Vieles wird am heutigen entfesselten Kunstmarkt kritisiert, auch von mir, doch eine der Nebenerscheinungen finde ich wunderbar: Die Neigung der Galerien, bisher verkannte Künstlerinnen und Künstler wiederzuentdecken. Der Markt ist trocken, die Käufer suchen Qualität, der Nachschub von tollen Werken, historischen oder aktuellen, ist beschränkt. Und so kommt es, dass man nochmals nach hinten schaut und oft auf diese Weise die Ungerechtigkeit der Geschichte korrigiert. Denn ja, es gibt Künstler, die so ungewöhnlich, so avantgardistisch oder so scheu bzw. widerspenstig sind, dass sie zu ihrer Lebzeit übersehen werden. Und, falls sie schon tot sind, auch später im Verborgenen bleiben. An der am Sonntag zu Ende gegangenen (tollen) Art Basel, bei der die Messeleitung die Galeristen explizit ermuntert hat, hochwertige historische Kunst mitzubringen, gab es für mich in dieser Beziehung richtige Offenbarungen. Ich teile sie mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser von Private View. Als Inspiration und auch als Tipp, falls Sie etwas Spielgeld zur Verfügung haben und es gegen Zeugnisse ephemerer Schönheit und exemplarischer Lebenshaltung tauschen möchten.
Beginnen wir mit Ray Johnson. Ich sah eine wunderschöne Collage von ihm am Stand der New Yorker Galerie Richard L. Feigen & Co., die auch seinen Nachlass verwaltet. Der 1927 geborene Künstler war ein Wegbereiter für verschiedene Kunstströmungen. Seine Werke der 1950er-Jahre erinnern an Pop Art (Jahre vor seinem Freund und manchmal Rivalen Andy Warhol). Johnson machte Performances, bevor es diese Bezeichnung überhaupt gab. Konzeptkunst, damals noch kaum vorhanden und heute praktisch Alleinbeherrscherin der Szene, war sein Sandkasten. Auch wenn er sich später über ihre gezierten Possen lustig machte (und uns allen, die wir des prätentiösen Konzeptkunst-Kauderwelschs müde sind, schon damals aus dem Herzen sprach). Und er war der Erfinder der Mail-Art, die damals den Gang zum Briefkasten bedingte. Johnson verbreitete seine Collagen und sibyllinischen Texte, indem er sie an ein riesiges Netz von Künstlerkollegen, Freunden und Fremden verschickte und diese ermunterte, den Ball seiner Inspiration aufzunehmen. Erinnert uns das an etwas? Ja, Johnson war ein analoges Social Medium, bevor es das Internet gab.
Vor zwanzig Jahren, an einem klirrend kalten Januartag, sprang Ray Johnson von einer Brücke im schönen Sag Harbor in den Hamptons, schwamm ins Meer hinaus und ertrank. Zwei Teenager sahen ihn springen und wollten die Polizei benachrichtigen, fanden aber den Polizeiposten nicht und gingen, anstatt das Leben des Unbekannten zu retten, ins Kino (das hätte ihm bestimmt gefallen). Erstaunlicherweise geschah das zu einem Zeitpunkt, als sein kommerzieller Erfolg gerade einzusetzen begann – was er nie suchte und sogar aktiv verhinderte, etwa als er 1990 von der Galerie Gagosian umworben wurde. Er war befreundet mit fast allen Grössen der amerikanischen Avantgarde jener Zeit, schon seit seiner Zeit am Black Mountain College, der avantgardistischen Kunstschule in North Carolina, der die amerikanische Kunst fast alles verdankt (ich erwähne hier nur die Namen einiger seiner Kommilitonen: John Cage, Merce Cunningham, Willem de Kooning, Buckminster Fuller).
In den vergangenen Jahren begann Johnsons Ruhm stark zu wachsen, es gab Bücher, Artikel, Ausstellungen (alles, inklusive einer Timeline und schönen Videodokumenten) findet man auf der Website seines Nachlasses hier). Er wird ein Schwerpunktthema des Festivals Performa (NY) im November sein, und die Museen stehen offensichtlich Schlange bei Feigen, wie mir die nette Galeriedame an der Art erzählt hat. Dennoch, sagt sie, lagern noch stapelweise Kisten mit noch unbearbeitetem Material in einem unbenutzten Badezimmer der Galerie in New York, Arbeit genug für mehrere Generationen von Kunststudenten. So reich war das Lebenswerk dieses «Unbekannten».
Die Arbeiten von Ketty La Rocca waren mir ebenfalls nicht bekannt – ich sah einige am Stand der Düsseldorfer Galerie Kadel Willborn. Sie haben mich sofort mit ihrer scheuen Grazie erobert. Ketty, was ich nicht wusste, gehört zu den wichtigsten ersten Konzeptualisten in Italien. Sie starb 1976 mit nur 38 Jahren, und obwohl es nachher einige Retrospektiven gab, wurde ihr Name nicht allgemein bekannt. Schade! Überhaupt, die Italiener jener Zeit, aus den 60er- und 70er-Jahren, haben Kunst geschaffen, die ihrergleichen weit suchen muss. Ich denke daran seit meinem Besuch bei der Fondazione Prada Milano, weil die Bertelli-Pradas so viele tolle Werke in ihrer Sammlung haben. Viele dieser Künstler sind mittlerweile zu Marktstars geworden, wie Lucio Fontana oder Giuseppe Penone. Aber es gibt (gerade auch im konzeptuellen Bereich) noch so viel zu entdecken.
Aber zurück zu Ketty. Sie entwickelte eine neue Sprache, die mit Händen zu tun hatte. Sie untersuchte deren Ausdrucksstärke, beschriftete sie mit Wörtern und versuchte, diese neue Kommunikationsmethode der existierenden Sprache entgegenzusetzen. Für die Frauen sei heute keine Zeit der Erklärungen, schreibt sie 1974 aus ihrer feministischen Perspektive, die hätten zu viel zu tun und überdies nur eine Sprache zur Verfügung, die ihnen fremd und feindlich sei. Sie seien der Gesamtheit beraubt bis auf die Sachen, die niemand beachte, und das seien viele, auch wenn sie geordnet werden müssten: «Die Hände zum Beispiel, zu langsam für weibliche Fähigkeiten, zu arm und zu unfähig, um das Hamstern fortzusetzen; es ist besser, mit Worten zu sticken.» Ich musste natürlich auch an die Arbeit Judith Alberts in der Grossmünster-Krypta denken, die ich vor drei Wochen hier vorgestellt habe und die eine weibliche «Händesprache» dem männlich geprägten Evangelium hinzufügt.

Ketty La Roccas Werk «Il mio lavoro» von 1973 basiert auf einem Foto, in dem sie sich selber in ihrem Atelier aufgenommen hat und dann die Umrisse des Fotos mit Handschriftnotizen nachgezogen hat. Es ist schon verkauft, für um die 20’000 Euro.
Kadel Willborn hat eine schöne schmale Publikation zu Ketty La Rocca herausgegeben, die den wunderbar poetischen Titel trägt: «The you has already started at the border of my I.»
Die dritte Position, von der ich heute erzählen möchte, habe ich schon gekannt. Ich habe sie bei Grieder Contemporary vor einem Jahr nochmals gesehen, doch damals konnte ich dem Werk nicht genug Ehre erweisen. Jetzt war Damian Grieder mit seiner Acconci-Präsentation in Basel (in der «Features»-Sektion) und ich war wieder restlos begeistert. Vito Acconci ist heute 75 Jahre alt und ähnlich wie die zwei oben Beschriebenen prägte er die 70er-Jahre mit seinen Gedichten, Aktionen und Konzepten. Mit «Seedbed» (1972) hat er seine Karriere begründet. Achtzehn Tage lang lag Acconci unsichtbar unter einer Holzrampe in der Galerie Ileana Sonnabend. Besucher konnten ihn nicht sehen, aber aus dem Lautsprecher hören. Es wurde gemunkelt und den Geräuschen nach schien es wahrscheinlich, dass der Künstler dort unten masturbierte, während er Ungehöriges über die über ihn wandernden Galeriebesucher murmelte. Der heilige Nimbus einer Kunstgalerie wurde ganz gehörig erschüttert.
Bei Grieder sind von Acconci persönlich adnotierte Fotografien seiner diversen Aktionen zu sehen. Etwa: «Trademarks». Da hockt er im Schneidersitz vor einer weissen Wand und beisst sich in alle Körperteile, die er erreicht. Detailfotos zeigen einige der Bissspuren, die er sich 1970 in seinem Atelier zufügte. Weil ich direkt von Ketty La Rocca kam, musste ich daran denken, wie spektakulär es war, eine solche Performance von einem Mann vorgeführt zu bekommen. Die Beschäftigung mit dem eigenen Körper und Auto-Aggression waren für lange Zeit das verschämte Spielfeld der Frauen. Die Integration dieser Elemente zeigt eine besondere Sensibilität des Künstlers. Seit den 1980er-Jahren hat er sich übrigens ganz der Architektur und dem Design zugewandt, mit dem Ziel, zukunftsweisende, partizipatorische Architektur-Kunst-Projekte durchzuführen.
Die ART ist mir einfach zu gross geworden. Ich verkehre jeweils lieber am sympathischen OFFFestival am Rheinufer. Dort habe ich diesen Sommer manche eindrückliche Performance gesehen. Und das beste: Alles kostenlos, dank Museumspass.
das unangenehme an der kunst ist, dass man sie in kunst an sich und kunstbetrieb unterteilen muss, und der kunstbetrieb offensichtlich nicht gut ist. das unangenehme darin besteht, dass sich die kunst auf die seite des guten stellt und deswegen diesem spannungsverhältnis ausgesetzt ist.
Lieber Leser Kaspar, interessante Aussage. Sagt man nicht Ähnliches über die Religion? Über diese Parellele könnte man nachdenken, finden Sie nicht auch?
Die Galerien versuchen nicht “wenig bekannte Künster zu würdigen”. Es wird gezielt nach wenig bekannten, bereits verstorbenen Künstlern gesucht. Der Grund ist klar: Die Anzahl Werke ist begrenzt, es kommen keine neuen dazu. Dieses begrenzte Werk ist das beste Argument für hohe Preise. Die Erben, resp. Eigentümer des gestigen Eigentums (im Fall von Ray Johnson gleich die Galerie selber), stehen einer Vermarktung nicht im Weg, profitieren sie doch ebenfalls davon. Es ist einfacher, einen Künster “wieder zu entdecken” und seine Werke zu verkaufen, als junge Künstler aufzubauen. So werden heute plötzlich Werke von Künstlern, die vor ein paar Jahren (Jahrzehnten) kein Mensch haben wollte, zu Spitzenpreisen angeboten. Das hat nichts mit Engagement zu tun, sondern ist reiner Kommerz. Dass Kunst inzwischen zum Anlageobjekt verkommen ist, demonstrierte die Art gerade mal wieder auf eindrucksvollste Weise: Viel neuer Schrott für wahnsinniges Geld. Dazwischen zweit- und drittklassige Picassos, Twomblys, Richter, Rothkos, Picabias, Warhols usw., die im Sog der Auktionsrekordpreise für erstklassige Werke der Künstler zu Phantasiepreisen angeboten werden. Diese “Kunst” wird spekulativ von Leuten gekauft, die eine rasche Wertsteigerung erwarten, nicht von LIebhabern. Die können sich die an der Art gezeigte Kunst entweder nicht leisten oder haben ihren Twombly, Richter oder was auch immer schon vor dreissig Jahren gekauft – und schütteln über die verlangten (kartellähnlich abgesprochenen) Preise beide nur den Kopf.
Lieber Leser P. Riengger – natürlich haben Sie auch recht und die von Ihnen beschriebenen Mechanismen spielen eine erschreckend zunehmende Rolle, worüber ich unter anderem in meinem ART-Bericht «Das grosse Klotzen» in der Sonntagszeitung berichtet habe: hier. Doch die Welt ist nie nur schwarz oder nur weiss. Und ich würde keinesfalls allen wieder-entdeckenden Galerien nur hässliche Motivation unterstellen. Gerade bei Ray Johnson leistet Frances Beatty von der Galerie Feigen eine immense Arbeit, ist dieses Werk doch so gross, ephemer, verstreut, schwer zugänglich. Auch das ist eine Investition in die Kunst, die man unbedingt auch lieben muss, will man Galerist werden. Und wir haben auch etwas davon, wenn wir vergessene Positionen kennenlernen dürfen. Das Leben ist nun mal eine Mischrechnung, und das ist nicht nur schlecht so, gibt höflich zu bedenken Ihre E.Hess