Ich bin ein Egoist
Wer sportlich lange unterwegs ist, kennt sie, diese kleine Stimme. Dieses Flüstern, das mit der Müdigkeit einsetzt. Diesen hartnäckigen inneren Zweifler, der am Selbstvertrauen nagt. Der mit etlichen Argumenten die Türen zum Kneifen öffnet. Erst sporadisch Argumente dafür liefert, warum Aufgeben nun völlig okay wäre, und dann zu einer immer lauter werdenden Leier anschwillt. Jeder Langstreckler hat sein eigenes Mittel, dieses innere Teufelchen zu ignorieren oder gar zum Schweigen zu bringen. Als Couple-Athletin am Gigathlon in Zürich entwickelte sich dieses Gegenmittel von selbst: Ich mutierte zum Egoisten. Natürlich waren mein Teampartner Harry und unsere Supporterin Tina die wichtigen Stützen – nur war ich auf den Strecken auf mich gestellt. Kein Harry, der mit blöden Sprüchen vom Elend ablenkte; keine Tina, die mir mit Engelsgeduld Mut machte und mich umsorgte. Mein Egoismus war es, der bei brütender Hitze, steilen Aufstiegen und strömendem Regen gegen den kleinen Zweifler antrat und ihn zum Schweigen brachte. Ich nenne meinen kleinen Egoisten Pestalozzi, denn nach aussen trägt er die edlen Züge des gleichnamigen Gutmenschen.
Eine Leidensgemeinschaft
Es begann schon am frühen Samstagmorgen – 12 Kilometer Laufen mitten in der Grossstadt, Treppen, eine Passage durch das Innere der Universität. Für eine Kollegin meines Triathlonclubs war dies der erste Gigathlonstart, und auch sie trat als Couple an. Die Nervosität hielt sie in ihren Klauen, setzte sie unter Druck, nagte an ihrem Selbstvertrauen. Pestalozzis erster Auftritt: Ich versuchte, sie zu beruhigen, ihr Mut zuzusprechen, sie abzulenken. Ganz uneigennützig war es nicht: Ohne es zu wissen, half sie mir dabei, nicht zu schnell in diesen zweitägigen Wettkampf zu starten – der für mich täglich drei Disziplinen und insgesamt 62 Kilometer Laufen sowie 180 Kilometer Rennrad bereit hielt.
Mein zweiter Einsatz war eine Radetappe: 80 Kilometer in den Hügeln des Zürcher Oberlandes, gesalzene 1200 Höhenmeter, brütende Hitze. Ich litt vor mich hin – der innere Zweifler leierte seine Argumente runter – als sich plötzlich Joni neben mich schob. Die Couple-Athletin und ich wechselten einige Worte, verschmolzen unter der gnadenlosen Sonne zur Leidensgemeinschaft. Sie lenkte mich ab mit ihrem Humor, ihren Fragen, ihrer Präsenz.
Auftritt Teufelchen, zum Zweiten
Pestalozzis zweiter Einsatz: Während ich durch heimische Gefilde fuhr, kannte sie die Gegend nicht. Ich mutierte zum Fremdenführer, warnte vor Steigungen oder Passagen auf Naturwegen und ermutigte sie beim letzten Hügel, durchzubeissen, da ich wusste, dass wir gleich oben sein würden.
Die dritte Disziplin – 19 Kilometer Laufen in der Umgebung von Uster, pralle Sonne. Pestalozzi verpasste irgendwie seinen Auftritt – keiner da, dem ich helfen konnte; keine Aufgabe, die mich ablenkte. Diese Etappe war in der Realität nicht die härteste – gefühlt hingegen schon. Neben der Hitze, der Müdigkeit, kämpfte ich ununterbrochen gegen den inneren Zweifler, der mich fast zum Aufgeben überredete.
Am zweiten Tag war mein erster Einsatz eine Laufetappe – 19 Kilometer in und um Zürich, im Hauptbahnhof, am Limmatufer und an der Flanke des Uetlibergs, mit wenig Schlaf und vom Vortag bleiernen Beinen. Und da war sie wieder, meine Clubkollegin, es schien ihr besser zu gehen. Zuversichtlicher hatte sie ein zügigeres Tempo angeschlagen. Ich bemühte mich, ihr auf den Fersen zu bleiben. Dann der Rollentausch beim Anstieg zum Uetliberg: Ihr ging die Luft aus, sie wollte aufgeben. Pestalozzi erwachte. Er liess sie nicht kneifen. Mal in scharfem, mal in sanftem Ton trieb ich sie vorwärts – und vergass dabei meine eigenen, verkaterten Beine.
Über sich selbst hinauswachsen
Direkter Wechsel aufs Rennrad – 104 Kilometer, 1230 Höhenmeter, der Albis, der Gottschalkenberg, mit einem kleinen Zweifler, der zur Hochform auflief. Glücklicherweise traf ich bei Einsiedeln auf Couple-Athletin Simone, ganz Pestalozzis Typ: zäh, aber mit Knieschmerzen. Ihr kleiner Zweifler hatte sie fast so weit. Ich hiess sie, bei mir anzuhängen, durchzuhalten, schliesslich war der grösste Anstieg geschafft, wir traten in die Pedalen. Gemeinsam überholten wir Couple-Mann Roli und wurden zu einem Trio. Pestalozzi hatte meinen Kampfgeist geweckt. Ich fungierte auf den restlichen 50 Kilometern als Lok, machte, so gut ich noch konnte, Tempo und lieferte Windschatten. Wiederholt boten Simone und Roli an, die Führungsarbeit zu übernehmen, damit auch ich vom Windschatten profitieren könnte. Ich lehnte ab. Keineswegs aus Edelmut: Es war reiner Egoismus. Der Lok-Job und mein Versprechen, sie nach Zürich zu bringen, liess mich vergessen, wie dreckig es mir selbst ging. Dank den beiden wuchs ich über mich hinaus.
5 Kommentare zu «Ich bin ein Egoist»
Mein Rezept für den Ausdauersport (ich bin Langstrecken-Schwimmer): sich immer nur kleine Ziele vorgeben, also z.B. einen ersten Kilometer, einen zweiten, einen dritten. Jedes kleine Ziel ist ein Erfolgserlebnis, das man innerlich „feiert“. Viele kleine Ziele ergeben dann das Ganze. Und wenn’s einmal nicht fürs Ganze reicht, dann weiss man, dass das nicht das Ende der Welt ist. Das nächste Mal kleinere Zeile setzen – und dann wieder darauf aufbauen. Für all das braucht’s keinen Egoismus. Im Gegenteil, dieser verkrampft und stumpft ab und ist letztlich hinderlich für grosse Leistungen. Erst noch macht man sich damit keine Freunde. Oder finden SIE Egoisten toll?
Sind denn Einzelsportler (zumindest ein Stück weit) nicht immer Egoisten?
Genau dieser Egoismus porträtiert auf furchtbare Weise unsere heutige egoistische Gesellschaft, wo man lieber mit sich selber kämpft anstatt sich um die eigenen Kinder, Familie, Freunde zu kümmern. Wir werden alle ganz tolle Marathonläufer und uns mit 90 noch über die Ziellinie schleppen, leider gibt es dann keine Nachkommen mehr die den Narzisten applaudieren und sauberes Wasser um den Durst zu löschen.
So viel Pessimismus. Wer den Artikel gelesen/verstanden hat, erkennt, dass es eben gerade nicht Egoismus im Sinne von mit Tunnelblick alleine durchbolzen war. Vielmehr könnte man es sogar als altruistisch bezeichnen, die Führungsarbeit nicht abzugeben (ja, Altruismus ist regelmässig in Egoismus begründet).
Um Sie weiter zu beruhigen: selbst ein Marathontraining auf hohem Niveau braucht nicht mehr Zeit, als der durchschnittliche Schweizer vor der Glotze verschwendet (mit sinnloser Pendel-Zeit fange ich gar nicht erst an). Von dem her: leben und leben lassen. Ein wenig sinnvolle Ich-Zeit (nicht TV!) macht viele Leute auch gleich viel verträglicher für ihr eigenes Umfeld. Versuchen Sies mal :)
Genau, die Schweizer schauen 15h/Woche TV, die Deutschen 22h/Woche und die Amis noch lönger. Diese 15h oder ein Teil davon, kann man auch auch anders investieren.