Die wirkliche Pisa-Lektion

Lesen und Naturwissenschaften haben in der Schule nicht den gleichen Stellenwert wie Mathematik. Foto: Georgios Kefalas (Keystone)
Mathematik: sehr gut
Naturwissenschaften: gut
Lesen: genügend
So haben die Schweizer Schüler im aktuellen Pisa-Test abgeschnitten. Bildungspolitiker und -experten kritisieren, die Resultate seien nicht aussagekräftig. Zu gross seien die methodischen Mängel der neu computerbasierten Studie. Der Ärger über die Methodik sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen: Die Ergebnisse bestätigen die Tendenzen der letzten Pisa-Tests. Schweizer Schulabgänger erzielen höchste Leistungen in der Mathematik; sie können mit den stärksten Nationen der Welt mithalten. Doch die hiesigen 15-Jährigen liegen gleichzeitig in den Naturwissenschaften nur im Mittelfeld – und fallen beim Lesen sogar ab.
Warum sind die Schweizer Schüler Mathegenies, aber schlechte Leser und nur durchschnittliche Naturwissenschaftler? Das hat mit dem Stellenwert der drei Fachbereiche in der Schule zu tun – und sollte den Bildungsverantwortlichen darum eben doch zu denken geben. Der Mathematikunterricht lässt sich über die gesamte Schulzeit hinweg durchstrukturieren, weil die Lehrmittel einen exakten Fahrplan vorgeben. In den Stundentafeln nimmt das Fach ausreichend Raum ein. Und in den Diskussionen um das Frühfranzösisch war immer klar: Zusätzliche Fremdsprachenlektionen dürfen sicher nicht auf Kosten der Mathematik gehen. Denn es sind Mathefähigkeiten, die in den wichtigen Branchen der Schweizer Wirtschaft gefragt sind. Das war früher die prosperierende Industrie, das sind heute die Banken und Versicherungen.
In Lehrmittel investieren
Das Lesen dagegen ist eine Teilmenge des Fachs Deutsch. Und als solche wird es in den Schulstuben stiefmütterlich behandelt. Grammatik gehört zu den «hard skills» und ist einfacher abzufragen. Es gibt aber keine Lehrmittel, die kontinuierlich und über die Schuljahre hinweg den systematischen Aufbau des Textverständnisses garantieren. Die Stundentafeln sehen zudem keine separaten Lektionen dafür vor. So bleibt es letztlich den Präferenzen der Lehrer überlassen, wie stark die Lesekompetenz in den Schulstunden gewichtet wird.
Dass dies nach wie vor zu wenig geschieht, verdeutlichen die Pisa-Tests. Anfang der 2000er-Jahre hatten die schlechten Leseresultate in der Schweiz einen heilsamen Schock ausgelöst; mit einer bildungspolitischen Offensive wurden fortan die Lesekompetenzen gefördert. Doch offensichtlich waren die Massnahmen nicht nachhaltig und konsequent genug. Mehr noch: Heute wird just in diesem Bereich gespart. Dabei würde sich gerade in Schulen mit hohem Ausländeranteil eine Investition in die Lesekompetenz lohnen. Denn wo zu Hause die Ressourcen fehlen, das Lesen zu fördern, muss die Schule mehr als nur den Grundstock legen. Die Lehrer fordern deshalb zu Recht: Hört auf, in diesem wichtigen Bereich zu sparen – oder wundert euch nicht über die Konsequenzen!
Und dann die Naturwissenschaften: Mantrahaft wird in der Schweiz über den Fachkräftemangel in den MINT-Berufen geklagt. Doch anständige Lehrmittel für diese Fachbereiche in den Schulen? Fehlanzeige. Die Kosten für deren Entwicklung sind zu hoch. Dabei zeigen Studien, dass es ausschlaggebend für den Lernerfolg ist, ob sich der Unterricht kontinuierlich an Lehrmitteln orientiert. Stattdessen werden genau diese von der Wirtschaft stark gefragten Inhalte in unscharf gelabelte Sammelfächer wie Realien, Mensch und Umwelt oder Natur und Technik integriert. Wirtschaftlicher Anspruch und schulische Realität klaffen hier weit auseinander. Will die Schweiz diesen Widerspruch lösen, muss ihr das etwas wert sein.
29 Kommentare zu «Die wirkliche Pisa-Lektion»
Die Klage über fehlende Lehrmittel kannn ich nach nachvollziehen. wenn ich mich daran erinnere, wie ich gute Lehrbücher auch in der Freizeit aus Interesse gelesen habe und sehe mit welcher Zettelwirtschaft die Schüler heute ihren Stoff lernen, vermute ich dass auch im Kopf manchmal der Zusammenhanng fehlt. Wer meint mit Google die Löcher nachträglich stopfen zu können irrt, denn um im Internet die Spreu vom Weizen trennen zu können, brauchht es eine solide Basis, auch Textverständnis.
Das Problem ist nicht, dass es keine oder alte Lehrmittel gibt, sondern dass die neuen Lehrmittel so edutainment-orientiert sind, dass sie im Schulalltag nicht zu gebrauchen sind. Die Schulbücher müssen den ideologiegetriebenen und mediengeilen Bildungsintelektuellen gefallen.
Eine zu strukturierte Schule – analog Singapur – möcht ich niemandem zumuten.
Auch wenn unsere geliebte CH vielleicht aufs Siegertreppchen steigen könnte.
Die Verschulung ist in der CH sowieso schon viel zu hoch. Kinder werden gefördert und gefördert und … sind trotzdem nicht glücklicher.
Eine unstrukturierte Schule – analog Namib Wüste – möchte ich auch niemanden zumuten. Auch wenn dies bedeuten würde, dass unsere geliebten CH Kinder viel lieber in die Schule gehen würden. Und ganz im Ernst … ich bin mir sicher, dass sie dadurch auch nicht glücklicher wären. Wetten?
„Es gibt aber keine Lehrmittel, die kontinuierlich und über die Schuljahre hinweg den systematischen Aufbau des Textverständnisses garantieren.“
Antolin ist ein webbasiertes System, das die Kinder zum Lesen motiviert und ihr Textverständnis mit Punkte belohnt (https://www.antolin.de/) Die ganze Klasse hat von der Primarlehrerin je einen Account bekommen.
Genau. Die Schule muss nun lediglich Punkte vorgeben, die zu erreichen sind und schon werden unsere Schüler die Lesekompetenz zum Nulltarif deutlich steigern.
Das Problem ist relativ einfach zu erörtern: Durch unsere Dialekte, sind wir eigentliche deutschprachige „Fremdsprachler“ und können nicht mit Oesterreichern und Deutschen in denselben Topf geworfen werden.
Zusätzlich zu dieser Mehrsprachigkeit taucht noch das Problem der prozentual höheren ausländischen Bevölkerung auf, die neben Schweizerdeutsch und Hochdeutsch ja auch noch ihre Muttersprache sprechen und deshalb mit 15 Jahren nicht überall gleich gut wie deutsche „Einsprachler“ sein können. Das alles muss uns aber nicht weiter stören solange wir in den MINT Fächern gut sind und unsere Wirtschaft gut läuft, sind es die Deutschen, die hierher ziehen und Schweizerdeutsch verstehen lernen müssen und nicht umgekehrt!
Geschätzte Frau Brunner. Ich kann Ihnen versichern, dass die Deutschen, die in die Schweiz ziehen, sehr schnell in der Lage sind, Schweizerdeutsch zu verstehen. Sprechen ist hier nicht gemeint! Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die CH Kinder zunehmend nicht mehr in der Lage sind, mittelmässig komplexe Texte auf deutsch zu lesen UND zu verstehen. Ich rede hier nicht von hoher Literatur, sondern ganz pragmatisch von einem Mobilfunkvertrag, Leasingvertrag, den AVB einer Versicherung, einem Mietvertrag … …. …. .
Aber das ist ja vielleicht überhaupt nicht gewollt, da sich die Leute ja viel einfacher verarschen lassen, wenn sie nicht kapieren, was sie unterschreiben.
Wenn sie schon Verträgen reden: Die werden auch nicht auf Deutsch abgefasst, sondern in der (gewollten) Geheimsprache, die auf Englisch so schön als „Legalese“ umschrieben wird.
Das sehe ich genau gleich. Ein vierjähriger Knirps versteht noch fast kein Hochdeutsch. Da kann man nicht von Muttersprache sprechen. Und in Hochdeutsch denken oder sogar träumen werden die wenigsten Deutschschweizer. Hochdeutsch ist eher die erste Fremdsprache.
abhängig vom kanton und der schulstufe wurden zum teil auch mathe-stunden für die fremdsprachen ‚geopfert‘ und es wird in vielen gemeinden sehr wohl zeit ins lesen investiert (lesenächte, priorisierter zugang zu den bibliotheken etc.). aber wenn wir als einwanderungsland heute partiell einen anteil von über 50% fremdsprachigen im kiga und der primarschule haben, lässt sich halt auch mit viel aufwand das niveau kaum halten.
Kleinklassen, Sonderklassen Fremdspracheklasse etc wurden aus Gruenden der Intergration abgeschafft. Die Spannweite in einer Klasse ist dem entsprechend extrem. Da helfen auch ein Heer von Heilpaedagogen nicht viel: das Niveau wird zwangslaeufig nach unten angepasst.
Och… wenn kV Stifte nicht wissen, wie mit Excel die Mehrwertsteuer gerechnet wird und es in der BMS ein Highlight ist, wenn die lineare Funktion verstanden wird, kann man kaum von Genie sprechen..
Ich kann aus eigener Praxis – Berufsschule – sagen, dass die Lesekompetenz nicht nur bei Kindern und Jugendlichen mit einem fremdsprachigen Hintergrund schwach ist, sondern auch auch bei denen ohne diesen.
Ich kann übrigens auch nicht verstehen, wie die Mathematikergebnisse der Pisa-Studie bei so schwacher Lesekompetenz so gut sein können. Vor allem in höheren Klassen und/oder bei komplexen Aufgaben kann man ja die Aufgabenstellung der Mathematik-Aufgaben nicht einfach mit einem + oder – ausdrücken, sondern man muss die Aufgabenbeschreibung verstehen.
Liebe Frau Müller
Genau so ist es. Da machen wir wahrscheinlich die gleichen Beobachtungen… aber eben Papier und Pisa sind geduldig… ach nein, PC und Pisa sind geduldig
Ich kann mich noch gut an meine Deutsch-Lektionen an meiner Mittelschule erinnern. Es war dem Deutschlehrer sehr wichtig, dass wir Gesinnungsgenossen wurden. Kein Buch wurde ausgelassen, das nicht systemkritisch mit der Rechten im Land abrechnete. Komma-Regeln und Grammatik wurde sträflich vernachlässigt und aus Textverständnis wurde Interpretation.
Ich gebe auch zu, dass es spannender ist, über Meinungen zu aktuellen Themen zu diskutieren, als ein Handwerk (Textverständnis, Textaufbau usw.) zu erlernen. In naturwissenschaftlichen Fächern, wo die eigene Meinung der SuS eher Nebensache ist, muss tagtäglich dieses Problem originell gelöst werden und dies mit weniger Wochenstunden.
Meine Tochter hat in der gesamten Mittelstufe kein einziges Diktat, keinen Aufsatz und keinen Vortrag in Deutsch schreiben müssen. Das ist offenbar im aktuellen Lehrplan nicht mehr enthalten. Aber Vokabeln in Englisch und Französisch bis zum Abwinken pauken, nur sprechen kann sie’s deshalb nicht!
Also: vermehrte Fremdsprachenlektionen einführen, aber nicht auf Kosten von Mathematik führt dazu, dass die Kinder von allen Sprachen ein Bisschen können, dabei aber weder in der Lage sind, ihre Muttersprache fehlerfrei lesen noch schreiben zu können. Bravo!
Eine Sache sind die vielen Schüler mit Migrationshintergrund, die zu Hause kein Deutsch sprechen und dann neben Deutsch und Englisch auch noch Französisch lernen müssen.
Das man dann in Fächern wie RUK (Religion und Kultur) Prüfungen schreiben lässt und für Musik/Zeichnen und Turnen Noten vergibt müsste auch nicht sein.
„für Musik/Zeichnen und Turnen Noten vergibt müsste auch nicht sein.“
Warum? Weil die Fächer völlig unwichtig sind? Weil Noten setzen und damit wenigstens einmal im Jahr eine Rückmeldung zu den Lernprozessen zu geben einen unverhältnismässigen Aufwand bedeuten?
Danke für diesen Artikel, Frau Birrer. Sie haben den Finger auf den wunden Punkt gelegt.
Trotz methodischen Mängel – die Resultate sollten zum Handeln anregen: Eine wohlwollende, freundliche Lernatmosphäre und Schwerpunkte setzen, Leistungen einfordern. Das geht und sieht man tagtäglich in unseren Schulen.
Lesen und verstehen, Texte schreiben, Hörverstehen – das ist aufwendig und wird manchmal mehr oder manchmal weniger in den Schulen gemacht. Entscheidend ist, dass die Lehrerin oder der Lehrer Freude an der Sprache hat.
Zur Leseschwäche sind nicht nur die Schulen schuld, sondern auch die Eltern.
Im Gegensatz zu Mathematik die sich halt nun mal besser im Schulunterricht vermitteln lässt, kann Sprache & Sprachverständnis (Muttersprache des Gebietes, nicht Fremdsprache was ja nicht dieser Pisa Studienteil ist) auch im privaten entwickelt werden.
Welche Eltern halten ihre Kinder heute noch an vermehrt Bücher zu lesen ? Das braucht halt auch etwas Zeit ausserhalb der Schule und kann nicht in einer Schulstunde abgehalten werden. Zudem hilft dieses Sprachverständnis auch in den anderen Fachern weiter. Wer eine Matheaufgabe nicht lesen und verstehen kann, kann diese auch nicht lösen.
Welche Eltern lesen selber Bücher? Und Zeitung?
Zitat von Kanye West:
„I’m a proud non-reader of books“
Schüler sollten ermuntert werden, freiwillig gute Literatur zu lesen. Aber heutzutage ist Lesen im Vergleich zu digitalen Ablenkungen wohl langweilig.
Frau Birrers Menschenbild gilt ausschliesslich dem homo oeconomicus. Sie versteht die Schule offensichtlich nur als Dienstleisterin der Wirtschaft. Die Schule muss indessen mehr: Auf das Leben vorbereiten und dies besteht auch aus Kultur. Dazu gehören auch Fächer wie Geschichte, Geographie und politische Bildung. Aber diese Fächer sind auch in den PISA-Studien nicht gefragt, da die Finanzierung der PISA-Studien teilweise über die Privatwirtschaft geschieht. Es liessen sich durchaus PISA-Tests ausserhalb von Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen aufbauen, schliesslich sind die entsprechenden fachdidaktischen Forschungen in anderen Disziplinen in den letzten Jahren sehr intensiviert worden.
Sie reden (schreiben) mir aus der Sele. Pisa, Bologna und nun der Lehrplan 21 in unseren Schulen sind Kulturkiller. Wir gehen auf einer 20 zu 80 Gesellschaft zu, wobei 80% bildungsmässig auf der Strecke bleiben soll.
Deutsch lernen die Kinder – neben dem Lesen spanndender Bücher – vor allem in den Realienfächern. Da hat die Lehrerin die Chance in lebendigen Geschichtsstunden oder interessanten Techniklektionen die Kinder für neues Wissen zu begeistern. Präzise und anschauliche Sprache ist dabei das Medium, um die Bildungsinhalte zu vermitteln. Alle Studien zeigen, dass bei uns primär die Knaben ihre liebe Mühe mit dem Deutsch haben. Doch man muss sie richtig abholen. Wenn sich Buben für eine Sache begeistern lassen, dann sind sie auch bereit, darüber zu reden. Ein attraktiver Realienunterricht ist eine Fundgrube für die Erweiterung des Wortschatzes. Doch Geschichte, Geografie , Natur und Technik standen in letzter Zeit völlig im Schatten des frühen Sprachenlernens, wo fast alle Energie hinfloss.
Als ich 1965 in die Schweiz kam, war ich sehr beeindruckt vom Bildungsstand
der Gleichaltrigen. Ich bewunderte zudem die Effizienz bei der Arbeit; jeder Handgriff war wohlüberlegt und sass, etwas, dass ich nicht gelernt hatte.
Jahre später, nachdem ich genügend Deutsch gelernt hatte, um eine Handelsschule und später die Matur bei der AKAD zu absolvieren, „profitierte“ ich davon, dass die Anforderungen, um diese Ziele zu erreichen, gesunken waren. Und dieser Trend hat sich fortgesetzt. Es gibt sicher verschiedene Gründe für diese Entwicklung, eines davon scheint mir, dass man begonnen hat, das Lernen nicht als ein Privileg zu sehen und als etwas Schönes, dass viel Freude, Erfolgerlebnisse und Genugtuung geben kann, sondern als Tortur und Plagerei für die Kinder, was katastrophal ist.
Die Diskussion ist jedes mal wieder die gleiche und das entscheidende Kriterium wird unterschlagen: Länder mit guten PISA-Rankings haben einen vergleichsweise homogene Bevölkerung. In der Schweiz hat ein Drittel der Bevölkerung einen Migrationshintergrund. In vielen Schulklassen können 80% oder mehr der Kinder kaum Deutsch, wenn sie eingeschult werden. Wir sind schlicht überfordert mit der allseits beschworenen Integration all der bildungsfernen, migationshintergründigen in Massen eingewanderten unverzichtbaren Fachkräften.
Wenn man der Studie glauben will, dann verlässt ja einer von fünf Absolventen der Volksschule die Schule als funktioneller Analphabet. Was in meinen Augen eine völlige Bankrotterklärung wäre, in notabene einem der teuersten Schulsysteme der Welt. Dass es nur an den finanziellen Mitteln liegt wie gerne behauptet, glaube ich persönlich eher weniger, kann es aber nicht schlüssig beurteilen.