Leute! Von Zürich nach Rapperswil, das ist doch keine Distanz! Zwischen der West Bronx und Brighton Beach in New York etwa liegt eine höhere Anzahl Kilometer, von der Dichte des Verkehrs schon gar nicht zu reden. Dafür ist es ein Hauch von Williamsburg, was man in Rappi in der letzten Zeit wahrnimmt. Williamsburg, also jenem New Yorker Quartier, in dem sich Studenten und Welterfinder tummeln. Hier wie dort schnuppert man «the shape of things to come».
Wann: Samstag, 6. September 2014
Wo: Rapperswil, Alte Fabrik
Was: Gruppenausstellung junger Szene: «Courting Aporia», bis 26.10.
Allein schon die Alte Fabrik ist ein Ort mit cooler Vergangenheit. Es ist die alte Fabrikationsstätte der Firma Geberit, also hier wurden bis 1962 die Spülkästen für Klos hergestellt. Ich weiss, mein Vorschlag kommt zu spät, aber etwas mit Klo im Namen wäre auch nett gewesen. Zum Beispiel «Loo factory»? Vielleicht zu britisch. Aber ich erinnere daran, dass Maurizio Cattelans Kultzeitschrift «Toiletpaper» heisst. Jedenfalls, 1988 hatte Jörg Gebert, der Enkel des Geberit-Gründers, die Idee, in dem stillgelegten Fabrikgebäude ein Kulturzentrum einzurichten. Dann gründete die Familie Gebert die Gebert-Stiftung für Kultur. Und dann hat Stiftungspräsidentin Christa Gebert 2006 den Kurator ins Leben gerufen, eine Spielwiese für Jungkuratoren.
Mit Fredi Fischli und Niels Olsen sind zurzeit zwei mit viel Punch am Ball. Sie haben bisher Anregung für die Zukunft in der Vergangenheit gesucht und sich mit dem Kuratoren-Altmeister Bob Nickas zusammengetan (Giovanni Pontano berichtete für Private View hier). Doch jetzt wagen sie den direkten Schritt in die Zukunft. Und machen Platz für eine Generation, die so jung ist, dass die beiden Jungtürken Fischli/Olsen ihnen gegenüber fast schon onkelhaft auftreten dürfen. «Mikrogeneration» nennt das Fischli, weil die Generationen in unserer hyperbeschleunigten Gegenwart so schnell aufeinander folgen. Zwei, fünf Jahre später und schwups, alles ist anders.
Den Blick von aussen liefert die New Yorkerin Lola Kramer, zwar selbst eine Angehörige der aufstrebenden Generation 20+, doch in Zürich wie eine Forscherin im unbekannten Land unterwegs. Sie hat eine dichte Szene von coolen Offspaces geortet und aus ihrem Programm die riesige Ausstellung husch, husch zusammengestellt, wunderbar unprätentiös.

Künstler Mayo unterweist Kuratorin Lola Kramer in der Kunst, den Namen Mayo mit den Fingern in die Luft zu zeichnen.
Als Lola vor wenigen Monaten nach Zürich kam, wohnte sie in der Wohnung von Pamela Rosenkrantz, die uns im kommenden Jahr an der Biennale in Venedig vertreten wird. Und sie war von der Zürcher Szene so begeistert, dass sie sofort eine Ausstellung in der besagten Wohnung veranstaltet hat. Die hiess «How do you solve a problem like Maria». Ich weiss nicht, ob Sie sich an den Film «The Sound of Music» erinnern mögen? Und die kleine ungehorsame Nonne, die alle zum Lachen brachte? Das war Maria. Eine Träumerin und ein Wildfang, und die Nonnen sangen über sie diesen sentimentalen Ohrwurm. Ach.
Wolkenfänger, Mondanhalter, junge Schmetterlinge, die gerade ausgeschlüpft sind: Das sind auch diese Jungen, die gerade in Rappi ausstellen. «Courting Aporia» nennt Lola diese Schau. Weil Aporia der lateinische Name eines Schmetterlings ist (des Baum-Weisslings, wenn Sie es genau wissen wollen). Aber auch weil Aporie als philosophischer Begriff (laut Duden) folgendes bedeutet: «Unmöglichkeit, eine philosophische Frage zu lösen, da Widersprüche vorhanden sind, die in der Sache selbst oder in den zu ihrer Klärung gebrauchten Begriffen liegen». Die Welt kann der Generation, die gerade neu dazukommt, schon manchmal wie ein verdammtes Rätsel vorkommen.

Die Architekten Isa Stürm und Urs Wolf (Stürm & Wolf) begutachten Mayos Installation «Paradies», das Tuchbild von Thomas Sauter, Tina Braegger mit klein Katharina neben ihrem Objekt «Untitled»
Diese hier gezeigte Kunst, ein Rundgang zeigt es, ist eine erste These. Noch fragil, manchmal auch unausgegoren, wenn auch schon manchmal von einer stupenden formalen Sicherheit wie etwa die Tuch-Bilder von Thomas Sauter. Der Churer, von dem wir auch schon berichtet haben, ist mit 30 Jahren schon etwas älter als die meisten hier und konnte mit seinen virtuosen Objekten aus gespannten Tüchern bereits internationale Anerkennung erobern. Er gehört zum Umkreis des Offspace Plymouth Rock, dessen Betreiber Mitchell Anderson auch selber ein Künstler ist. Sein Objekt ist eine gestickte Inschrift, die aber von der Rückseite her präsentiert wird. Schon wieder so ein Rätsel. «Good luck», ruft mir der Künstler ironisch zu, als er sieht, dass ich vor dem Werk die Stirn in Denkfalten lege.
Künstler, Kuratoren, sie sind alle ein bisschen alles. Das ist typisch für diese Generation, die genug vom künstlerischen Ego-Trip hat und verschworene Communitys bildet. Offspaces Up State, Muda Muramuri oder Taylor Macklin sind hier vertreten. Und es gibt nicht wenige Gemeinschaftsarbeiten, wie etwa die «singenden Abfallkübel», eine effektvolle Soundinstallation von Marc Hunziker, Tim Eicke, Mayo & Friends sowie Rafal Skoczek. Werke tauschen, einander unterstützen, gemeinsam Installationen entwerfen – das ist das Credo der Youngster.
Es ist eine Generation, die sich Sorgen um die Welt macht – wie Marc Asekhame, der mit seinem Netzbild «Nana Benz» den Export von in Holland hergestellten Stoffen der Firma Vlisco nach Westafrika thematisiert. Auch ein Zinnobjekt von Tina Braegger, das an die wahrsagenden Figürchen erinnert, die man am Sylvester ins kalte Wasser giesst, wirkt unbehaglich. Ist es ein Püppchen oder ein Mutant? Die junge Künstlerin, eine der interessanteren Figuren ihrer Generation, lächelt ihrer kleinen Tochter zu. Die Verantwortung ereilt diese jungen Schmetterlinge schneller, als sie es seinerzeit bei den Wohlstandskindern der Seventies tat.

Abfallkübel-Soundinstallation von Hunziker/Eimcke/Mayo&Friends/Skoczek (links), Kaspar Müllers Fisch auf dem Tisch, Installation mit Bojen von Brigham Baker und Anina Yoko Gantenbein
Adressen
*ALTEFABRIK
Klaus-Gebert-Strasse 5
CH-8640 Rapperswil-Jona
Up State
Flüelastrasse 54, 8047 Zürich
Up-State on www.facebook.com
mudamuramuri
Badenerstrasse 415, 1. Floor
newsletter@mudamuramuri.ch
www.mudamuramuri.ch
Taylor Macklin
Mühlezelgstrasse 24, 8047 Zürich
www.taylormacklin.com
“Art is the ever broken promise of happiness.” (Adorno, Aesthetic Theorie)
1. Wichtiges YouTube Video für junge Künstler: Martin Hielscher, Adorno and Aesthetic Theorie
2. Wichtiges YouTube Video für junge Künstler: Bukowski, Go all the way
3. Wichtiges YouTube Video für junge Künstler: Bukowski, Friendly advice to a lot of young men
Wieso muss in jedem zweiten Satz die Jugendlichkeit und das Hipstertum der vermeintlichen “Protagonisten” abgefeiert werden? Junge Mütter werden zu Heldinnen / Schmetterlingen die früh “fliegen” lernten – hochstilisiert, Kapitalismus wird von den “new kids on the block” mit “radikal” “neuen Mitteln” kritisiert (ein Film über Ausbeutung in Afrika) und ansonsten gaaanz viel Namedropping von Personen, die es noch “schaffen wollen” (mit ihrer Kunst Geld zu verdienen) – aka: Werbung.
Lieber Leser. Ich bekenne mich schuldig. Ich habe für diese jungen Leute, über die ich hier schrieb, sehr viel Sympathie. Schlimm? Finde ich nicht. Über die, die ich nicht so gut finde, schreibe ich nicht – das wäre doch schade um den Platz im Internet und auch um meine bzw Ihre Zeit. Und ehrlich, in jedem zweiten Satz wird jung und hip betont? Stimmt nicht. Immerhin schreibe ich auch einiges über alte Sachen, zB die Vergangenheit der alten Klo-Fabrik, den alten Film «Sound of Music» und den alten Bob Nickas. Ich sage, dass die «Protagonisten» auch verwirrt sind und dass manche ihrer Werke noch etwas unpräzis sind. Stilisiere ich sie dadurch zu Helden? Eine junge Mutter, die ihrem Kind zulächelt, ist das schon stilisiert? Das Werk «Nina Benz» von Marc Asekhame, von dem ich sage, dass es das Verhältnis von Europa und Afrika thematisiert, ist dabei gar keine billige Kritik, wie Sie es vermuten. Es handelt sich um ein sehr komplexes Werk, übrigens nicht ein Film, sondern ein Bild, das auch von der Verführbarkeit und Statusverliebtheit der autochthonen Bewohner Westafrikas berichtet. Es beinhaltet eine Anspielung auf edle Stoffe, die, mit eitlen Symbolen des Wohlstands bedruckt, in Holland hergestellt und in Afrika für die traditionellen Gewänder verwendet werden. Zugegeben: Das können Sie nicht wissen. Ich dachte beim Schreiben, diese genaue Beschreibung würde die Geduld des Lesers zu sehr strapazieren. Deshalb sage ich nun auch schön artig: Danke! Danke dafür, dass Sie mir mit Ihrem Kommentar die Gelegenheit geboten haben, all diese Präzisierungen nachzuliefern. Es grüsst Sie ganz freundlich – Ewa Hess
@Ewa Hess
Ich danke Ihnen für Ihre Antwort. Es ist freilich Ihr gutes Recht für junge Künstler gewisse Sympahien zu hegen – nur, sollte man einen sachlichen Text immer von Werbung unterscheiden können – dies ist meine bescheidene Meinung. Vielleicht fehlt mir aber auch schlicht die “Geschäftstüchtigkeit”, die man heute von allen sowieso erwartet – ob sie nun Babywindeln oder Kunst an den Mann / die Frau bringen wollen. Übrigens gehöre ich selber zur “jüngeren Generation” und empfinde diese im täglichen Umgang weder als besonders reif, gesellschaftskritisch, noch als besonders künstlerisch “Avantgarde” im Vergleich zu anderen Generationen (z.B. Babyboomergeneration).
Lieber Leser Ueli, ah, Sie gehören selber zu den «Schmetterlingen»? Manchmal ist man gerade der eigenen Generation gegenüber besonders kritisch. Ich, die ich aus einiger Distanz das Geschehen betrachte, zumindest altersmässig, empfinde gerade die ganz Jungen als viel weniger «geschäftstüchtig» als noch zwei-drei Generationen davor. Allerdings – da haben Sie ganz recht – radikal avantgardistisch kann man diese Jahrgänge nicht nennen. Ist aber auch schwierig geworden, das mit der Avantgarde. Denn – gibt es überhaupt noch unerforschte Gebiete, in die man als erster hineinstürmen könnte? Falls Sie auch ein Künstler sind, wünsche ich jedenfalls guten Flug.