Eine Wahl, die etwas bewirkt

Etwas bewirken: Warum sollte man das wollen? Sich das Leid in der Welt zu vergegenwärtigen und vorzustellen, fällt nicht leicht: Hunderte Millionen Menschen sind permanent unterernährt, Dutzende Millionen sind in diesem Augenblick auf der Flucht. Wenn wir uns wirklich vorstellen, was ein solches Schicksal bedeutet – was würden wir geben, um es zu vermeiden? Wohl fast alles.

Über zwanzigtausend Kinder sterben täglich an den Folgen der absoluten Armut. Nehmen wir hypothetisch an, dieses Massensterben ereignete sich in unserer eigenen Stadt: Auf dem Weg zur Arbeit werden wir täglich mit dem unvorstellbaren Leid konfrontiert. Die zwanzigtausend Kinder – direkt neben uns. Wie würden wir reagieren? Würden wir unser Leben ändern? Etwa alles Luxusgeld spenden und unsere Berufswege auf die Leidminderung ausrichten? Welche Themenbereiche würden wir politisch priorisieren? Stadtentwicklung, Kulturförderung, den öffentlichen Verkehr – oder die nachhaltige Katastrophenhilfe?

Nicht wenige würden ihr Leben wohl in erheblicher Weise ändern, wenn sich das Massensterben in der eigenen Stadt ereignete. Das wirft sofort die Frage auf: Was, wenn es sich in der Nachbarstadt zutrüge? Im Nachbarland? Wäre es uns dann plötzlich egal? – Warum sollte die Distanz eine Rolle spielen, wenn wir sie weiter vergrössern? Leid wird nicht dadurch weniger schlimm, dass man es räumlich verschiebt.

Spenden können einen selbst glücklich machen.

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Hunger ist kein unlösbares Problem: Mangelernährtes Kind in einer Klinik im Tschad. Foto: Rebecca Blackwell (Keystone)

«Aber was können wir konkret tun?», wird man sogleich fragen. Nachweislich viel: Entwicklungsökonominnen wie die MIT-Professorin Esther Duflo haben mit randomisiert-kontrollierten Studien interessante Daten generiert, die aufzeigen, welche entwicklungspolitischen Massnahmen nachhaltig-effektiv sind. Die Verteilung von Malaria-Bettnetzen etwa rettet im Schnitt für rund 3500 Dollar ein Menschenleben und fördert auch die Bildung sowie die wirtschaftliche Entwicklung: Kinder, die unter Bettnetzen schlafen können, werden weniger oft infiziert, verpassen weniger Schultage und verdienen später nachweislich mehr.

Das Wirtschaftsmagazin «ECO» hat neulich über Menschen aus der Schweiz berichtet, die einen erheblichen Teil ihres Einkommens – 10 bis 50 Prozent – an effektive Hilfsmassnahmen spenden. Diese «effektiven Altruisten» sind durch die folgenden beiden Einsichten motiviert: 1) Bei der Rettung von Menschenleben steht viel mehr auf dem Spiel als bei zusätzlichem Luxusgeld für einen selbst, und 2) Spenden von 10 Prozent und mehr sind nicht etwa zwingend ein Opfer, sondern können einen selbst – wie die Glückspsychologie zeigt – auch glücklicher machen. Win-win.

Politisch-strukturell bedeutet dies unter anderem, dass das Entwicklungshilfebudget auf mindestens 1–2 Prozent des BIP anzuheben ist. (Die «humanitäre» Schweiz erreicht mit aktuell 0,45 Prozent das UNO-Mindestziel von 0,7 Prozent nicht.) Und es bedeutet, dass Massnahmen zu ergreifen sind, die verhindern, dass unser Staat – etwa durch die Ermöglichung von Steuertricks – aus Entwicklungsländern mehr Geld abzieht, als er an Entwicklungshilfe leistet.

Wer mehr als 10 Prozent des Einkommens spendet, kann das Geld auch politischer Arbeit zukommen lassen: Strukturelle Veränderungen werden nicht durchkommen, wenn sich nicht hinreichend viele Aktivisten und Aktivistinnen Vollzeit um die gesellschaftliche Überzeugungsarbeit kümmern können.

Das gilt es natürlich auch zu beachten: Die Wahrscheinlichkeit, dass die eigene Wahlstimme noch etwas bewirkt bzw. verändert, ist praktisch null. Um viele Grössenordnungen wichtiger ist daher das Engagement – oder das Spenden an die Ermöglichung vieler Vollzeit-Engagements – vor und nach den Wahlen. Während man aber wählt und für die Wahlen mobilisiert, lohnt es sich im Erwartungswert dennoch, Kandidierende und Parteien zu bevorzugen, die sich schwerpunktmässig um Themen kümmern, bei denen vergleichsweise viel Leid auf dem Spiel steht: Entwicklungszusammenarbeit – Hunderte Millionen Menschen sind permanent unterernährt –; Migration – Dutzende Millionen Menschen sind auf der Flucht–; Klimawandel – alle künftigen Generationen (welche die aktuelle Generation zahlenmässig massiv überwiegen) könnten negativ betroffen sein –; Tierschutz – alleine in der Schweiz leiden jährlich rund 60 Millionen Landtiere in Tierfabriken. Eine detaillierte Wahlempfehlung aus dieser «effektiv-altruistischen» Sicht findet sich hier.

10 Kommentare zu «Eine Wahl, die etwas bewirkt»

  • Ralf Schrader sagt:

    Probleme löst man auf der Ebene, auf welcher die entstehen und existieren. Individuelles Engagement auf der sozialen oder gar gesellschaftlichen Ebene schadet mehr als es nutzt. Je mehr aus der Bevölkerung kommt, umso mehr zieht der Hauptverantwortliche, der Staat, sich zurück.

    Das einzige, was Wahlen bewirken, ist die Restauration des Status quo. Würden Wahlen etwas verändern, wären sie längst verboten. Das Beste, was der Bürger tun kann ist, am Wahltag zu Hause zu bleiben und keinen Rappen und keine Sekunde Zeit für Edelmütiges zu spenden und damit die Verantwortlichen zum Handeln zwingen.

    • Darja Rauber sagt:

      Ja, machen Sie es sich doch bequem in Ihrer Selbstgerechtigkeit und legen Sie die Füsse auf den Tisch! Mehr gibt es zu einem solch ignoranten und zynischen Kommentar eigentlich auch nicht zu sagen. Ausser vielleicht dies: Ich würde nur schon viel dafür geben, wenn Menschen wie Sie auch nur einen einzigen Tag und eine einzige Nacht in einem Flüchtlingslager oder Kriegsgebiet verbringen müssten! Und ich finde Mitbürger wie Sie beschämend – auch wenn wir zufällig denselben roten Pass haben sollten, so wirken Sie doch wie ein Alien auf mich mit Ihrer Haltung!

    • Felix Rothenbühler sagt:

      „der Hauptverantwortliche, der Staat“ – ja, wer genau ist denn das? Was tut er, was nicht? Und warum?

      Gehen Sie wählen. Genau darum.

    • Klaus Meier sagt:

      Genau – mit diesen sattsam bekannten Plattitüden wird jedes Engagement im Ansatz abgewürgt. Engagement und auch Zivilcourage ist, wenn man es trotzdem tut.

    • Linus Huber sagt:

      @ Ralf

      Sie dürften mit Ihrer Ansicht nicht komplett falsch liegen. Die Demokratie beinhaltet die Gefahr des Kollektivismus, was heissen soll, dass immer mehr Probleme zwecks Lösung auf die staatliche Ebene und heute oft auf auf die Ebene internationaler Organisationen gehoben werden. Wenn ich Sie richtig verstehe, betrachten Sie das persönliche Engagement, welches diesen Trend fördert, höchst fragwürdig, wobei Sie andererseits es ebenfalls als negativ zu betrachten scheinen, wenn der Staat sich zurückzieht. Ich glaube darin eine Inkonsistenz zu erkennen.

      Probleme zu deren Lösung zunehmend auf eine höhere hierarchische Ebene zu heben ist ein Trend, welcher mit unzähligen ungeahnten negativen Konsequenzen verbunden ist.

  • Peter Meier-Schlittler sagt:

    Etwas bewirken? Werden wir wenn wir die Scheinheiligkeit ablegen. Bei den UNO-Irak-Sanktionen starben z.B, eine halbe Million Kinder an fehlender medizinischer Versorgung – Frau Albraigth akzeptierte dies in einem Interview. Heute strömen Flüchtlinge nach Europa und nur nebenbei wird erfragt, weshalb diese Menschen nur kommen. Etwas bewirken werden wir, wenn wir die Verantwortlichen dafür benennen und vor dem Kriegesverbrechertribunal in Den Haag anklagen und wenn es keine Heerscharen von Organisationen mehr gibt, welche vom Elend anderer Menschen leben.

  • Ursin Keller sagt:

    Danke für diesen Beitrag! Auf das Spenden sollte in der politischen Arbeit tatsächlich viel mehr wert gelegt werden. Bei ethisch motivierten NGOs und Parteien ist das Geld immer knapp. Mit mehr Geld könnte man viel mehr Stellen schaffen und viel mehr bewirken.

  • Anh Toàn sagt:

    Einerseits schotten wir unsere Märkte ab, wo die Schwellenländer Exportchancen hätten (Landwirtschaft), schliessen sie von unseren Arbeitsmärkten aus, aber unsere gut ausgebildeten Manager und Fachkräfte gehen bei denen arbeiten. Wir beuten deren Rohstoffe und Arbeitskraft aus und liefern den uns dabei helfenden Diktatoren Waffen. Und dann spenden wir einen Teil unserer Gewinne, wobei ein wesentlicher Teil für Löhne und Reisekosten unserer Brunnenbauer und Kondomverteiler verwendet wird. Oder wir geben Entwicklungshilfekredite gegen Zinsen.

    • Anh Toàn sagt:

      Das ist, wie wenn Bill Gates die Hälfte dessen spendet, was er sich mit illegalen Marketingpraktiken, welche Wettbewerbsbehörden zwar verfolgten, jedoch nicht verhindern konnten, zusammengerafft hat. Altruist, klar doch!

      • Martin Rathgeb sagt:

        Altruisten sollten natürlich versuchen, auf möglichst sauberem Weg so reich wie möglich zu werden. Ärzte zum Beispiel verdienen hierzulande im Schnitt über 200’000 Franken pro Jahr. So kann man als motivierter Altruist über 100’000 pro Jahr an politische Organisationen spenden, die sich effektiv um all die Probleme kümmern, die Sie ansprechen. Und man gehört mit dem verbleibenden Einkommen immer noch zu den global reichsten Menschen.

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