Mein Sohn schafft das. Oder?
Ob das wohl gut kommt? Ich wandere zusammen mit dem zehnjährigen Sohn in der Nähe von Bern, südlich der Gemeinde Krauchthal, es ist ein schöner Frühlingstag, und wir haben eben das Fluebabi entdeckt. Es ist ein etwa sechs Meter hoher Pfeiler aus Sandstein, der elegant geschwungen in die Höhe strebt. Er steht auf einem runden Sockel, und an diesem balanciert der Zwergenkönig gedankenverloren entlang. Unter ihm geht es mehrere Meter hinab ins Dickicht, wie weit ist unklar, da das Monument auf einem Felssporn steht. Bei jedem Schritt reiben die Wanderschuhe am sandigen Stein, finden meist sofort Halt, manchmal rutscht der Fuss noch zehn Zentimeter hinunter. Das stört den Jungen nicht, konzentriert und neugierig klettert er weiter. Ob er weiss, dass ich ihn beobachte? Und wie es mir die Pobacken zusammenzieht, je steiler die Wand wird, in der er klettert?
Die Ermahnung liegt mir auf den Lippen, doch ich halte sie bewusst zurück. Den Gedanken verdrängen, was passiert, wenn der Fuss weiter abrutschen und der Junge im Gestrüpp verschwinden würde. Ihn einfach nicht zu Ende denken. Dieses Unbehagen gilt es auszuhalten und guten Mutes an die Fähigkeiten meines Sohnes zu glauben. Denn er klettert viel besser als ich, ist leichter, seine Gedanken sind unbelastet, das Scheitern liegt ihm fern. Eigentlich wunderbar, wäre da nicht … nein, positiv denken ist angesagt! Kompromisslos!
Gitterboden auf 34 Meter Höhe
Bald habe ich die Anspannung überstanden, der Zwergenkönig ruht auf einer Felsplatte in der Sonne. Ich gehe zu ihm – als der auf Sicherheit bedachte Erziehungsbeauftragte wähle ich natürlich den sicheren, viel längeren Weg rund um die Säule herum, wo der Aufstieg weniger schwer ist. Und lasse mir nichts anmerken, sondern lobe ihn mit einem lockeren Spruch.
Die Wanderung geht weiter, sie führt anspannungsfrei durch Wälder und auf den Bantigerturm. Beim Besteigen der fast 34 Meter hohen Plattform fällt der Blick durch die Gitter der Treppenstufen hinunter. Eine schwindelige Sache, aber dennoch herrscht Gewissheit, dass niemand runterfällt. Die meterhohen Geländer aus massivem Stahl beruhigen den Wanderpapa und lassen ihn die Aussicht auf Bern und die Berner Alpen geniessen.
Selber Mut beweisen
Eine halbe Stunde später ist wieder fertig mit der Lockerheit. Eine zweite Felsformation aus Sandstein lockt den Sohn, diesmal ist es ein weiter Bogen, der von der Seite her gesehen aussieht wie ein Elefant und hier in der Gegend unter diesem Namen bekannt ist. Auch da geht es steil bergab – ohne Schrammen käme er bei einem Sturz sicher nicht davon, geht mir durch den Kopf. Ich nerve mich, dass ich schon wieder so denke. Höchste Zeit, dem Sohnemann nachzuklettern und selber die kleine Mutprobe zu bestehen. Mich daran zu erinnern, wie ich früher geklettert bin ohne den leisesten Selbstzweifel. Wie ich manchmal runtergefallen bin, mir Schrammen geholt habe. Und es gleich nochmals versucht habe.
Etwas später sitzen wir zusammen in der Abendsonne, sprechen über unser heutiges Abenteuer und rätseln, wie der Elefant entstanden sein könnte. Erst tags darauf lese ich nach, dass es zwei Versionen gibt: Die eine erklärt die unterschiedliche Erosion durch Wasser, Wind, Frost und Salze damit, dass im Fels verschiedene Spannungsverhältnisse herrschten. Wo mehr Druck war, blieb mehr stehen. Die zweite Erklärung ist menschlicher Art: Gelangweilte Steinmetze hätten während des Baus der nahen Burg Geristein – heute ist nur noch ihre Ruine anzutreffen – zum Zeitvertrieb noch etwas am Felssporn gearbeitet. Wie auch immer – es ist ein Familienkletterpark der besonderen Art entstanden. Auch wenn mein Sohn mich erst davon überzeugen musste.
Die Wanderung führt von Krauchthal südwärts Richtung Fluehüsli, wo das Fluebabi (Koordinaten 2’608’550 / 1’205’405) hinter einer Krete steht. Dann weiter den Hügelzug entlang zum Bantiger und wieder nordwärts zur Ruine Geristein. Hier findet man den Elefanten auf einem Felssporn (2’606’350 / 1’204’340). Bei Krauchthal den Weg über Thorberg wählen; zwischen Hübeli und Lindenfeld hat der Sturm Burglinde den Wanderweg zerstört. Er wird im Frühling wieder hergerichtet.
Lesen Sie vom Wanderpapa auch die Postings «Wandern mit Kindern: Wie hart darf es sein?» und «Winterwandern mit Kleinkind?».
14 Kommentare zu «Mein Sohn schafft das. Oder?»
Hallo Rémy
Danke Rémy für den Bericht. In fast allen Kindern ist das hochklettern im Herzen. Sie wollen die Welt halt von oben anschauen.
Das wichtigste ist, wenn die Kindern klettern wollen, ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Es gibt heute ausgezeichnete Kinder-Kletterlager wie sie technisch bestens ausgebildet werden. Somit bekommen die Kindern und Eltern eine ganz neue Sichtweise vom Klettern und den Bergen.
So lernen sie, das Gefahr und Schwierigkeit nicht das gleiche sind. Meine Tochter Sarah Elena besuchte bereits mit 10 Jahren diese Lager, wo sie von hervorragenden Bergführern super ausgebildet wurde. Heute mit 17 Jahren hat sie bereits 20 Viertausender bestiegen. ( ich will nicht bluffen)
Ich wünsche schöne Touren!
Mit besten Grüssen
Raphael Wellig
Hallo Raphael
Danke für den Tipp. Übung macht den Meister, das stimmt. Auch Eltern lernen mit zunehmender Erfahrung, was ihre Kinder können und was sie ihnen zutrauen dürfen.
Auch dir ganz tolle Touren.
LG Rémy
Arme Kinder, die nicht klettern dürfen.
Danke für Ihre Kommentare. Ich finde, es muss jede/r vor Ort und je nach Situation selber entscheiden, ob das Klettern verantwortbar ist oder nicht. Wichtig ist, dass man bewusst entscheidet.
Aufgrund meines Textes und der Bilder ist die Frage der Verantwortlichkeit für die Leser dieses Beitrags wohl schwierig zu bewerten.
@ Meier: und noch viel toller und cooler ist es, ein Kind zu haben mit intaktem Rückenmark UND Kindheit! Wenn ein Kind sich langsam an seine Grenzen rantasten kann wird es seine Grenzen kennenlernen. Und mit diesem Wissen sind Kletterpartien über 2 Meter ohne Seil durchaus machbar.
Bevor man riskiert eins seiner Jungtiere durch fallschaden zu verlieren, könnte man auch einfach in Erwägung ziehen, es anzuseilen.
Bevor ich ein Kind dem Risiko aussetzen, mehr als 2m zu fallen, würde ich es immer anseilen. Und wenn es auf Stein/Beton fallen würde auch bei weniger.
Natürlich ist es toll da zu klettern und natürlich ist es toll sein Kind so erfolgreich zu sehen und ein cooler Vater zu sein.
Aber es ist auch ganz toll und cool ein Kind mit intaktem Rückenmark zu haben.
@Meier, das ist die heute dominierende weibliche Denkweise: ja nichts ausprobieren, ja nichts riskieren. und wennschon überversichern.
gut, wird uns gezeigt, dass es auch anders geht: mehr (kalkuliertes) risiko, weniger 100%-kontrolle. wie wir kinder früher (ohne begleitung der helikoptereltern) alle gelebt und gespielt haben.
Das menschliche Hirn ist erst ab 20 Jahren in der Lage, Gefahren angemessen zu beurteilen. Mit Helikoptereltern hat das eigentlich überhaupt nichts zu tun sondern mit Verantwortung.
Wenn es nur ein paar Schrammen geben kann, ist es völlig ok. Wenn es mehr wird, ist in der Tat die Urteilsfähigkeit eines Erwachsenen gefragt. „Mehrere Meter hinab ins Dickicht, wie weit ist unklar“ scheint mir da schon arg an der Grenze. Für eine Rutschpartie wohl in Ordnung, für einen freien Fall definitiv nicht.
Das hat nichts mit Verantwortung zu tun, sondern mit übermässige Angst vor jeglichem Restrisiko, und ist eine moderne Zivilisationskrankheit. Wir haben als Kinder dauernd Sachen gemacht, bei denen wir ohne weiteres tödlich hätten verunfallen können. Z.B. auf Bäum von 20m+ klettern. Genau dadurch haben wir gelernt, Risiken einzuschätzen, statt sich auf dem Vater und später dem Staat zu verlassen um Nanny zu spielen. Der überwältigende Teil von uns hat es überlebt.
Ich habe mir als Kind und Jugendlicher so ziemlich allesgebrochen was Sie sich vorstellen können (Rücken und Becken ausgenommen).
Das hat nichts mit Helikoptereltern zu tun oder weiblicher Denkweise.
Ich wünsche mir Kinder die klettern und raufen können, die durch die Gegend rennen und mit Ästen fechten dürfen und die sich auch mal weh machen können ohne zum Arzt geschleppt zu werden.
Aber wenn da ein Risiko eines Sturzes von 4m+ besteht finde ich es fahrlässig. Wenn dann was passieren sollte, sind Leute wie der Autor die, die dann Jahrzehntelang in Therapie müssen und zig Bloggbeiträge verfassen.
@sepp: „weibliche Denkweise: ja nichts ausprobieren, ja nichts riskieren…“ So ein pauschaler Unsinn.
Wie wärs wenn Sie Ihre Kinder gleich nach der Geburt in einem Schutzanzug a la Darth Vader verpacken würden? Da könnte man das Risiko bestimmt noch minimieren. Auf Deutsch: Ihre Kinder tun mir leid, Herr Meier. Risiko gehört zum Leben.
Das hat nichts mit Darth Vader zu tun, sondern mit dem Unterschied zwischen Leichtsinn und Verantwortung. Das Kind hat nichts gewonnen, wenn es wegen der angeblichen „Coolheit“ der Eltern den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen muss.
Alter Spruch: „Es gibt tollkühne Bergsteiger und alte Bergsteiger, aber es gibt sehr wenige tollkühne alte Bergsteiger“. Ja, Risiko gehört zum Leben, aber selbst herbeigeführtes Risiko ist dumm.