Ein Greis läuft allen davon

Strahlend im Ziel: Ed Whitlock nach dem Toronto-Marathon. Foto: Screenshot Youtube / Chicago Running Magazine
Markus Ryffel, Viktor Röthlin, Tadesse Abraham, Paula Radcliff, Eliud Kipchoge – egal, wie die Laufidole alle heissen, für mich haben sie seit kurzem ausgedient. Ein Kanadier hat ihnen den Rang abgelaufen. Mein neues Vorbild heisst Ed Whitlock. Er hält laut der Association of Road Racing Staticians 22 Weltrekorde alleine über die 5 km-, Halbmarathon- und Marathon-Distanz. Sein jüngster Streich ist knapp zwei Wochen alt: Er schaffte es am Toronto-Marathon nach drei Stunden, 56 Minuten und 38 Sekunden ins Ziel. Für diese Zeit haben die Profis üblicherweise ein müdes Lächeln übrig, liegt doch der Marathon-Weltrekord der Herren bei 2:02:57. Im Fall von Ed Whitlock dürften nicht nur zahlreiche Hobbyläufer, sondern auch die Marathongrössen vor Neid erblassen. Der Mann ist nämlich 85 Jahre alt und hat den Weltrekord seiner Altersklasse um 30 Minuten unterboten.
Der drahtige Weisshaarige war 2003 der erste Mensch über 70 Jahren, der die Königsdisziplin in weniger als drei (!) Stunden schaffte. Eine Zeit, von der Normalsterbliche nur träumen können. Zum Vergleich: Er lief meine persönliche Marathon-Bestzeit von 3 Stunden und gut 30 Minuten noch mit 81 Jahren. Während ich vor den aktuellen Marathongrössen den Hut ziehe, gehe ich vor Ed Whitlock in die Knie. Nicht nur dieser unglaublichen Zeit wegen: Der Greis zeigt dem Alter den Stinkefinger und der Gesellschaft, dass Senioren keineswegs aufs Abstellgleis gehören. Mit seiner Leistung macht er deutlich, dass das Leben auch im hohen Alter keineswegs beschwerlich sein muss. Während manch einer mit seinem Jahrgang nur schon vor einer 42 Kilometer langen Wanderung zurückschreckt, ist es für die meisten um Jahre jüngeren Senioren undenkbar, sie zu laufen. Ed Whitlock macht es vor: Rüstig altern ist eine Frage der Einstellung. Sofern der Körper mitmacht – und auch das können die meisten von uns beeinflussen –, sind weder eine lange Treppe, ein steiler Trampelpfad noch jedwelche Reisestrapazen Gründe, einen Wunsch aufzugeben. Zu oft wird fortgeschrittenes Alter als Ausrede missbraucht, um in Bequemlichkeit zu verfallen und zu resignieren.
Wir sichern unseren Lebensabend finanziell mit drei Säulen ab, beginnen schon mehrere Jahrzehnte vorher, dafür zu sparen. Die körperliche Vorsorge bleibt aber in den meisten Fällen auf der Strecke. Es greift zu kurz, erst damit zu beginnen, wenn die Gelenke einrosten und die Muskeln schwinden. Es muss kein Marathon sein und schon gar kein Weltrekord – aber Bewegung ist die vierte Säule unserer Altersvorsorge. Sie bringt Schwung in unseren Lebensabend, lässt uns den Gebrechen trotzen, und sie sichert jene Träume ab, die wir uns für den Ruhestand aufheben. Genauso wie für die drei anderen Säulen, müssen wir auch für die vierte arbeiten.
Es lohnt sich. Ed Whitlocks strahlendes Gesicht im Ziel des Toronto-Marathons ist der beste Beweis dafür.
7 Kommentare zu «Ein Greis läuft allen davon»
Rinfaccia nicht aufhören, wehwehli hein Oder hier…
Natürlich gibt es jetzt wieder solche, die finden, dass Laufen ungesund sei, Läufer dürr und verbissen aussehen. Aber so falsch kann Bewegung nicht sein. Dieser Mann macht Mut zum dranbleiben. Es muss ja nicht immer ein Marathon sein.
Das ist wirklich ein guter Gedanke. 4. Säule Bewegung.
„Rüstig altern ist eine Frage der Einstellung. Sofern der Körper mitmacht – und auch das können die meisten von uns beeinflussen –“
Ja und nein, meine Eltern (61 J.) haben beide ihr Leben lang intensiv Sport gemacht und halten sich noch immer in Form. Aber auch sie plagen die üblichen Gebrechen: schmerzende Knie, steifer Rücken und „müde“ Gelenke. Sie werden kaum mit über 80 noch eine Marathonstrecke bewältigen und vielleicht werden auch Treppen zur Herausforderung. Ich denke, die meisten von uns können das eben doch weniger beeinflussen, als sie gerne würden. Was nicht heisst, dass man nicht seinen Möglichkeiten entsprechend bis ins hohe Alter Sport und Bewegung in den Alltag einbauen sollte.
Meine Mama ist noch einige Jahre älter. Sie hält sich fit im eigenen Eingamilienhaus mit vielen Treppen, im Garten pflegt sie ihre Pflanzen, sie geht täglich einkaufen in die ziemlich weit entfernten Geschäfte. Kochen, waschen, bügeln und aufräumen schafft sie auch mit über 90. Sie geht auch abends noch gerne aus, sie hat oft Besuch, wird auch gerne eingeladen. Nur fürs Putzen hat sie sich kürzlich Hilfe geholt. Sie sieht übrigens einiges jünger aus als unser Marathonläufer.
Ist es wirklich nötig aus der bewundernswerten Leistung/Glück des einen einen subtilen Vorwurf an alle anderen zu drehen? (Der Mensch neigt dazu, die Wirkung des eigenen Handelns zu überschätzen und den Anteil des Zufalls zu unterschätzen. In diesem Falle erküren Sie jemanden zum Idol, der einfach ein unglaubliches Glück hat.)
Die Leistung von Herr Withlock in Ehren. Ich möchte noch etwas mehr an den Rippen haben im Alter. Marathon-Läufer sehen für mich ungesund aus.