Der dechiffrierte Ball

Ewa Hess am Dienstag den 16. Februar 2016

Liebe Leute, am Samstag brachte es die kluge Kunsthistorikerin Laurence Frey auf den Punkt. «Ich staune», sagte sie, «offensichtlich haben auch Intellektuelle Lust auf Karneval.» Und ja, tatsächlich. Das sonst in striktes Schwarz gekleidete Publikum kam zum Dada-Ball ins Kunsthaus – und war verkleidet. Was NICHT heisst, dass die in diesen Kreisen so wichtigen Distinktionsmerkmale einfach schwups über Bord geworfen wurden. Nein. Deshalb habe ich hier, und nur für euch, meine lieben Leserinnen und Leser, die knifflige Aufgabe unternommen, den geheimen Code der samstäglichen Dada-Verkleidung zu knacken. Auf, auf, folgt mir zum Dechiffrier-Ball!

Was: Dada-Ball
Wo: Kunsthaus Zürich
Wann: Samstag, 13. Februar 2016

Dadaglobes und hübsche Kisten: Das war der Dadaball

Dadaglobes und hübsche Kisten: Das war der Dada-Ball. Fotos: D. Milnor und E. Hess

Ich muss zuerst etwas beichten: Ich habe meinen Bachtin aus der Bücherkiste rausgeholt, um das Konzept des Karnevalesken aufzufrischen. Michail Bachtin, der russische Literaturphilosoph, sagt ja in seinem berühmten Rabelais-Essay, die subversive Kraft des karnevalesken Lachens liege darin, dass die Hierarchien durchbrochen würden. Die Groteske sei das befreite Lachen des Volks, das sich der Starre der herrschenden Ordnung punktuell entledige. Im bachtinschen Sinn war historisches Dada übrigens schon eine Verkörperung des Karnevals: von der Veräppelung der Obrigkeit bis zur amorphen Körperstruktur kam da alles vor.

Edelmann mit kampfstiefeln und Handy: Künstler und Ur-Dadaist Marc Divo, Hoher Besuch aus Basel: Beyeler-Kurator Raphael Bouvier mit Freund als die schicksten Dadaisten des Abends, dicht gefolgt vom Mann mit den Goldleggings

Edelmann mit Kampfstiefeln und Handy: Künstler und Ur-Dadaist Marc Divo (links), Besuch aus der Karneval-Hochburg Basel: Beyeler-Kurator Raphael Bouvier mit Freund als die schicksten Dadaisten des Abends (Mitte), dicht gefolgt vom Mann mit den Goldleggings (rechts)

Aber gut, wir schreiben 2016, die Strukturen sind längst zum digital gemixten Birchermüesli geworden, und wenn wir auch nicht leugnen können, dass es nach wie vor Herrschende und Beherrschte gibt, sind sie längst nicht mehr an ihren angestammten Plätzen, nämlich unten beziehungsweise oben, zu orten. Vielmehr turnen sie die soziale Leiter konstant rauf und runter, sodass allein die Benennung der Verhältnisse zum Kraftakt gerät, geschweige denn ihre Veräppelung. Ausserdem, meine Damen und Herren, falls wir von der Voraussetzung ausgehen, dass es Eliten gibt, dann ist das Kunsthaus bestimmt ihr angestammtes Zuhause. Wie veräppelt man die Verhältnisse, in denen man selber der Veräppelte sein sollte? Voilà, wir sind mitten im modernen Dada. Kostümmässig ergibt das einige Strategien, die ich mir hier erlaubt habe, zu karnevalistischen Clustern zu bündeln.

Ich bin Dada? Hugo B'Allah!

Ich bin Dada? Hugo B’Allah!

Strategie 1: Der Buchstabe als Werkzeug des Widersinns

Ja, ich weiss, eigentlich ist die Schrift das Zuhause des Sinns. In der Sprache, vor allem der geschriebenen, werden wir zu Vernunftwesen. Als besonders neckisch erscheint also die Strategie der Umkehr, in der man die Buchstaben als Werkzeug des Unsinns verwendet. Wie das geht, haben die Dadaisten ja lustvoll vorgeführt. Die Strategie feierte im Kunsthaus Urstände – mit durchwachsenem komischen Erfolg. Den eigenen Schädel mit Dadaglobe anzuschreiben, mag auf den ersten Blick lustig sein, doch es mangelt der Sache am karnevalistischen Befreiungslachen. Es gab zwar noch einen Herrn, der mit einem iPad behängt war, das Unsinnsilben generierte, das sah cool aus, war aber überhaupt nicht lustig. Es gab ein Paar mit «DORT» am Rücken (und Kleiderbügel auf dem Kopf) – das wirkte eher sehnsuchtsvoll romantisch als widersinnig. Stellen wir also fest: Reiner Unsinn hat seine Provokationskraft verloren. Vielleicht weil wir in den Codes der Programme den Sinn des scheinbar Unsinnigen erleben. Punktum. Strategie gescheitert.

 

Expat-Füchse mit doppeldeutiger Botschaft, falscher Trump

Expat-Füchse mit doppeldeutiger Botschaft, falscher Trump.

Strategie 2: Politische Subversion in poetischer Form

In dieser Kategorie hätten wir den Donald-Trump-Verschnitt mit dem Käppi «Make America Great Again» auf dem Kopf und die Expat-Füchse mit ihren Transparenten «Immigrant Fox Hunt» und «Gold Lives Matter». Beides ambivalente Botschaften, die zwar nicht zum Lachen reizen, jedoch durchaus zum Nachdenken anregen. Die Goldfüchse waren fast einen Tick zu schön, um subversiv zu wirken, und ehrlich gesagt wären sie glaubwürdiger gewesen, wenn sie nicht konstant Selfies von sich geschossen hätten. Mein Liebling in der Gruppe der poetischer Politik war die bereits oben erwähnte Laurence Frey, die auf ihrem orientalischen Gewand das Schildchen «Hugo B’Allah» trug. Haha! Finden Sie es auch so lustig wie ich? Also da ist in kurzer Form alles veräppelt: die grassierende Dada-Verzückung des offiziellen Zürichs (Hugo balla balla), der formalistische Überwachungswahn der Amis (bei der Nennung des Schlüsselworts Allah wird das Abhörtonband eingeschaltet). Und es klingt sogar der unschuldig-verschmitzte Wortwitz der schweizerischen Mani-Matter-Tradition mit (dr Sidi Abdel Assar vo El Hama, der sich ja im Lied auf Pijama und Drama reimt). Dada-mässig schiesst Familie Frey den Vogel ab (den Verleger und Kabarettisten Patrick habe ich allerdings am Ball nicht gesichtet).

Vogel-Strauss-Politik oder Selbstbezichtigung? Köpfe und Käfige

Vogel-Strauss-Politik oder Selbstbezichtigung? Köpfe und Käfige.

Strategie 3: Kopf im Käfig

Warum bloss? Ich kam nicht drauf, warum so viele Kopfkäfige? Die zwei Brustkäfige mit Vögelchen muss man wohl dazuzählen. Vogel-Strauss-Politik? Wir sind selber hinter Gittern? Die zivilisatorischen Zwänge haben sich selbstständig gemacht, wir werden derer nicht mehr Herr? Eng verwandt übrigens mit Nr. 4: Kopf in der Kiste.

Anina Frei als intellektuelle Kiste, amorphe Kiste sowie Facebook-Kiste: Frevel gegen gottähnliche Technik?

Anina Frey in der intellektuellen Kiste, amorphe Kiste sowie Facebook-Kiste: Frevel gegen gottähnliche Technik?

Strategie 4: Kopf in der Kiste

Dass die Berichterstatterin des nationalen Fernsehens in einer Kiste kam, lässt sich ja noch erklären. Bei SRF symbolisiert schon seit einer Weile ein Packkarton die Intellektualität schlechthin, wie man dem Logo des «Literaturclubs» entnehmen kann. Wenn also Anina Frey in einer Kiste kommt, will sie damit zeigen, dass sie heute Abend nicht als Klatschreporterin unterwegs ist, sondern als karnevaleske Hinterfragerin. Warum aber so viele andere in Kisten kamen? Ich habe eine Erklärung, aber sie ist sehr vollmundig: Seit Gott in öffentlicher Wahrnehmung in die Richtung eines (nicht immer erfolgreichen) Sozialarbeiters gerutscht ist, hat die Technik alle gottähnlichen Funktionen übernommen: Sie lenkt uns, sie sieht uns mit göttlichem Auge von überall her, sie kennt unsere Sünden sowie Schwächen, und manchmal verzeiht sie sie uns auch (dank der Löschtaste) – und so weiter. Kopf in der Kiste ist also eine subtile Veräppelung unseres Herrn, des Computers. Verwegen!

 

Kamel und Perücke: Die Klassiker

Kamel und Perücke: Die Klassiker.

Strategie 5: Klassisch Karnevaleskes

Geht auch! Als Kamel verkleidet oder mit roten Haaren – ein kluger Kopf braucht doch keine Kompliziertheiten, um anzudeuten: Heute mache ich mich über meine alltägliche Perfektion lustig. Unter der roten Perücke, bin ich mir fast sicher, steckte der Kult-Fotograf Walter Pfeiffer. Bien joué.

Ein haariges Ding aus der «Adams Family», Butt plug auf dem Kopf, Mr. Penis

Ein haariges Ding aus der «Adams Family», Butt Plug auf dem Kopf, Mr. Penis.

Strategie 6: Camp

Hier verlassen wir das Königreich Bachtins und treten in die Republik von Susan Sontag ein. Schlechter Geschmack als die ultimative Subversion des guten Geschmacks, der gerade in Zürich doch wirklich etwas penetrant Wohnungen, Bürointerieurs und Kleiderschränke beherrscht. Finde ich lustig! Aufblasbarer Penis, haariger «Cousin It» aus der «Adams Family» oder ein Zombie mit dem Sexspielzeug «Butt Plug» auf dem Kopf – hallo, ihr Camp-Dadaisten! Bestes Lachen ist primitives Gelächter, aber da sind wir wieder bei Bachtin. Ah, und übrigens, der Oberdadaist Stefan Zweifel entschloss sich auch für diese Strategie und kam in goldenen Leggings sowie einer räudigen Pelzjacke. Sah gut aus.

Duschbrigade, Damen aus den 50-ies, die Himmelblauen und die beiden Frida Kahlos

Die lustige Duschbrigade, die Damen aus den 50ies, die Himmelblauen sowie die beiden Frida Kahlos (die Kommunikations-Fachfrauen Barbara Brandmaier und Claudia Wintsch Lautner).

Strategie 7: Falscher Film

Verwandt mit 6, aber ehrlich gesagt ein bisschen weniger lustig. Man schert sich nicht um Dada, sondern folgt in seiner Verkleidung einem ganz anderen Thema. Interessanterweise vor allem eine Gruppenstrategie. Dazu gehörten: zwei Frida Kahlos. Die drei Damen aus den Fifties. Die drei Damen mit Ballonengirlanden, direkt von einem Kindergeburtstag. Die drei Herren in himmelblauen Wolkenanzügen. Die drei Duschvorhänge – die waren allerdings sehr lustig, weil die Idee so einfach war und der «amorphe Körper» eine moderne Interpretation fand, die erst noch einen anderen Gott unserer Zeit, die Körperhygiene, veräppelte. Und ja, auch der Herr im Marihuana-Anzug war lustig. Wahrscheinlich weil er selbst stets kicherte.

Immer schon Dada gewesen: DJ Untitled Campologo, Les Reines Prochaines

Immer schon Dada gewesen: DJ Untitled Campolongo, Les Reines Prochaines.

Strategie 8: Immer schon Dada gewesen

Auf beiden Musikbühnen aufs Glaubhafteste und ohne Verkleidung vertreten. In der Person von DJ Untitled Campolongo, der bei seinen unkorrumpierbaren Ansichten zum unabhängigen (Musik-)Stil und (Lebens-)Schneid nie Kompromisse machte. Und in der Band Les Reines Prochaines, die sich schon immer wenig um Moden und Konventionen scherten und mit neo-dadaistischen Texten ganz eigene Musik machten.

Voilà, so viel dazu, was der Dada-Ball zur Analyse unserer gegenwärtigen Lage leistete. Die bunten Luxemburgerli füllten nach Mitternacht die verbleibenden Theorielücken.

Rausch? Von wegen, dieser Wolf hat sein Schafspelz für die Performance schon mitgebracht

Rausch? Von wegen, dieser Wolf hat seinen Schafspelz für die Performance schon mitgebracht.

16 Kommentare zu “Der dechiffrierte Ball”

  1. david mercier sagt:

    schön wars.. gäll frau hess.. es war dada und hat zürich gut getan.
    grüsse vom zombie (?? sah ich so schlimm aus.. hmm) mit plug.
    grüsse an die facebookschachtel und an meinen neuen fb-freund walter pf

  2. d.m. sagt:

    schön wars, gäll frau hess.. es grüsst sie der plug. und wäre witzig wenn sich facebookschachtel melden würde.

  3. Pitt Schoeffel sagt:

    Das kommt heraus wenn Zürcher umsverrecken auf lustig machen wollen. In Basel heisst das Sauglattismus.

  4. Manuela sagt:

    Kann mir nach dem Lesen dieses Beitrags nicht mehr aufhören eine Frage zu stellen: Als was war die Autorin verkleidet?
    Verraten Sie es uns, Frau Hess?

    • Ewa Hess sagt:

      Gern, liebe Leserin Manuela, ich war einer jener vielen Menschen mit einem Hugo-Ball-Kragen aus Karton. Man will ja als Berichterstatterin nicht unbedingt auffallen… :-)

      • Jean-Jacques sagt:

        Liebe Frau Hess, Ich hoffe, Sie haben sich gut amüsiert – und sogar richtig Spass gehabt. So etwas gönne ich allen Menschen von ganzem Herzen. Ist ja nicht mehr alltäglich. Ich wäre in etwa als “Huckleberry Finn” gekommen. Als bekennender Mark Twain -Fan. Mit schwarzer, toter Katze umgehängt, vom Friedhof. Und in der Hoffnung damit nicht allzu gross – aufzufallen. So als ‘Jungster’ …

        • Ewa Hess sagt:

          Mit echter toter Katze? Das würde sehr wohl auffallen! Und einerseits als Protest gegen den Tierschützer-Fanatismus interpretiert, andererseits von den Tierschützern skandalisiert werden. Lieber Leser Jean-Jacques, Sie bringen mich auf die Idee: eigentlich sind echte Körper, auch wenn es diejenigen toter Tiere sind, zur Zeit skandalöser als jede noch so absurde Verkleidung. Mit besten Empfehlungen, auch an Ihr geschätztes Haustier, das sich hoffentlich nach wie vor guter Gesundheit erfreut, E. Hess

          • Jean-Jacques sagt:

            Kein Problem. Der Tiger erfreut sich bester Gesundheit und frech wie eh und je. Für die andere in Schwarz müsste man sich wohl vertrauensvoll an den Tierarzt wenden. (Eingeschläfertes Exemplar). Und diese nach Gebrauch wieder zurückbringen ;-)

          • Diana sagt:

            Herr Jean-Jacques,

            Selbst nach ihrem Ableben sollten Tiere endlich Ruhe finden und nicht als Spielzeug für gelangweilte Menschen an Parties geschleppt werden. Bei Menschen hiesse das Leichenschändung und würde mit Gefägnis bestraft. Also bitte etwas mehr Respekt vor dem Leben und den Toten.

  5. karl berthold sagt:

    wo ex-gymnasiasten und beflissene funktionäre den freisinn imitieren.

  6. Enrico sagt:

    Wenn vor allem Promis an einen solchen Ball kommen, ist die einzige Schlussfolgerung: Dada ist tot.

    • Ewa Hess sagt:

      Entschuldigung, lieber Leser Enrico, aber haben Sie den Text gelesen? Jene Menschen, die mit Namen erwähnt werden, gehören bestimmt nicht zur Kathegorie «Promi»! Ausser vielleicht der «Glanz und Gloria»-Moderatorin, die sich vor allem durch die Art ihrer Kostümierung für eine Erwähnung empfahl. Ob aber Dada nicht trotzdem tot ist, lässt sich diskutieren. Oder noch lieber darüber: Müsste DADA überhaupt immer lebendig sein? Oder brauchen wir vielleicht neue Formen des intellektuellen Protests? Mit freundlichen Grüssen, E.H.

      • Jean-Jacques sagt:

        Liebe Frau Hess, Dadaismus ist etwa so tot (oder lebendig?), wie Woodstock. “The Times they are changing’…”; sang schon Bob Dylan. Und behielt da schon recht. Heute herrscht eher Gagaismus. Aber man lässt sich immer gerne – von Neuem überraschen …

      • Jean-Jacques sagt:

        Aber gerne ein Beispiel von ‘modernem Dadaismus’. Trio: mit “Da da da” – oder “Turaluraluralu – Ich mach BuBu was machst du”. u.a. – Philosophie – schön banal verkleidet. Dazu braucht es auch Talent. Wie der “Buster Keaton” – Schlagzeuger, ebenda. Alleine dieser ‘coole’ Schlagzeuger – riss mich vom Hocker …

      • schorsch sagt:

        den dadaismus gibts nicht mehr weil er seit langer zeit integraler bestandteil der mitte geworden ist. so auch die leute an diesem ball, wie die kunst überhaupt mitte sind. und falls es neue formen von “intellektuellem protest” braucht, der kommt sicher nicht von dieser mitte.

  7. Jean-Jacques sagt:

    Intellektuelle haben nicht nur Lust auf Karneval. Sondern auch auf Fasnacht, Oktoberfest, Erntedankfest und Fussball. Und mein Nachbar, der pensionierte Dr. H., mag sogar das Laubrechen und Schneeschaufeln. Ich habe mich aber noch nicht getraut, ihn zu fragen, ob er das auch bei mir machen würde. Natürlich mit gutem Essen und Trinken verbunen.