische Blicke, komplexe Konzepte: Adam Szymczyk (hier nach dem Talk mit Assistent Krzysztof Kosciuczuk) lässt sich nicht trivialisieren. Rechts immer noch die monumentale signaletik der UNO.

Enigmatische Blicke, komplexe Konzepte: Adam Szymczyk (hier nach dem Talk mit dem Assistenten Krzysztof Kosciuczuk) lässt sich nicht trivialisieren. Rechts wieder die monumentale Signaletik der UNO.

Also, liebe Leserinnen und Leser der Private View: Hier kommt eine Vorschau auf die Documenta 14 – ein kleines Glossar – für die neugierigen Early Adopters.

  1. Wir werden rückwärtsschauen. Szymczyks Theorie geht so: Die Geschichte Europas ist nach dem Zweiten Weltkrieg falsch gelaufen (Stichwort: Marshallplan). Darum sind wir an dem seelenlosen, profitorientierten und unempathischen Ort gelandet, wo wir jetzt leben. Es gab aber Ansätze einer besseren Entwicklung, man hat sie nur damals übersehen. Es ist aber noch nicht zu spät!
  2. Wir werden in die Pflicht genommen. Passive Kunstbeschauer will Szymczyk weder in Kassel noch in Athen dulden. Man muss sich mit den Kunstwerken und den Prozessen, die zu ihrer Entstehung geführt haben (sie sind bereits im Gange), intensiv auseinandersetzen. An die Arbeit, meine Damen und Herren!
  3. Die Sprache wird im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Einerseits in Form von diversen Urkunden (schliesslich heisst es ja Documenta), etwa Rerum Novarum, die päpstliche Enzyklika von 1891, welche die Paramater der katholischen Soziallehre definierte, oder die Menschenrechtserklärung von 1948 oder der Code noir des französischen Königs Louis XIV von 1658, der die Bedingungen der Sklaverei festlegte. Aber auch als «Sprache der Unmenschlichkeit», so wie sie der deutsche Schriftsteller Viktor Klemperer in seinem Werk «Lingua Tertii Imperii (1947)» am Beispiel der Sprache der Nationalsozialisten analysierte. 
  4. Einiges wird sich um die «griechischen Probleme» drehen, Stichwort monetäre Systeme. Es wird der Vergangenheit des Euro nachrecherchiert, bis zur «Konklave von Rothwesten», an der ein Ami namens Edward A. Tenenbaum den Deutschen die Währungsreform diktiert hat und den harten Schnitt von der Reichsmark zur Bundesmark befahl. 
  5. Alles in allem eine sehr politische Documenta. Das Werk «Parthenon der Bücher» der argentinischen Künstlerin Marta Minujin, schon jetzt im Entstehen begriffen, wird bestimmt spektakulär! Sie baut den Parthenon in Kassel nach, im Originalformat und aus Büchern, die irgendwo auf der Welt verboten sind. Sie hat es schon einmal gemacht in ihrer Heimat Argentinien, als die Militärjunta-Herrschaft fertig war.
  6. Und hier noch eine kleine Liste mit Namen der Cicerones, also der Figuren, die uns durch diese Documenta führen werden. Wie sagte es Szymczyk so schön? «These and other figures help us to navigate the darkness and complexity of experience we are immersed in as we move on, stumbling and erring.» (Diese Figuren helfen uns, die komplexe Dunkelheit unserer Erfahrung zu durchqueren, wenn wir uns, stolpernd und irrend, vorwärtsbewegen …)
Szymczyks Visionäre: (Obere Reihe von links) Schweizer Architekt Lucius Burckhardt, griechischer Komponist Janni Christou , deutscher Schriftsteller Viktor Klemperer, (untere Reihe von links) Brasilianischer Theatermacher Augusto Boal, Mexikanischer Dichter Ulises Carrion, polnischer Architekt Oskar Hansen

Szymczyks Visionäre: (obere Reihe von l.) Schweizer Architekt Lucius Burckhardt, griechischer Komponist Jani Christou, deutscher Schriftsteller Viktor Klemperer, (untere Reihe von links) brasilianischer Theatermacher Augusto Boal, mexikanischer Dichter Ulises Carrion, polnischer Architekt Oskar Hansen (Bildernachweis: SRF, Pemptousia, «Tagesspiegel», Haikudeck, «Bombmagazine», Ciolek/Fotonowa)

Oskar Hansen (1922–2005), polnisch-norwegischer Architekt, mit einer Theorie der «offenen Form», welche die Subjektivität des Bauenden ausgleicht.

Augusto Boal (1931–2009, brasilianischer Theaterautor mit der Theorie des «Theaters der Unterdrückten», einer Art theatralischer Aktivierungstherapie für Bürger.

Ulises Carrion (1941–1989), mexikanischer Dichter, der die Zeile gedichtet hat über «das Blut, welches aus der Wunde fliesst, welche die Sprache dem Mann zugefügt hat» (und der Frau auch, fügt Szymczyk, immer politisch korrekt, dazu).

Viktor Klemperer, der kluge Holocaust-Überlebende mit seiner Detektivarbeit über die Sprache der Unmenschen.

Lucius Burckhardt, der Basler Architekt, den bereits Hans Ulrich Obrist als den Patron der letzten Architekturbiennale sah – er lehrte an der Universität Kassel und erfand die Wissenschaft der Promenadologie, eines sehenden und erkennenden Spaziergangs.

Jani Christou, der griechische Komponist, Freund von Mikis Theodorakis, der jung starb (in einem Unfall) und das sogenannte Continuum erfand, einen Versuch der orchestralen Improvisation.

7 Kommentare zu “Stolpernd und irrend”

  1. Fritz Letsch sagt:

    Herzlichen Dank für die Vorausschau:

    Erstaunlich, dass die deutsche Presse bisher anscheinend dazu schweigt, und ich fürchte, dass als nächstes die dümmlichen Bemerkungen zu Griechenland kommen, denn die Banken-Rettung und die Co-Finanzierung der Militär-Ausstattung wurde hierzulande als “Zuschuss” verkauft, und dass es eine lebendige Kunst-Szene dort gibt, passt leider nicht in unsere hiesige Helfer-Rolle.

    Die Reihe der Visionäre kann sehr spannend werden … und uns etwas weiter denken lassen, als das derzeitige Rückwärts.

    Der Völkerbund und die Grundlagen der Menschenrechte machen mir Hoffnung!

  2. Leser sagt:

    Wenn sich die mehrbesseren auf Kosten der Allgemeinheit treffen (oder woraus finanziert sich denn diese UNO?) um sich mal wieder gegenseitig zu bestätigen.
    Ich denke die UN hätten im Moment wichtigeres zu besprechen…

    • Ewa Hess sagt:

      Na ich weiss nicht, lieber LE-SER, Sie meinen wohl, dass die UN vor allem Krisenherde beseitigen soll? Aber ist eine Prävention nicht besser verwendetes Geld? Kunst und Kreativität helfen nachweislich, Gemeinsinn und Altruismus zu propagieren. Ein Alternativprogramm zu Egoismus, Hass und Intoleranz. Mehr ist eben nicht besser, von wegen Mehrbessere, Besser ist aber oft nicht das, was besser zu sein scheint. Mit Gruss, Private view

  3. Schneider P. sagt:

    Vielen Dank für die gute Einführung.