Ein heller Sommerabend lag auf dem Löwenbräu-Areal wie eine warme Babydecke. Es war die Ruhe vor dem Sturm, denn am kommenden Wochenende ist das Zurich Contemporary Weekend – das Wochenende vor der Art Basel. Dem Rummel zuvorkommend, haben die Galerien Gregor Staiger und Freymond-Guth schon letztes Wochenende eröffnet. Ihre zwei ganz unterschiedlichen, tollen Ausstellungen haben davon profitiert – wir konnten uns auf sie voll und ganz einlassen. Es gab dabei zwei herrlich unangepasste Frauen zu entdecken.
Was: «Moonblood/Bloodmoon», Lucy Stein bei Gregor Staiger,
«Sono Vietate Le Discussioni Politiche», Dani Gal bei Freymond-Guth Ltd. Fine Arts
Wann: Eröffnung war am Freitag, 5. Juni, Dauer Stein bis 18.7., Dauer Gal bis 4.7.
Wo: Beide im Löwenbräu, Gregor Staiger Limmatstrasse 268, Freymond-Guth Limmatstrasse 270

Ein Marmorblock mit der Inschrift «Sono vietate le discussioni politiche» von Dani Gal, Galerist Jean-Claude Freymond-Guth (und sein Hund), Werke von Lucy Stein in der Galerie Gregor Staiger
Der Grund, weshalb ich von zwei Frauen spreche, obwohl Dani Gal ja ein männlicher Künstler ist, liegt daran, dass wir das Werk von Gal schon seit einer Weile kennen und bewundern – er ist ja einer der interessanteren Künstler, die im blinden Winkel zwischen Geschichte und Kunst Wahrheiten aufdecken, die zugleich historisch und auch brandaktuell sind. Dani Gal kannte ich also, nicht aber seine neuste Arbeit, die sich «A Woman of Valor» nennt und ein filmisches Porträt der 90-jährigen Menschenrechtsaktivistin Hedy Epstein ist. Ich habe – mea culpa – noch nie von Frau Epstein gehört, und ich bin froh, diesen Mangel nun behoben zu haben. Die Holocaust-Überlebende setzt sich für Entrechtete ein, und zwar aller Nationalitäten und Couleurs. Sie nahm am International Gaza Freedom March teil und wurde erst letztes Jahr erneut verhaftet, als sie an einer Demonstration gegen die Polizeiwillkür in Ferguson (USA) teilnahm.

Hedy Epstein bei ihrer Verhaftung während der Ferguson-Demo in St. Louis (links), beim Hungerstreik für Gaza (Mitte), in Dani Gals schönem Film «A Woman of Valor», 2015.
Die andere Frau ist Lucy Stein, eine junge englische Künstlerin mit vielerlei Begabungen, die wie eine Filmheldin aussieht und auf eine ebenso britische wie kluge Art den vielen Klischees, die es über Kunst von Frauen gibt, ein Schnippchen schlägt. Bei Gregor Staiger sind ihre neuen Malereien ausgestellt – sie sind, ganz abgesehen von allen Interpretationen und Bedeutungsspielen, auch sehr schön anzusehen – leicht pastos, an der Grenze zur Figuration flimmernd, formal ausufernd.
Lucy sagt gerne provokante Sachen, etwa dass sie es mag, wenn ihre Werke wie «am Rande eines hysterischen Anfalls» aussehen. Was im vorliegenden Fall insofern präzise zutrifft, als die quadratischen Gemälde laut der Auskunft, die sie mir selbst an der Vernissage in ihrem sympathisch lispelnden Englisch gab, eine «Eierstock-Energie» zum Ausdruck bringen. Die Werke sind übrigens auf halber Höhe an der Wand aufgehängt, damit der Dialog mit dem besagten Organ direkt stattfinden kann. Ich kam müde nach einer hektischen Woche in die Galerie – nennt es Selbstsuggestion, wenn ihr wollt –, aber die Begegnung mit dieser Kunst hat mich erholt. (Das tut aber die Begegnung mit guter Kunst oft, auch ohne den Umweg über die Eierstöcke.)
Hedy Epstein und Lucy Stein, die eine 1924 in Kippenheim, Süddeutschland, geboren, die andere eine 1979 zur Welt gekommene Professorentochter aus Oxford: Sie haben mich beide an diesem friedlichen Abend in Zürich mit Bewunderung für unangepasste weibliche Lebenshaltungen erfüllt. Wie viel Mut braucht eine Holocaust-Überlebende, um gegen die unwürdigen Lebensbedingungen der Menschen in Gaza zu kämpfen? Erstaunlicherweise eine ganze Menge. Gerade kürzlich sprach ich mit der Kunsthaus-Kuratorin Cathérine Hug über das «never again», welches nach den Nazigräueln des Zweiten Weltkriegs zu einem Gründungsmythos des neuen, vereinten Europas wurde (in der am 12. Juni beginnenden Kunsthaus-Ausstellung «Europa» ist übrigens auch ein schönes Werk von Dani Gal vertreten). Hedy Epstein geht aber einen riesengrossen Schritt weiter und sagt: «Never again? Soll das denn nur für uns Juden gelten?» Klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Danke für die Erinnerung, Dani Gal und Hedy Epstein.
Die Malerin Lucy Stein andererseits, mit allen modernen Freiheiten ausgestattet (und auch mit dem Wissen um die moderne feministische Theorie), behält sich die Luzidität des Blicks, um die immer noch vorhandenen weiblichen Beschränkungen auf die Schippe zu nehmen. Unter anderem diese: dass eine Frau nicht hemmungslos Frau sein darf. Dass sie immer mit einem rationalen Korrektiv im Hinterkopf dem Klischee von der Furie Frau etwas entgegensetzen soll. Lucy tut es aber nicht, sie geht aufs Ganze. Zelebriert Obsessionen. Wertet das Verachtete auf. Macht sich über die Welt lustig, indem sie auch über sich selber lacht.
Sie ist Dichterin, Musikerin, ein obsessives, multibegabtes freies Wesen. «Moonblood, Bloodmoon» nennt sie ihre Schau bei Gregor Staiger. Dazu legt sie ein Gedicht auf: «I bled Moonblood as we passed though the threshold, without asking permission…» Schwellen passieren, ohne um Erlaubnis zu fragen? Genau.

Löwenbräu-Terrassenstimmung: Ugo Rondinones Werk vor dem Abendhimmel, Künstler Dani Gal (Mitte) , Oscar Weiss mixt
Als wir, erquickt von der Begegnung mit Mut, Engagement und Schönheit, danach auf der Terrasse des Löwenbräu sassen, war den meisten philosophisch zumute. Der Himmel glühte sanft, Ugo Rondinones Regenbogenschrift «Love Invents Us» bekam vor den rosa Wolken im Hintergrund eine fast überirdische Intensität. Kunsthistorikerin Laura Arici diskutierte mit Galerist Gregor Staiger über die Schriften von Kunsttheoretikern, Migros-Museum-Kurator Raphael Gygax lachte mit dem Zeichner Marc Bauer, Künstlerin Loredana Sperini war da, natürlich auch Dani Gal und Lucy Stein, die ein Stipendium der Tate St. Ives hat und bereits wenige Tage später bei einer Riesenveranstaltung in Cornwall die Gastgeberin spielen sollte. Ich selbst hatte ein langes Gespräch mit der Keramikerin Grazia Conti Rossini Schifferli, auch Modemacherin Sissi Zöbeli vom Modelabel Thema Selection war da (ich hatte eine Bluse von ihr an) und der Kunstexperte der Stadt, Alex Ritter. Zu den Würstchen vom Grill gab es von Oscar Weiss gemixte Pimm’s-Cocktails… Schön wars.
Zur Ausstellung Moonblood/Bloodmoon gibt es übrigens eine wunderbare schmale Publikation «Feminax», erschienen in 1000 Exemplaren – die Grafikerin Marie Lusa gehört gemeinsam mit Gregor Staiger zum starken Duo hinter dem Programm der Galerie
Mir würde es auch reichen, wenn man die Frauen als unangepasste Menschen beschriebe, statt unangepasste weibliche Wesen. Das zweite lenkt den Fokus nämlich irrtümlicherweise auf eine männliche Gegnerschaft. Das ist einer der gängigen gesellschaftlichen Irrtümer. Sturheit, Rassismus, Unterdrückung sind nicht einfach männlich, und Toleranz, Aufgeschlossenheit und das Gute weiblich. Schön wäre es. Dann stünde es ja schon mal 50/50 und mit 10% der Männer, die wohl auch modern, aufgeschlossen, usw sind, wäre die Welt dann ja in Ordnung. Also, ein bisschen weniger sexistisch, bitte.
Lieber Leser Reto B., Diese unangepasste Wesen waren nun mal Frauen, aber ich gebe Ihnen 100 % recht, dass es genau so tolle, gute, aufgeschlossene Männer wie Frauen gibt! Ich wollte diese nicht unterschlagen, es waren auch einige von ihnen anwesend – nicht zuletzt in den Personen der beiden Galeristen Gregor Staiger und Jean-Claude Freymond-Guth. Frieden?
Also bei Lucy “Eierstock-Energie” tanken – um diese “Vagina” in Versailles besser verkraften zu können …
Der Schriftzug auf dem Dach von Ugo Rondinone (Love invents you) ist geklaut vom Cover der Beatles LP
Magical Mistery Tour! NIcht mal eigene Ideen haben sogenannte Künstler heutzutage, was fürne geistlose Zeit…
Lieber Leser Meier, Sie meinen das sei geklaut, weil die Regenbogen-Buchstaben an die 70-er Jahre erinnern? Mit gleichem Recht könnte man behaupten jede Schrift sei geklaut, weil sie schon mehrmals verwendet wurde. Oder?