Grenzerfahrung
Diese Woche zum südlichsten Punkt der Schweiz bei Chiasso (TI/Italien)
Am Sonntag ist Fahrplanwechsel. Er steht im Zeichen der Gotthard-Bahnlinie. Der Basistunnel geht endgültig in Betrieb, wir gelangen eine halbe Stunde schneller ins Tessin. Was sollen wir dort tun? Hier mein Vorschlag für eine eher kurze Wanderung, die man zum Beispiel mit einer Besichtigung koppelt. Anders gesagt: Zuerst begehen wir eine paradiesische Treppe, und dann berühren wir die Spätantike. «Berühren» meine ich wörtlich.
Das Treppengleichnis
Also. Wir brausen durch das neue Loch im Berg, kommen in die Südschweiz, verlängern die Fahrt bis Chiasso. Dort versäumen wir es nicht, die Skulptur in der Bahnhofhalle zu mustern. Sie zeigt zwei Frauen in schwesterlicher Nähe. «Italia e Svizzera» heisst das Kunstwerk.
Aus dem Bahnhof hinaus, Rechtsschwenk, hinab zum Zollgebäude und durch dieses hindurch, nun sind wir in Italien. Hundert Meter weiter geradeaus, dann biegen wir beim Wegweiser Parco Spina rechts in die schäbige Via Stefano Franscini ein. Sie führt zu einer Unterführung, auf der anderen Seite des Geleisefeldes biegen wir wieder nach rechts, rostige Leitplanken führen in eine Art Wendeplatz. Ein Wegweiser signalisiert die Scala del Paradiso. Die Paradiestreppe.
Was folgt, sind strapaziöse 900 Stufen den Grenzzaun entlang, der an einigen Stellen ramponiert ist. Die Treppe ist steil und abschnittweise ebenfalls ziemlich mitgenommen; gut, gibt es einen Handlauf. Liegt Schnee oder hat es Eis, ist das nichts.
Die Treppe wurde gegen das Jahr 1900 für die Grenzwächter gebaut, sie sollte es erleichtern, in dem umwegsamen Gelände Schmuggler zu jagen. Die Schmuggler nutzten die Treppe bald ebenso gern. Das klingt, finde ich, wie ein Gleichnis.
Die Ganzkörpertaufe
Oben gibt es Möglichkeiten. Erstens: Wir gehen, Karte in der Hand, auf Schweizer Gebiet zum Punkt 75B, dem südlichsten Punkt unseres Landes; eine gute Fortsetzung führt von dort ins Dorf Pedrinate. Zweitens: Wir erkunden mithilfe der Wegweiser auf der italienischen Seite Sehenswürdigkeiten wie die Schützengräben des Ersten Weltkriegs.
Dritte Möglichkeit: Wir vernichten die 200 Höhenmeter auf demselben Weg, auf dem wir kamen, und schauen uns Chiasso an. Vielleicht machen wir Einkäufe, schliesslich ist bald Weihnachten. Womit wir bei einem Ausflug wären, der zur Adventszeit perfekt passt. Mit der S-Bahn fahren wir Richtung Lugano, steigen in Capolago-Riva San Vitale an der einen Südspitze des Luganersees aus.
15 Minuten dauert der Spaziergang ins Dorf Riva San Vitale. Dort steht ein Battistero, eine Taufkapelle, die Johannes dem Täufer gewidmet ist; dies ist der älteste intakte christliche Kultbau der Schweiz, entstanden ums Jahr 500. Die aus der Westwand vorkragenden Steine halfen einst ein Dach tragen, unter dem Gläubige geschützt vor dem Regen um die Kapelle wandelten.
Und nun die Sache mit dem Berühren der Spätantike. In der Kirche steht ein imposantes rundes Sandsteinbecken. Ein Taufbecken aus dem Mittelalter. Viel älter ist der Vorgänger unter ihm: das spätantike Taufbecken im Boden. Im frühen Christentum taufte man Erwachsene. Und zwar, indem man sie ganz ins Wasser tauchte. Unsere heutige Taufe – sie ist die ins Symbolische verschobene Variante des einstigen Ganzkörper-Rituals.
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Route: Chiasso Bahnhof – Zoll – italienische Seite, Via Stefano Franscini – Abzweiger zur Unterführung – andere Seite Geleisefeld – Scala del Paradiso – oberes Ende der Treppe. Bis hier circa 45 Minuten. Fortsetzung: in 70 Minuten auf Schweizer Territorium nach Moreggi/Punkt 75 B und weiter nach Pedrinate.
Höhendifferenz: Gut 200 Höhenmeter bis zum oberen Ende der Treppe.
Karte: Am besten bedient ist man mit der Landeskarte 1:25’000 Mendrisio. Die Treppe ist nicht eingezeichnet, der Punkt 75B aber schon.
Nicht vergessen: Den Ausweis. Die Wanderung spielt zum Teil in Italien.
GPX-Datei: Hier downloaden. Wichtig: Der Verlauf der Treppe ist geschätzt, Abweichungen vor Ort möglich.
Charakter: Erkundung in wildem Gelände. Sicherheit: Nicht allein gehen, nicht bei Eis und Schnee. Die Treppe ist dann praktisch unpassierbar.
Höhepunkte: Die Skulptur «Italia e Svizzera» im Bahnhof Chiasso. Die Scala. Und natürlich das spätantike Battistero von Riva San Vitale.
Kinder: Okay, siehe «Sicherheit».
Hund: Okay.
Einkehr: In Chiasso, Capolago und Riva San Vitale.
Wanderblog: Täglich ein Eintrag auf Thomas Widmers privatem Journal.
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