Fun mit «Hörsoog e Dümüron»

Blog-Redaktion am Mittwoch den 22. Juni 2016

Seit ihrer Eröffnung 2001 führt die Tate Modern in London in ihrer ganz und gar unbritischen Unbescheidenheit das Rudel der neuen Supermuseen an. Und wenn sie ihre spektakuläre Erweiterung ausgerechnet während des VIP-Previews der Art Basel der Presse vorstellt, kann das kein Zufall sein. Vielmehr ist es ein Beweis dafür, dass ein Paradigmawechsel ansteht. Kunst soll der Umarmung des Markts entrissen werden. Wie? «Private View»-Gastautorin Brigitte Ulmer* hat sich am ersten Publikumstag in der neuen Tate umgeschaut. Hier ihr Bericht.

Switch House, die neue Erhöhung der Tate Modern: der Volksmund nennt sie «Gedrehte Zigarette» oder «dekonstruierte Pyramide»

Die neue Erhöhung der Tate Modern: «Eigernordwand», «Gedrehte Zigarette». (Bild: Tate)

Was: Das neue Switch-House der Tate Modern in London
Wann: Freitag, der 17. Juni 2016, erster Tag mit Publikum

Sind Sie schon mal vor einem lebenden Gemälde gestanden, das sie mit den Augen fixierte? Am vergangenen Freitagnachmittag, dem ersten Eröffnungstag der neuen Tate Modern, stand ich in den Gedärmen des neuen «Switch House», den «Tanks», vor dem leibhaftigen «Cargador de Flores», dem Blumenträger von Diego Rivera. Ein Mann im weissen Pullover kauerte auf allen Vieren am Boden, eine Frau balancierte auf seinem Rücken und mimte den Blumenkorb, eine weitere rückt die Last zurecht. Das «Gemälde» kündigte sich praktischerweise gleich selbst an, sonst hätte ich es nicht erkannt, und zwar so, wie es die Buchhalter der Kunstgeschichte lehren: Künstler, Werktitel, Jahrzahl (1930) und in welcher Museumssammlung es sich befindet (Museum of Modern Art San Francisco). Einen Augenblick später formierten sich fünf Männer und Frauen in T-Shirts und Jeans zu Delacroix’ Gemälde «La liberté guidant le peuple». (Die Flachversion hängt im Louvre in Paris).

Eine performance stellt Delacroix’s Gemälde «La liberté guidant le peuple». (Die Flachversion hängt im Louvre in Paris).

Links: Eine Performance stellt Delacroix’ Gemälde «La liberté guidant le peuple» nach. Rechts: Hängende Aluminiumwürste aus Marisa Merz’ Küche. (Bilder: B. Ulmer)

Wie symbolisch! Alexandra Piricis und Manuel Pelmus’ Performance «Public Collection of Modern Art» mimte nämlich gleich die Gesamtstrategie der neuen Tate, die Nicholas Serota etwa so formulierte: Nicht die Kunst, sondern die Menschen sollen im Zentrum stehen. Nicht nur die Kunst-«Produkte», sondern auch Prozesse. Und das, was wir, als Betrachter, mit der Kunst anstellen. Auf gut Deutsch: Partizipation! Interaktion! Das passt auch zu dem Satz, den Yoko Ono prägte, und der irgendwo in einem der vielen Räume an die Wand projiziert wird: «I thought art was a verb, not a noun» (Ich dachte, Kunst sei ein Verb, nicht ein Substantiv).

Das Switch House, im eleganten Strickmuster aus Backsteinen

Das neue Switch House: Aussen ein elegantes Strickmuster aus Backsteinen, drinnen grosszügige Treppen und Flächen.

Wird die Tate, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, ihre Aufgabe nicht nur der Kunstvermittlung und Forschung, sondern auch der aktiven Integration der Besucher wahrnehmen zu wollen, ihrem Anspruch gerecht? Dafür könnte der Tag des ersten Massenandrangs ein erster Gradmesser sein. Ich beobachtete Teenager, die sich in Ricardo Basbaums käfigartigen Behausungen auf Kissen wälzen, ich lausche einem Chor von 500 Hobbysängern, die dutzendfach «Brick Brick Brick» intonierten, ich sehe Kleinkinder in Windeln über Skulpturen wanken, erwachsene Menschen hinter Performern hinterherrennen.

Und ich lausche Frances Morris, der neuen Direktorin der Tate Modern, die den Frauenanteil der Künstlerräume mit einem Schlag auf 50 Prozent erhob. Mit einem weissen T-Shirt des japanischen Kleiderbrands Uniqlo (ein Sponsor) bekleidet, spricht sie vor Louise Bourgeois’ Käfig über ihr Trauma und die tiefe Symbolik ihrer Kunst. Die Message ist klar: Wir wollen nahbar, demokratisch sein. Das regt die Besucher unübersehbar an. Und zwar nicht einfach zum Cüpli-Trinken.

Blick von der Brücke in den Turbinenhalle und die Tanks. Von ferne Ai Wei Weis zusammengeschraubter Baum. «Tree 2010» und die neue Tate-Direktorin im Uniqlo-shirt erklärt persönlich den Besuchern ein Werk von Louise Bourgeois

Links: Blick von der Brücke in die Turbinenhalle und die Tanks. Rechts: Die neue Tate-Direktorin Frances Morris im Uniqlo-Shirt erklärt den Besuchern ein Werk von Louise Bourgeois.

Schon Herzog & de Meurons Neubau zu durchwandeln, aktiviert bei mir mit seinen vollkommen neuartigen Raumerlebnissen Gehirnregionen, von denen ich gar nicht ahnte, dass sie existierten. Das Haus, das schon vor Inbetriebnahme Kosenamen erhielt wie Eigernordwand, gedrehte Zigarette, dekonstruierte Pyramide, wirkt von aussen wie eine Festung.

Doch welche Offenheit herrscht innen! Von den unterirdischen Tanks, wo Performances stattfinden und auch ein labyrinthischer Raum mit dem Achtkanal-Video des preisgekrönten thailändischen Künstlers Apichatpong Weerasethakul aufwartet, zieht einen förmlich ein Sog über die mal weit ausladende spiralförmige, dann schmale Treppe bis in den zehnten Stock, von wo man einen spektakulären Blick über die Stadtlandschaft hat. Dazwischen wartet jedes Stockwerk mit überraschenden Ein- und Ausblicken, und seien es bloss die formvollendeten Bänke aus Gussbeton oder das Licht- und Schattenspiel der Backsteinmuster oder die zwei Brücken hinüber zum «Boiler House». Oder eben diese Treppe: Sie ist eine Skulptur für sich, elegant, generös, raffiniert, Marke «Hörsog e Dümüron», wie die BBC-Kommentarin unser Schweizer Architektenduo nannte.

Licht- und Schattenspiel à la «Hörsög e Dömüron», farbige Installationen, Kinder, die auf Skulpturen mit Puppen spielen

Licht- und Schattenspiel à la «Hörsoog e Dümüron», Installationen zum Mitspielen, Kinder, die auf Skulpturen mit Puppen spielen (es ist Marwan Rechmaouis «Beirut Caoutchouc»).

Stiehlt die Architektur der Kunst die Show, wie im Vorfeld befürchtet wurde? Nicht für mich. Sie ist eine wunderbare, ausladende Bühne für Kunst, die viel, sehr viel Raum beansprucht. In dieser riesigen, in einem Strickkleid aus Backsteinen gestalteten Ausstülpung, die aus der alten Powerstation herauszuwachsen scheint, mit ihrer verwirrenden, schwer zu begreifenden Zickzack-Form, fühlte ich mich wie auf einer nicht enden wollenden Flânerie durch Zeiten (60er-Jahre bis zur Gegenwart) und Geografien (Kunst aus 50 Ländern). Doch im Unterschied zum echten Flâneur wird man immer wieder einmal von seiner beobachtenden Haltung heraus zur Interaktion herausgefordert.

Jeder darf sich amüsieren: Das Publikum kam, machte mit und postete auf Instagram

Museum zum Herumtollen: Das Publikum kam, machte mit und postete auf Instagram.

Ach ja, und die Kunst: Der neuen Direktorin Frances Morris, die unweit der Tate Modern im einst armen Süd-London aufgewachsen ist, ist ein echter Coup gelungen, was die Neuordnung der Sammlungsräume angeht. Im immensen Raum (60 Meter lang!), der dem Thema «Between Object and Architecture» gewidmet ist, findet man neben den üblichen Verdächtigen wie Carl Andre und Donald Judd weniger oder gänzlich Unbekannte: etwa die Schaummaschine des in England lebenden Philippinos David Medalla.

Vor allem aber werden die harten Linien des Macho-Minimalismus gebrochen: Eine Wucht sind Marisa Merz’ von der Decke hängende Aluminiumwürste, die sie einst in ihrer Küche konstruiert hatte, oder der schlaff und weich wirkende Haufen aus Stahl in der Ecke von Lynda Benglis. Werke von Künstlern aus Brasilien, Libanon, Taiwan brechen die Grenzen gegen Osten auf.

Heu-Sammelritual von Ana Lupas

Rumänische Entdeckung: Heu-Sammelritual von Ana Lupas.

In Stockwerk Nummer drei, zum Thema «Performer and Participant», steht man im umwerfenden Raum der Rumänin Ana Lupas, die zwischen 1964 und 2008 zusammen mit den Bewohnerinnen ihres Dorfes ritualartig Heu zu Ringen geformt hat. Ana Lupas … Nie gehört? Ich auch nicht. Oder Suzanne Lacys Quilts, das Produkt einer Kollaboration mit älteren Frauen in Minneapolis. Überwältigende Räume sind Rebecca Horn und Louise Bourgeois gewidmet, sie führen in exzentrische Gegenwelten, auch die Fantasie eines «Museums of Contemporary African Art» von Meschac Gaba aus Benin, mit dem er das Konzept europäischer Museen ironisiert.

Ein Museum im Museum: Louise Bourgeois’ Raum in der neuen Tate Modern.

Ein Museum im Museum: Louise Bourgeois’ Raum in der
neuen Tate Modern.

Und spätestens im Raum des Brasilianers Hélio Oiticica, dem Begründer der Tropicalia-Bewegung, wo er in einer nachgebauten Favela echtes Leben mit Kunst kurzschliesst, wird einem klar: Hier wird der eurozentrische kunsthistorische Kanon radikal über den Haufen geworfen, die Karten neu gemischt. Das ist herrlich erfrischend.

Eine Stadt aus gekochtem Cousous, Kader Attias «Untitled» (Ghardaïa)

Eurozentrischer Kanon adieu: Kader Attias Stadt aus gekochtem Couscous.

Wird das Museum mit zu viel Aktivitätsprogrammen zum Fun-Parcours umgemünzt? Es erstaunt tatsächlich, dass von insgesamt 17 Etagen nur 7 der Kunst gewidmet sind. Der ganze Rest ist für Community-Aktivitäten, zum Durchatmen, Verdauen, Austauschen, Flirten. Aber das alles in Reichweite von Kunst, Kino und toller Architektur: Ist da etwas dagegenzuhalten? Ich finde nicht.

Der Tate-Mastermind Nicholas Serota live und auf einer Karikatur der Financial Times

Der Tate-Mastermind Nicholas Serota live und auf einer Karikatur der «Financial Times». (Bilder: Tate und FT)

Ob die Tate damit ein Statement gegen die Kommerzialisierung der Kunst machen wolle, fragte BBC-Starjournalist Andrew Marr den Tate-Überdirektor Nicholas Serota angesichts der vielen nicht objekthaften Kunst. Der reagierte sanft lächelnd mit Diplomatie. Die Tate Modern wolle, sagte er, alle Formen von Kunst präsentieren. Dass die Eröffnung der neuen Tate auf die Art-Basel-Woche fiel, und die Presse-Preview auf denselben Morgen wie die Art-Basel-Pressekonferenz, kann aber schwerlich ein Zufall sein.

 

DSC_897700* Gastautorin Brigitte Ulmer lebt als freischaffende Kunst- und Kulturjournalistin in London und Zürich. Für die «Bilanz» berichtet sie über Kunst und verantwortet sie das jährliche Künstlerrating.(Bild: Gian Franco Castelberg)

2 Kommentare zu “Fun mit «Hörsoog e Dümüron»”

  1. Max Blatter sagt:

    …nicht.
    Für die Online-Redaktion: Gemäss der Angabe “Zeichen verfügbar” hätte auch das letzte Wort noch Platz haben sollen. Dass es trotzdem abgeschnitten wurde, ist ein Programmfehler – der mir in diesen Blogs übrigens schon früher aufgefallen ist.

  2. Max Blatter sagt:

    Halt! Über folgende Passage bin ich gestolpert und kann nicht einfach in einer Sekunde darüber hinweg gehen:
    “Das passt auch zu dem Satz, den Yoko Ono prägte..: «I thought art was a verb, not a noun» (Ich dachte, Kunst sei ein Verb, nicht ein Substantiv).” Die Frage ist: Kann man diesen Satz einfach so interpretieren, wie es die deutsche Übersetzung suggeriert: für Ono sei in der Kunst die Tätigkeit wichtig, nicht das Produkt? Vielleicht! Aber “art” war ja im mittelalterlichen Englisch tatsächlich ein Verb: “Thou art …” = “You are …”. Als gebildete Frau wusste Ono das bestimmt – sollte ihr diese Mehrdeutigkeit dennoch ungewollt “passiert” sein? Eine gescheite Deutung habe ich…