Am Anfang war das Wort. Wirklich? In der Krypta des Grossmünsters ist das Wort gerade Kunst geworden. Als eine Schrift an der Wand, von einer fleissigen Frauenhand angebracht. An der Eröffnung der jährlichen «Kunst in der Krypta»-Ausstellung bezeichnete sich der Eröffnungsredner Christoph Vögele als «Kunstvermittler, also Seelsorger». Ist entlang dieser Logik Kunst Gebet? Manchmal schon, finde ich. Was denken Sie?
Was: Die Installation «Prolog» in der Krypta des Grossmünsters in Zürich – «Kunst in der Krypta No 3»
Wo: In der Kellerkrypta der Kirche, dort, wo man die Statue Karls des Grossen bestaunen kann
Wann: Eröffnung war am Donnerstag, 28. Mai, die Ausstellung dauert bis am 2. Juli
Liebe Leserinnen und Leser, vor genau einem Jahr habe ich von der Installation Mario Salas im Grossmünster berichtet (hier), die mich sehr beeindruckt hat. Und auch dieses Jahr hat Pfarrer Martin Rüsch eine denkwürdige Wahl getroffen. (Künstler Peter Radelfinger und Kuratorin Bigna Pfenninger waren auch daran beteiligt). Kennen Sie Judith Albert? Die Künstlerin lebt jetzt in Zürich, stammt aber aus Obwalden; eine Aura der mythischen Bergregion umgibt sie wie der Duft einer frisch gemähten Heuwiese. Sie ist eine Poetin, ihre Videos sind oft wie kleine Gedichte, die sich den einfachen Sachen zuwenden. Faule Äpfel etwa, die sie am Strassenrand findet. Sie hebt sie auf und schneidet sie im Video mit ihrer schönen grossen Hand entzwei. Abstrakte Schönheit der fortschreitenden Verwesung marmoriert das Fruchtfleisch, das Fallobst wird zum Abbild von… Ja, wovon? Von der Vergänglichkeit des Lebens ebenso wie vom verschwenderischen Reiz des Unnützen. In letzter Zeit hatte Judith Albert in Gruppenausstellungen auch Auftritte als Neo-Dadaistin gehabt, etwa mit einem Video, in dem sie sich beinahe nackt und nur in Gesellschaft eines grossen Kraken räkelt.

Videoarbeiten von Judith Albert: Vallotton nachempfundene «Nude with an Orange Scarf», 2009, und «Vanitas II», 2007.
In der Krypta zeigt sich Frau Albert als eine gewiefte Theologin, treibt sie doch ein raffiniertes Spiel mit der Heiligen Schrift und ihrer Auslegung. (Kein Wunder übrigens, sie hat schon mal, gemeinsam mit ihrem Team, die ästhetische Erneuerung der wunderbaren Solothurner Kathedrale betreut. Dort kann man den zentralen Tisch mit einem Tischtuch aus weissem Marmor bewundern. Das steinerne Tuch sieht mit seinen Bügelkanten und Stickereien so aus, als ob es gerade frisch aus dem Wäscheschrank käme, sehr schön.) Aber eben: In der Zürcher Krypta, unter den Wahrzeichen-Doppeltürmen… Ich weiss nicht, ob Sie schon mal dort waren. Es ist ein karger Raum mit Säulen, Bögen und diffus hereinscheinender Morgensonne, dominiert von einem grossen Kerl, Karl dem Grossen, Schwert und Zepter inklusive.
Pfarrer Rüsch hat uns später verraten, dass es für die Kunstinstallationen schwierig ist, die dominante Stellung Karls des Grossen in der Krypta zu konkurrieren. Mario Sala hat es letztes Jahr ganz gut geschafft, indem er seine Eierschalenschnüre von Karls Kopf zum heiligen Knäckebrot im Fenster spannte und so die Energie tatsächlich von der weltlichen Figur in Richtung einer Himmelsmacht lenkte. (Auch wenn die Eierschalen offensichtlich nicht bei allen Kirchgängern beliebt waren, hörte ich am Donnerstag – einigen waren sie zu trivial, sie liessen sie eher ans Rührei zum Frühstück denn an den Ursprung allen Lebens denken. Im Ei ist aber beiderlei Symbolik drin, wenn also manche ans Frühstück anstatt an Höheres dachten, wird das wohl an ihnen selbst gelegen haben.)
Judith Albert aber – halten Sie das für weibliche List, wenn Sie wollen – versucht es gar nicht erst mit der Konkurrenz. Ihre Videoarbeit «Prolog» ist von subtil-subversiver Natur. Zwei Bildschirme, diskret, doch perfekt in die Symmetrie der Säulen komponiert, zeigen die Hände der Künstlerin, die den ersten Satz des Johannesevangeliums aus Folienbuchstaben als eine Leuchtschrift «bastelt». «In the beginning was the Word» heisst der Satz – am Anfang war das Wort. Und hier schon geht es mit dem Vexierspiel los, denn Alberts Arbeit funktioniert auch als Bild. Die Buchstaben, die sie verwendet, klebt sie sich nämlich auf die Hand, und um sie in den Satz einzufügen, löst sie sie von der Hand mit einer Nadel. Ein sehr sinnlicher Vorgang, denn die Haut der Hand kommt ein bisschen mit, hebt sich, bevor die Buchstaben losgelöst werden. Der Loop ist acht Minuten lang, man könnte aber auch länger schauen, denn die Sache versetzt einen in eine leichte Trance.

«Prolog»: Buchstaben auf der Hand (Grafik der Begleitpublikation:Prill Vieceli Cremers), die Künstlerin und ihre Schwester Ruth, Jacqueline Burckhardt diskutiert mit Peter Radelfinger
Schon unten in der Krypta begannen die Diskussionen. Die Kunsthistorikerin Jacqueline Burckhardt, eine der beiden legendären Chefinnen der Kunstzeitschrift «Parkett» (die andere ist Bice Curiger), äusserte mir gegenüber einen leisen Zweifel, ob das Wort am Anfang überhaupt stehen kann, denn es müsse sich doch schon eine Form aus dem Chaos erheben, damit ein Nennungsprozess überhaupt in Gang kommen kann. Ich, die ich ganz und gar dem Wort gehöre, hielt dagegen. Mit dem Argument, dass eine Nennung die Form erst möglich mache. Frau Burckhardt wird übrigens am 2. Juli ein Publikumsgespräch im Grossmünster bestreiten. Im Parkett-Verlag ist auch ein Buch über die Polke-Fenster des Grossmünsters herausgekommen. Man kann es hier bestellen. Oben, im Hauptraum der Kirche, ging es mit der Diskussion weiter. Christoph Vögele, der sympathische Konservator des Kunstmuseums Solothurn, wies uns darauf hin, dass Alberts Werk sehr präzis auf das Grossmünster zugeschnitten ist, gehörte doch die buchstabengetreue Auslegung der Bibel zu den Hauptanliegen Huldrych Zwinglis, der von hier aus die Deutschschweizer Reformation anführte.
«Qualität des Kunstwerks ist das Allerwichtigste», sagte Pfarrer Rüsch, der zum Thema «Kunst im sakralen Raum» soeben einen Aufsatz im neuen «Visarte»-Heft veröffentlicht hat und bevor er Pfarrer wurde Kunst studiert hat. Damit wollte er wohl andeuten, dass, gerade wenn man in einer Kirche ausstellt, keine Kitschkunst erlaubt sei. Er hat gut reden! Sein bildlos wunderschönes Münster, wo man zwischen den wunderbaren Augusto-Giacometti-Fenstern und den neuen, nicht weniger erhebenden Sigmar-Polke-Fenstern betet, ist da ein stolzes Vorbild. Mir lag die Frage auf der Zunge, was der Grossmünster-Pfarrer zu Christoph Büchels Installation in Venedig sagt – Private View hat berichtet. Darf man das, eine Moschee in einer ehemaligen Kirche als Kunstprojekt einrichten? Wenn Sie sich dazu äussern mögen, Herr Pfarrer, bitte sehr. Es interessiert uns. Die Kommentarspalte heisst Sie willkommen.

Kunstmuseum-Solothurn-Chef und Eröffnungsredner Christoph Vögele im Gespräch mit Grossmünster-Pfarrer Martin Rüsch, Künstlerinnen Elodie Pong und Judith Albert.
Wir standen um den Tisch mit Brot und Wein (wobei das Brot ein knusprig gebackenes Früchtebrot war) und kamen auch auf leichtere Themen. Die Künstlerin Elodie Pong und die Filmemacherin Anka Schmid waren da – Schmids schöner neuer Dokfilm über Frauen, die wilde Tiere zähmen, «Wild Women – Gentle Beasts», kommt im Herbst in die Kinos. Premiere war im April in Nyon – die Kritik war begeistert. Schmid und Peter Radelfinger, hat sich herausgestellt, haben gemeinsam an der ZHdK einen Kurs über den «Kuss im Film» bestritten. Ein gutes Thema! Auf meine Bitte hin haben die beiden Dozenten eine züchtige Demonstration des Seminarthemas gewagt. Peter Radelfinger hatte übrigens gerade die Vernissage seines neuen Buchs «Falsche Fährten» (Edition Patrick Frey) hinter sich. Ein denkwürdiges Buch, in das er alles reinpackt, was er seit Jahrzehnten so als «Material» sammelt. Fantastisch, doch der Titel weist schon darauf hin, dass das unmittelbare Erleben der Königsweg zur Erkenntnis ist und bleibt. Doch davon vielleicht ein anderes Mal, liebe Gemeinde.
kindchen…bildende kunst ist eine philosophische, keine religiose disziplin.
Die beiden Disziplinen sind eindeutig verwandt, finden Sie nicht? Natürlich nicht deckungsgleich, darum sage ich «manchmal». Geschichtlich gesehen, war die wunderbare Darstellung der biblischen Szenen, der Mutter Gottes usw durchaus der religiösen Inbrunst der Maler und Bildhauer geschuldet. Besonders philosophisch wird es in einer reformierten Kirche, wo direkte Abbildungen keinen Platz haben. Ich finde, dass die Arbeit Judith Alberts besonders schön mit diesem Dilemma umgeht: etwas darzustellen ohne es darzustellen. Haben Sie die Installation schon gesehen? Ein Besuch ist wirklich zu empfehlen, man kann die Wirkung mit Worten nur unzulänglich beschreiben :-)
@Hess: Etwas darstellen ohne es darzustellen. Würde es nach Ihrem Empfinden heute gehen: etwas darstellen indem man es darstellt?
Lieber spitzfindiger Leser Max, ich diskutiere erst weiter, wenn sie mir ein Photo aus dem Grossmünster schicken. Ohne das Werk gesehen zu haben, können Sie nicht mitreden :-) (aber natürlich kann man auch etwas darstellen, indem man es darstellt, machen auch viele, im Fall)
Judith Albert ist eine tolle Künstlerin. Ich verfolge ihr Schaffen seit ein paar Jahren. Muss unbedingt ins Grossmünster!