Unter Hysterikern
Im österreichischen Grenzort Spielfeld, 30 Kilometer südlich von Graz, ereignete sich Anfang Woche Bemerkenswertes. Unter Anleitung von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) wehrten etwa 500 Polizisten und 200 Armeeangehörige einen aggressiven Ansturm von über 200 Flüchtlingen ab. «Nie mehr» dürften sich Ereignisse wie 2015 wiederholen, sagte Kickl. Damals passierten viele Migranten die Grenze zwischen Slowenien und Österreich unregistriert.
Weil gerade keine echten Migranten zur Hand waren, musste Innenminister Kickl Anfang Woche 200 Polizeirekruten als Flüchtlingsattrappen aufbieten. Sie waren angewiesen, Sprechchöre zu skandieren, während sie sich dem österreichischen Abwehrdispositiv – also eigentlich ihren Polizistenkollegen – näherten. «Open the border, let us in.»
Wir gegen wir
Die Inszenierung von Spielfeld, deren Bilder um die Welt gingen und auch von Tagesanzeiger.ch publiziert wurden, ist symptomatisch für den Zustand der aktuellen Asyldebatte in Europa. Sie ist ein Kugelblitz der Selbsttäuschung: wir gegen wir.
Weil die Realität keine Motive zur Schreckung der Bevölkerung mehr bietet, sind Regierungen dazu übergegangen, diese Bilder selbst zu erschaffen. Bestes Beispiel dafür sind die behördlich angeordneten Mittelmeer-Odysseen der Flüchtlingsboote Aquarius und Lifeline. Matteo Salvini, der Lega-Politiker und stellvertretende Ministerpräsident Italiens, vertwitterte am Sonntagabend ein Selfie vor einem Fluss: Man solle unbesorgt sein, richtete der Rechtspolitiker seinen Mitbürgern aus, die Boote im Bild trügen keine illegalen Einwanderer.
Buona serata Amici, che fate?
P.s. Tranquilli, le barche che vedete dietro di me non trasportano clandestini! pic.twitter.com/r811GJXdh7— Matteo Salvini (@matteosalvinimi) 24. Juni 2018
Von Behördenpropaganda spricht da interessanterweise niemand, auch wenn die Regierungen von Italien, Österreich, dem Freistaat Bayern und einigen Staaten Osteuropas eine fast schon industrielle Bewirtschaftung der Asyl-Hysterie betreiben.
Der real existierende Rückgang
Von der Realität hat sich diese Debatte längst entkoppelt. Die Ankünfte von Flüchtlingen in Europa sind seit 2016 stark rückläufig. Die Entspannung lässt sich auch am Beispiel der Schweiz illustrieren: Im vergangenen Monat (Mai 2018) haben die Migrationsbehörden 1268 Asylgesuche registriert. Seit Beginn des Arabischen Frühlings 2011 waren die Zahlen nie mehr so tief. Gegenüber Mai 2015, dem Jahr der Flüchtlingskrise, hat sich die Zahl der Asylgesuche fast halbiert (2203 Gesuche).
Und was ist mit den Kosten, der Sozialhilfe, den Ausgaben für Integration? Auch hier hat sich der real existierende Rückgang längst niedergeschlagen. Der Bereich Migration kostete den Bund letztes Jahr 170 Millionen Franken oder rund 10 Prozent weniger als budgetiert. Gegenüber 2016 sanken die Migrationsausgaben um knapp 50 Millionen Franken. Auch die Kantone spüren die Entlastung. Sie haben begonnen, ihre Asylunterkünfte zu schliessen. Deren Betreiber wiederum streichen Jobs, weil es im Asylbereich immer weniger Arbeit gibt. Die Heilsarmee-Flüchtlingshilfe beispielsweise hat seit Anfang 2017 nicht weniger als 160 Mitarbeitende entlassen.
Auch im österreichischen Spielfeld machen Asylsuchende den Behörden übrigens schon lange keine Arbeit mehr. Der letzte Flüchtling wurde an diesem Grenzübergang am 6. März 2016 registriert, wie der «Kurier» berichtete. Also vor über zwei Jahren. Am Rande der Flüchtlingsübung von Anfang Woche wurde FPÖ-Innenminister Kickl darauf angesprochen. Er gab zu Protokoll: Das tue nichts zur Sache.
15 Kommentare zu «Unter Hysterikern»
Vielleicht hat sich auch in Afrika langsam herumgesprochen, dass die Todesrate der Wirtschafts-Emigranten nach Europa grösser ist als die Hoffnung der Emigranten, in Europa zu Wohlstand zu kommen und ihren Clans ständig Geld zu schicken.
Diese Leute sind ja nicht dumm. Eine gute Versicherung gegenüber den Schleppern, die teuer kassierten und Todesbarken als Mittel der Einreise über das Meer zur Verfügung stellten, waren diese humanitären (!) Organisationen, die sie auf hoher See aus diesen Todesbarken erretten. Haben dann diese Organisationen die Leute in Italien und Griechenland ausgeladen, waren ihnen das weitere Schicksal dieser Menschen völlig gleichgültig. Wenn die nicht mehr operieren, wird es besser und darum nahm die Anzahl ab, aber man kann es ja wieder fördern!
Das ist doch gut Herr Lenz, finden Sie das nicht? Scheinbar gibt es weniger Menschen welche die potentiell Lebensgefährliche Migration nach Europa versuchen. Man kann es Hysterie nennen, aber es wirkt. Darf ich Sie fragen, ob sie diese Wirksamkeit stört? Dieser Eindruck entsteht bei mir beim lesen.
Mit Wirksamkeit meinen Sie die Abschreckung durch die vielen Todesfälle unterwegs? Ist das die Strategie?
Und dann jeweils ganz verwundert fragen, warum eigentlich vorwiegend Männer kommen…
Es ist unbestritten, dass leider viele Politiker im In- und Ausland das Asylproblem nachhaltig zu eigenen Zwecken bewirtschaften. Deswegen aber von Asyl-Hysterie zu reden ist genauso am Ziel vorbei. Insbesondere wenn man vorübergehende Schwankungen der Asylzahlen oder damit verbundene relative Kostenverminderungen zur Hand nimmt um zu belegen, dass da irgendwie gar nichts ist. Ueber die absoluten Gesamtkosten schweigt sich der Artikel ja dann wohlweislich aus.
Das erinnert fatal an die Leute, die denken, sie könnten mit Wetterkapriolen, zb. kalten oder warmen Sommern/Wintern irgendeine Aussage für oder gegen die Klimaveränderung machen. Und damit irgendetwas beweisen.
Was wir heute erleben, ist eine Reaktion auf die Fehler der europäischen Asylpolitik der letzten 20 Jahre .
@Martin Frey: „Was wir heute erleben, ist eine Reaktion auf die Fehler der europäischen Asylpolitik der letzten 20 Jahre .“
Hm. Aber die Asylpolitik wurde doch in den letzten Jahren immer nur verschärft. Was dennoch? Sollen wir, fast 30 Jahre, nachdem die Mauer in Europa endlich beseitigt wurde, wieder eine neue bauen?
Haben denn Flüchtlingswellen wirklich keine Ursache vor Ort? Und für diese Ursachen ist auch niemand von ausserhalb irgendwie mindestens mitverantwortlich?
Sie können ja mal Ken Bugul & N Z Z eingeben und sich erkundigen wie aus der Innensicht die Situation vor Ort eingeschätzt wird; ist Ihnen aber sicher schon bekannt.
Worauf konkret ergründet sich denn die von Ihnen unaufhörlich erwähnte Verantwortung „der anderen“ gegenüber diesem Kontinent und seiner Bevölkerung?
„Zuerst kamen sie mit grossen Infrastrukturprojekten. Sie haben Stadien gebaut, Strassen und so weiter. Aber eigentlich wollen sie die Rohstoffe. Sie wollen den Boden. Jetzt ist Afrika dabei, seinen eigenen Grund und Boden zu verschachern. Madagaskar etwa ist zu mehr als der Hälfte verkauft. Im Bankbereich, in der Telekommunikation, bei den Dienstleistungen und im Energiesektor sind auf dem Kontinent ohnehin schon allenthalben ausländische Firmen präsent. Jetzt aber geht es um die Erde. Afrika verkauft sich selbst.“
Meinten Sie das? Und neben der wirtschaftlichen und politischen Einflussnahme sind da noch Kriege, in die alle möglichen Interessengruppen involviert sind. Und die direkte Ursache für die Flüchtlingsströme sind.
Eigentlich nicht – mich interessieren eher die von Ihnen erwähnten Interessengruppen (welche konkret?) und deren Mitverantwortung (In welcher Form und Handlung?) für die Migration?
Die interessieren Sie wirklich? Das glaube ich nun nicht.
Sonst würden Sie auch nicht solche Fragen stellen.
Doch, diese Sicht von Ihnen würde mich wirklich interessieren; insbesondere nach dem aufschlussreichen Link, den Sie einstellten.
@Sportpapi
Wie ich Ihnen umlängst mitteilte, habe ich auch kein Patentrezept. Aber klar die Ueberzeugung, dass es so wie in den letzten 20 Jahren nicht weitergehen kann. Und auch nicht weitergehen wird, wenn Sie die jüngsten politischen Entwicklung betrachten. „Haben denn Flüchtlingswellen wirklich keine Ursache vor Ort?“
Selbstverständlich haben sie das. Nur sind die Gründe mannigfaltig. Wie gesagt, man sollte nicht zuletzt auch hier zwischen echten Kriegsflüchtlingen und Armuts-/Arbeitsmigration unterscheiden.
„Und für diese Ursachen ist auch niemand von ausserhalb irgendwie mindestens mitverantwortlich?“
Doch, selbstverständlich. Nicht zuletzt die Entwicklungshilfe, dann die Klimaerwärmung, falsche Hoffnungen/Bilder, Krieg, Religion, Raubbau… Die Liste ist fast endlos.
@Martin Frey: Sie wissen also genau, was falsch läuft, was die gewählten Regierungen alles falsch machen.
Selber haben Sie aber keine Idee, wie man es besser machen könnte?
Und der Eindruck bleibt: Selbst da, wo Sie jeweils zögerlich einen Vorschlag präsentieren, bleibt das immer offen und vage. Warum benennen Sie nicht, warum die Ideen nicht umgesetzt werden. Und vor allem: was für ungewollte Folgen die Umsetzung hätte? Zum Beispiel mehr Rücknahmeabkommen, die man in der Regel mit dem Schmieren von korrupten Diktatoren erreicht.
Lesen Sie doch mal den Kommentar „Wettlauf der Härte“ heute. Etwas vom Besten und Klarsten, was es dazu zu sagen gibt.
Nichts von 20 Jahre offene Türen. Ganz im Gegenteil.
Und noch der Link dazu: https://www.tagesanzeiger.ch/zeitungen/wettlauf-der-haerte/story/17806679#mostPopularComment
Ich habe den Artikel auch gelesen, SP, und bestreite den Grossteil des Inhaltes nicht. Aber das ist genau der Punkt: Hauptgrund für den Rückgang der Flüchtlingswelle in den letzten zwei Jahren waren schmutzige Deals mit Unrechtsregimes. S. dazu meine Analogie zum Wetter.
Wir outsourcen unsere Verantwortung, anstatt unsere Hausaufgaben zu machen. Wollen wir das?
Sie werden sagen, welche Hausaufgaben?
Dazu ein aus meiner Sicht ausgezeichneter Link:
https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/sein-handy-seine-identitaet/story/17470333
Wo es hinführt, wenn wir Europäer die Verantwortung outsourcen:
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/welt/algerien-schickt-13000-fl%C3%BCchtlinge-in-die-w%C3%BCste/ar-AAz812O
Pontius Pilatus lässt grüssen. Dagegen ist Salvini ein Chorknabe….
@Martin Frey: Ich glaube, wir machen die Hausaufgaben sehr wohl. Soweit sie in unserer Macht stehen. Ob jetzt noch die Handies kontrolliert werden, um die Identität festzustellen, löst für mich kaum ein Problem. Zumal sich das schnell herumsprechen wird.
Wenn, dann geht es einmal mehr nur im internationalen Verbund. Danach sieht es aber nicht aus momentan. Vielmehr schiebt jedes Land das Problem von sich.