Die Etikette entspricht nicht dem Inhalt

1980 sagte Bundesrat Hürlimann bei der Eröffnungsfeier: «Der Gotthard-Strassentunnel ist kein Korridor für den Schwerverkehr.» Der Verkehr hingegen machte es dann gleich wie das Wasser: Er nimmt den Weg des geringsten Widerstandes.

Widerstand erwuchs dem Prinzip der freien Fahrt 1984 mit dem Alpenschutzartikel in der Bundesverfassung. «Der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze erfolgt auf der Schiene» und «Die Transitstrassen-Kapazität im Alpengebiet darf nicht erhöht werden» heisst es dort. 20 Jahre später hat man zwar eine gewisse Wirkung im Sinne der Verkehrsverlagerung erzielt. Allerdings wird die Limite von jährlich 650’000 Transitlastwagen pro Jahr um fast 100 Prozent überschritten. Politische Vorstösse, diese gesetzliche Grenze, z. B. über eine Alpentransitbörse, einzuhalten, sind gescheitert. Sie sind gescheitert an jenen Kräften, die heute für eine zweite Röhre eintreten. In dieser Situation eines nur ungenügend erfüllten Verfassungsauftrags tritt der Bundesrat nun nicht etwa auf die Bremse, sondern er gibt mit dem Projekt Bau einer zweiten Röhre noch Gas in Richtung einer Unterwanderung der Verlagerungspolitik.

Die Vorlage des Bundesrats ist eine Schlaumeierei.

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Nervenprobe: Ferienstau Richtung Gotthard. (Foto: Keystone)

Wer nämlich glaubt schon ernsthaft, dass eine einmal gebaute zweite Röhre zusammen mit der ersten mittelfristig nur zur Hälfte genutzt werden wird? Von zwei Seiten nämlich wird der Druck kommen, irgendwann in der Zukunft alle vier Spuren freizugeben. Zum einen von den Schweizerinnen, die kaum verstehen werden, dass die künftigen Staus vor Ostern, Pfingsten und an den Ferientagen gleich lang sein werden wie heute, zum andern von den Europäern. Die uns bekannte EU setzt nämlich auf freie Fahrt auf der Strasse und nicht auf Alpenschutz. Und da die Schweiz in den Verhandlungen mit der EU mit ungleich langen Spiessen dasteht und nach der letzten Volksabstimmung nun besonders auf Entgegenkommen angewiesen ist, würde eine gebaute zweite Röhre geradezu ermuntern, dass die EU uns künftig unter Druck setzt.

Die Vorlage des Bundesrats ist eine Schlaumeierei. Sie begünstigt jene, die eigentlich für einen vierspurigen Tunnel sind: Diese Leute können sich hinter der bundesrätlichen Formulierung verstecken. Sie bricht die Solidarität im Alpenraum auf, indem sie bei den Bündnern und Wallisern eine Sankt-Florians-Mentalität provoziert, die das künftige Verkehrswachstum den Urnerinnen zuschanzt. Sie gibt sich als landesverbindende Aktion zugunsten des Südkantons, obschon die Tessiner bereits in zwei Jahren eine Supereisenbahn, genannt Neat, erhalten werden, wie sie sie heute die Walliserinnen geniessen. Und punkto Verfassungsmässigkeit gibt sie sich problemlos, obwohl der einmal gebaute Tunnel die Abstimmungssituation bei einer allfälligen Änderung des Verfassungsartikels wesentlich beeinflusst. Sie begünstigt dann jene Stimmen, die für einen Vollbetrieb sind, denn der Tunnel ist dannzumal gebaut und bezahlt. Sogar das Bundesamt für Justiz schreibt dazu, diese Vorgehensweise sei staatspolitisch problematisch.

Ich werfe dem Bundesrat nicht vor, er wolle eigentlich zu einem Vierspurbetrieb verhelfen, treibe ein falsches Spiel. Aber ich denke, dass er die Folgen seiner Vorlage falsch einschätzt. Immerhin bemüht der Bundesrat für seine Vorlage die Etiketten «Sanierung» und «Sanierungsröhre». Anschrift und Inhalt stimmen jedoch nicht überein. Der Bau einer zweiten Röhre bedeutet eine Kapazitätserweiterung. Sofern das der Nationalrat nicht merkt, wird es das Volk tun.

16 Kommentare zu «Die Etikette entspricht nicht dem Inhalt»

  • Roland K. Moser sagt:

    Natürlich soll der Gotthard-Tunnel anschliessend auf 4 Spuren befahren werden. Alles andere ist eine weitere PR-Lüge des BR um ein bestimmtes Abstimmungsergebniss zu erzielen.

    • Christoph Bögli sagt:

      Allerdings. Wie scheinheilig gewisse Verkehrspolitiker und der BR in der Sache argumentieren erinnert mich bedenklich an den berüchtigten Ausspruch „Niemand hat vor, eine Mauer zu bauen..“. Das Offensichtliche zu leugnen ist in der Frage eigentlich nur noch tragikomisch..

  • Thomas Jobs sagt:

    Es ist halt wie damals beim Bau der Autobahnen: „Die müssen nur von Stadt zu Stadt gehen, so viele Autos gibt es ja nicht“! Und genau so vor 20 Jahren mit dem nicht gewollten Korridoe!
    Nur: wie hoch war die CH-Bevölkerung vor 50 Jahren? Und wie hoch vor 20 Jahren? Und heute?
    Das ist wie ein Rechenfehler, welcher in eienm Programm immer wieder mitgenommen wird und keiner will ihn korrigieren!

    • Fuchs Werner sagt:

      Herr Jobs
      Sie haben noch etwas vergessen! Wie gross war die Nutzungsfläche für unsere Landwirtschaft, für unser Erholungsgebiet vor 20 und 50 Jahren. Die Grünfläche der CH wurde in den vergangenen 50 Jahren immer kleiner. Eine zweite Röhre am Gotthard wäre ein Skandal.

      • Peter Berger sagt:

        Zum einen verstehe ich ihr Anliegen gut. Denke jedoch, und sie dreht sich doch… Aus diesem Grund wäre es auch fatal alle zukünftigen Anliegen des ÖV auf 50 Jahre zurück zu Stufen inkl. Inestitionsmenge, die Arbeitszeiten zu erhöhen, die Mobilität einzuschränken und Zuguterletzt alternative Energie auch wie vor 50 Jahren zuzulassen. Die Zeit läuft, der Walensee und Region beweisen das Gegenteil. Nämlich gute Lebens- und Luftqualität. Verstehen Sie die positive Veränderung! Oder ist Sturheit eine therapierbare Krankheit?? Dann beginnen sie damit. Es leben ja viele Menschen auf unsere Erde.

      • ginsig sagt:

        was um himmelswillen hat eine 2.röhre mit grünflächen zu tun??ob die 2.röh kommt,oder nicht,der verkehr wird zunehmen,so sicher wie das amen in d kirche. -nur der rückstau,der wird sich auf die felder und flure verlagern.es wäre an der z dass D und I endlich endlich ihre aufgaben lösen und bei ihnen die schienen so zubereiten,dass der schwerverkehr 2016 wirklich auf die schiene gezwungen werden kann.dann ist die 2.rö mit je einem fahrstreifen für alle nur zur besseren sicherheit und flüssigerem verkehr gegeben.und noch was,was,wenn das Volk zu einer 2.r. ja sagt?!

  • Alois Eichneberger sagt:

    Ich habe noch nie eine so klar und gut formulierter Zusammenfassung zum Thema gelesen. Danke.

  • heidi reiff sagt:

    Hoffe, dass noch viele Grünflächen für unsere Kühe bleiben oder haben die Fussballclubs Vorrang mit künstlichem Rasen ?

    • Roland K. Moser sagt:

      Für die Wirtschaft ist es gut, wenn alles zubetoniert wird. D.h. es macht nichts, wenn wir 100 % der Lebensmittel für bald 9 Millionen Menschen importieren müssen.
      Natürlich ist es für die Schweiz schlecht. Aber das Bundesirrenhaus arbeitet eben für die Wirtschaft.

  • M. Nussbaum sagt:

    Es wird allerhöchste Zeit am Gotthard endlich mal auf 4 Spuren auszubauen.

    • Margot sagt:

      Für was wurde eigentlich die Neat gebaut?!?
      Soll erst mal in Betrieb genommen werden. Mit 4 Spuren besteht kein Anreiz für die Verlagerung auf die Schiene!

    • South99 sagt:

      Wozu eine zweite Röhre? Für die 20 Tage im Jahr wo sich ein Stau von 1 ½ Stunden bildet macht wirtschaftlich kein Sinn

  • Martin sagt:

    Gut geschrieben, Herr Stadler.

    „Ich werfe dem Bundesrat nicht vor, er wolle eigentlich zu einem Vierspurbetrieb verhelfen, treibe ein falsches Spiel.“ Nicht noetg, denn BR Leuthard proklamiert dies inzwischen unverbluemt.

  • Martin Gruner sagt:

    Der Gotthard ist wohl der wichtigste Verkehrsknoten Punkt in den Süden überhaupt. Ich finde es eine Zumutung, dass es im längsten Strassentunnel der Schweiz Gegenverkehr gibt! Die Sicherheit aus baulicher Sicht ist im Gotthard eine Katastrophe. Keine zweite Röhre wegen dem Alpenschutz? Nun, wenn die Autos im Stau stehen vor dem Tunnel, im Frühjahr oder Sommer, laufen die Motoren auch, wegen der Klimaanlage oder der Heizung und die Luft wird verpestet. Kann der Verkehr einfach durchfahren, hat dies bestimmt auch gute Auswirkungen auf die Alpen.

  • Josef Marti sagt:

    Da ja das Establishment in die EU will müssen vier Spuren so oder so realisiert werden, alles andere ist in einer 17 Mio Schweiz Augenwischerei.

  • Peter sagt:

    Sündhaft teure Infrastrukturen Bau und Betrieb/Unterhalt. Für wen? Alpenquerender Schwerverkehr, der zuvor aus der ganzen Welt, zu den NORDSEEHÄFEN gezogen, und dann durch die Alpen getrieben wird. Logistikblödsinn. Nochwas: Nach einer Neueinschätzung Norkoreas, über seine Geopolitische (Wirtschaft) Lage, fiele auf, dass ein Schienenkorridor zwischen Asien und Europa möglich wäre. Jeder einzelne Fisch unserer Weltmeere wäre besser dran. Wir auch. Warum wird der Kriegszustand dort um jeden Preis aufrechterhalten? Natürlich würden auch Nachteile mitfahren. Gretchenfrage: Globalisierung?

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