Alarmstufe rot: Tanz, Puppe, tanz!

Ewa Hess am Dienstag den 17. Juni 2014

Liebe Leserin und Leser, remember? Wir sind immer noch im Kunst-Ausnahmezustand. Unter dem Namen Contemporary Art Weekend präsentieren Zürich und Basel den aus Übersee angereisten Gästen das Beste und Schönste, was es in Sachen Zeitgenössische Kunst zu bieten hat. Folgen Sie «Private View» auf dem Parcours der Superlative.

Am Donnerstag, 12. Juni, entschied sich unser Autor Giovanni Pontano nicht für die Eröffnung der «Gasträume» im Helmhaus, sondern für eine bisher wenig bekannte Adresse im Seefeld. Er hat es nicht bereut! Hier sein Bericht:

Wo: HACIENDA, Reinhardstrasse 18, 8008 Zürich
Wer: Keith Boadwee
Bis: 12.7.

Ein kurzer Bericht, bevor die Doppelbelastung mit der Fussball-WM Einzug hält: Oskar Weiss, Sohn des viel zu früh verstorbenen Künstlers David Weiss, ist auf bestem Weg, sich als Galerist zu etablieren. Zusammen mit zwei konspirativen Mitstreitern, dem Kurator Arthur Fink und dem Künstler Fabian Marti hat er in einem abgewrackten Raumensemble im Zürcher Seefeld in letzter Zeit eine Kadenz von Ausstellungen angeschlagen, die zu verfolgen allein anstrengend ist. Nur: Die Anstrengung lohnt. Und während gleichen Abends zahlreiche etabliertere Zürcher Galerien im Zuge des anrollenden ArtBasel-Schnellzuges ihre Schauen eröffnen, während auch die Stadt Zürich im Helmhaus sich selbst und ihre verordnete Kunstbeflissenheit feiert und ihre Gasträume vorstellt, scharen Fink/Marti/Weiss einen guten Teil der Szene um sich. Und dies low budget und mit Qualität und Originalität. Sogar ein kleiner Katalog liegt auf und enthält Essays von Nicole Eisenmann und Justin Liebermann.

«Hommage» an Cindy Sherman, Künstler Boadwee, Werk

«Hommage» an Cindy Sherman, Künstler Boadwee, Werk.

Gezeigt wird der kalifornische Künstler Keith Boadwee, Jahrgang 1961, Professor für Kunst in San Francisco, mit einem track record also und hier dennoch – zumindest mir – völlig unbekannt. Fabian Marti hat den Künstlerkollegen, der präsent ist, in Los Angeles kennengelernt und eingeladen. So schnell geht’s, wenn’s passt, und so wird ganz nonchalant eine Art Retrospektive seiner Fotografien von 1989 bis 2013 präsentiert. Mit viel Humor wird Schauerliches bis fürchterlich Obszönes in Szene gesetzt, immer sind es Selbstporträts, oft auch nur von gewissen – sie wissen schon – Körperteilen. Dass Boadwee Assistent von Paul McCarthy in Los Angeles war, das lässt sich nicht verleugnen. Und eine Fotografie als Hommage an seine gute Künstlerfreundin Cindy Sherman schlägt frech den Bogen zur laufenden Ausstellung im Kunsthaus. Trotz vieler Zitate strahlen die Werke eine frische Eigenständigkeit aus. Der Kunstraum ist mit dieser Ausstellung prima positioniert, wenn ambitionierte Sammler vor der Messe in Basel die Zürcher Untergrund-Szene auf der Suche nach Entdeckungen durchforsten.

Am Freitag, dem 13. besuchte Ewa Hess in Basel die Preview von «14 Rooms». Starker Tobak! Hat man nicht unbedingt erwartet, denn einige der dort gezeigten Performances haben wir ja auch schon früher gesehen – das «Touch»-piece von Yoko Ono oder «Luminosity», die nackte Frau im Sattel von Marina Abramovic. Aber. Wow!

Wo: Basel, Messehalle 3
Was: «14 Rooms», also 14 lebende Skulpturen
Bis: 22.6.

«14 Rooms» hat viele Väter:  Hans Ulrich Obrist, den sogenannten Überkurator, und Klaus Biesenbach, den deutschen MoMA-Kurator, dessen Blondkopf überall dort auftaucht, wo etwas noch nie Dagewesenes geschieht. Dann Sam Keller von der Fondation Beyeler, den Garanten für Qualität und Stil, und Marc Spiegler natürlich, weil die ganze Sache zur Art Basel gehört, und nicht zuletzt auch George Delnon, den Direktor des Basler Theaters, weil in den vierzehn Räumen ja performt wird. Als architektonischer Zeremonienmeister fungiert Jacques Herzog. Performance, heisst die zentrale These,  ist das Gegenstück zu den Social Media. Weil eben – Menschenkontakt. Hautnah.

Photocall mit Sam Keller (kurze Hose) und Joan Jonas (läuft ins Bild), der Gang, Podium mit Biesenbach, Obrist, Herzog

Photocall mit Sam Keller (kurze Hose) und Joan Jonas, der 14-Räume-Gang, Podium mit Biesenbach, Obrist, Herzog.

Die Performancekunst hat auch viele Mütter. Die Performerinnen der frühen Jahre waren oft Frauen – da gab es nicht nur die Queen Marina Abramovic, sondern auch Valie Export, Joan Jonas, Yoko Ono. Daran erinnert «14 Rooms» und bringt die alten berühmten Performances zurück. Die stärkste bleibt «Mirror Check» von Joan Jonas aus dem Jahr 1970: Eine junge nackte Frau untersucht jeden Zentimeter ihres Körpers mit einem Taschenspiegel. Die Nackte von Marina Abramovic, die stundenlang auf einem Velosattel im Scheinwerferlicht schwebt («Luminosity», Raum 12), ist bekannter und plakativer. In der Performance sind aber die kleinen Gesten oft effektiver.

Wie geht das aber? Performances wiederaufführen, und erst noch von anderen? In Basel geht das so: Links und rechts von dem langen Gang, der nach oben offen ist und nach hinten unendlich scheint (weil von einem Spiegel abgeschlossen) sind 14 Türen angebracht. Man dreht eine archaische Türklinke, geht in ein Räumchen hinein und ist mit einer Präsenz konfrontiert. Es sind echte Menschen, Performer, die sich abwechseln, die in jedem der 14 Räume ein kleines Drama vorführen. Als erstes bin in in den Raum von Santiago Sierra geraten. Dort steht ein Mann in der Ecke und starrt in die Wand. Man erfährt vor dem Eingang: es handelt sich um einen echten Kriegsveteranen.

Abramovics «Luminosity», Nkangas Pflanzensängerinnen, Jonas' Spiegelcheck

Abramovics «Luminosity», Nkangas Pflanzensängerinnen, Jonas’ Spiegelcheck

Ich war allein mit dem Mann im Raum. Es passierte nichts. Die Spannung war dennoch kaum auszuhalten. Als ich rauskam, muss ich verstört ausgesehen haben. Der nette Sam Keller stand im Gang und sah das sofort. Er bot mir an, mich beim nächsten Raumbesuch zu begleiten. Doch im Raum von Otobong Nkanga erwies sich ein Beistand Gottseidank als unnötig, denn dort singen Frauen den Pflanzen auf ihrem Kopf wunderschöne Lieder vor. Dort möchte man bleiben, sich verstecken, auf den Boden legen, von den wunderbaren afrikanischen Gesängen einlullen lassen. Ein gemeinsames Performance-Schauen ist zudem nicht immer eine einfache Sache. In Joan Jonas’ Raum etwa (eine der ältesten, aber auch der stärksten Performances unter den 14) fühlte ich mich allein bereits unerträglich voyeuristisch, der nackten Blondine beim Bodycheck zuzuschauen. Dann kam Jacques Herzog herein. Ich hätte dem Architekten gerne viele Fragen gestellt, im Zusammenhang mit seinen vergangenen und künftigen Projekten, doch vor der Nackten… Wir nahmen beide Reissaus.

Die stärkste Erfahrung behält «14 Rooms» für den Schluss. Es ist das Werk eines mir bisher unbekannten jungen Künstlers Jordan Wolfson und nennt sich «Female Figure». Doch weiblich scheint einem das unheimliche Wesen, welches man im 15. Raum antrifft (Wolfsons Performance läuft als «Epilog»), nur auf den allerersten Blick. Der Hauptperformer ist in Tat und Wahrheit ein ganz und gar unheimlicher Roboter. Ich habe ein leicht wackliges, aber sonst ziemlich wahrheitsgetreues Video gedreht – also schauen Sie selbst! Video übrigens mit (zufälligem) Spezialauftritt von Lionel Bovier, dem Verleger @JRP Ringier. Eine von ihm kuratierte Schau läuft zur Zeit in der Kunsthalle Bern)

Am Freitagabend (wir sprechen immer noch vom 13. Juni) ging es in Zürich weiter: Nicolas Party bei Gregor Staiger, Vito Acconci bei Grieder Contemporary, Louise Bourgeois bei Hauser & Wirth, Pamela Rosenkranz bei Karma International

Der  in Glasgow lebende Westschweizer Nicolas Party hat in Gregor Staigers (und Marie Lusas) Galerie eine Ausstellung namens «Pastel» eingerichtet. Mit grosser Virtuosität mischt Party Wandmalerei, klassisches Stilleben und Landschaftsmalerei zu einem sehr eigenen Universum. Die Farben – von wegen Pastell! – und auch die Formen haben eine Kraft und Entschiedenheit, als ob es die postmoderne Verwirrung gar nie gegeben hätte.  Vielleicht ist Party darum auch so beliebt, dass seine Werke eine Sicherheit ausstrahlen, die man eigentlich für immer verloren glaubte.  Zur Ausstellung gibt es eine wunderbare Publikation und… Migrossäcke! Party hat eine Edition der Tragtaschen kuratiert. Alle möchten ein Büchlein oder wenigstens einen Migrossack signiert bekommen. «C’est comme chez Payot», scherzt der Künstler.

Party-Raum bei Gregor Staiger (im Vorderplan Raphael Gygax, Marie Lusa präsentiert die Publikation, Werke

Party-Raum bei Gregor Staiger (im Vorderplan Raphael Gygax), Marie Lusa präsentiert die Publikation, Werke.

Grieder Contemporary lockt mit einer Rarität. Der in London lebende Kurator Kenny Schachter hat dank seiner Freundschaft mit der 74-jährigen Kunstlegende Vito Acconci eine Schau aus dem privaten Archiv des US-Konzeptkünstlers zusammengestellt. Fotos und Notizen zu den ersten Aktionen des Künstlers, den man ohne zu übertreiben als einen der wichtigsten Impulsgeber der heutigen Zeit bezeichnen kann. Da übrigens wieder: frühe Performance! In einer beisst sich Acconci überall am Körper und fotografiert die Spuren seiner Zähne. Ich denke an Joan Jonas mit ihrem Spiegel – Der Mann beisst sich, die Frau spiegelt sich. Wäre das heute anders?

Werber James Wolfensberger vor dem Modell zu Acconcis «Clam Shelter», die Beissperformance, Kenny Schachter mit Kathrin Genovese

Werber James Wolfensberger vor dem Modell zu Acconcis «Clam Shelter», die Beissperformance, Kenny Schachter mit Kathrin Genovese.

Und hier geht es weiter zu den weiteren Photos des Zurich Contemporary Weekends: Valentin Carron, Eva Presenhuber, Peter Kirchenmann, Etienne Lullin, Pamela Rosenkranz, Karola Dankow, Adam Szymczyk, Giovanni Carmen, Filippo Leutenegger, Gigi Kracht und viele, viele andere mehr!

2 Kommentare zu “Alarmstufe rot: Tanz, Puppe, tanz!”

  1. fritz sagt:

    jetzt wäre es auch noch interessant zu erfahren, um was es bei den genannten kunstwerken auch noch inhaltlich so geht? bspw. diese “roboterfrau” im video, um was geht es da inhaltlich genau (usw)? oder wieso 14 rooms, hat das was mit tarantino zu tun, oder den kammern der shaolin, wieso lebende skulpturen, gehts darum und warum? wie stellt sich der bezug her zu der these, dass performanz das gegenstück zu social media ist, und wenn, warum und wozu? fragen über fragen. alles sehr hoch getaktet, auch der artikel.

    • Ewa Hess sagt:

      Lieber Leser Fritz, Sie machen mir eine grosse Freude damit, dass Sie nach dem Inhalt fragen. Natürlich bleibt der Inhalt das Wichtigste an den besprochenen Kunstwerken (wenn auch ein bisschen soziales Drumherum auch dazu gehört). Fangen wir also mit der “Female Figure” an, dem mechanischen Sennentuntschi des Amerikaners Jordan Wolfson. Und wenn ich Sennentuntschi sage, sind wir schon mitten im Thema drin. Nicht nur in Sagen und Legenden (da gibt es auch die jüdische Überlieferung des Golem), sondern auch in der Literatur ist das Thema des von Menschen hergestellten menschenähnlichen Wesens sehr präsent. Denken an wir an die wunderbare Skulptur Galatea, in die sich der griechische Bildhauer Pygmalion verguckt, oder die Puppe Olympia, in die sich der Student Nathanael in E.T.A. Hoffmanns “Sandmann” unsterblich verliebt. Die Obsession des weiblichen Androids, eine “fatal attraction”, bekommt durch die tatsächlichen Möglichkeiten der heutigen Technik eine ganz neue Aktualität. Der 34-jährige Künstler Jordan Wolfson weckt mit seinem singenden Roboter die alten Hoffnungen und Ängste. Seine weibliche Figur hat alle Attribute der sexuellen Attraktion: Sie ist leicht bekleidet, hat lange blonde Haare und bewegt sich lasziv zur Musik. Gleichzeitig trägt sie Insignien des Horrors: Ihr Körper ist bedeckt mit Schrammen, sie trägt eine furchterregende schwarze Maske und zappelt an einer in den Körper gebohrten metallenen Stange. Dadurch, dass der Zuschauer der Figur im 15. Raum der Installation persönlich begegnet, wird er auf eine emotionale Achterbahnfahrt geschickt: Faszination, Neugierde, Anziehung, Abscheu, Furcht – alle diese Empfindungen gesellen sich zu der sich notwendig einstellenden Reflexion über die Grenzen des technisch Machbaren. Ist das nicht grossartig? Ein sehr starkes Kunstwerk und eine klug inszenierte Begegnung des Betrachters mit sich selbst. Die Zahl 14 bezieht sich formal vor allem auf die Jahreszahl (weil wir im Jahr 2014 sind). Aber natürlich sind alle anderen Assoziationen offen. Lebende Skulpturen, auch solche, denen wir auf der Strasse begegnen (Sie wissen schon, zum Beispiel diese ganz in Silber gekleideten Männer, die sich kurz bewegen, wenn man eine Münze wirft) waren eine Inspiration der Ausstellungsmacher. Aber auch der deutsche Künstler Tino Sehgal, der anstatt Werke in die Ausstellungen zu hängen die Museumswärter instruiert, mit den Besuchern zu sprechen. Das Bedürfnis nach persönlichem Kontakt, unmittelbarem Erleben wird immer stärker in einer Gesellschaft, die den Grossteil ihrer Zeit vor dem Bildschirm verbringt. Der Bezug zu social media ist denn auch der des Widerspruchs: Dort Freunde ohne Präsenz, hier Präsenz ohne Freundschaft. Das schnell Getaktete ist, zumindest was den Blog anbelangt, als eine Ausnahme ausgewiesen. Die Schreiberin verspricht den Lesern und sich selbst, nach der Sommerpause wieder zu einem beschaulicheren Rhythmus zurückzukehren!