Das Risiko der Routine

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Fehler können tödlich sein – und gegenseitige Kontrolle erhöht die Sicherheit dramatisch. Foto: Ed Dunens/flickr

Vor einem Jahr erlebte ich am Berg einen Schrecken, der mir noch heute in den Gliedern steckt: Wir kletterten eine ausdauernde Route durch eine 450 Meter hohe Felswand. Als wir den Gipfel erreichten, war es Nachmittag. Die Abseilpiste war teilweise überhängend, wir mussten insgesamt 15-mal «Stand machen». Das heisst: 15-mal mussten wir uns vom Seil lösen, dieses durchziehen, am nächsten Fixpunkt fädeln, das Abseilgerät wieder einhängen. Routinehandlungen also, die sich mehrmals wiederholen, nicht viel Marge für Fehler lassen und Konzentration verlangen.

Alles lief problemlos – bis zum 15. und letzten Stand: Ich vergass, meine Selbstsicherung einzuhängen! Ich stand auf einem schmalen Felsband und beugte mich sogar nach vorne, um zu schauen, wo unsere deponierten Rucksäcke lagen. Unter mir sah ich noch fast 50 Meter Luft bis zum Wandfuss, darunter fiel abschüssiges Gelände auf den Gletscher ab. Erst als ich das Seil neu fädeln wollte, bemerkte ich, dass ich ungesichert war. Ich hatte grosses Glück.

Kalt und müde

Es wäre ein Absturzklassiker gewesen. Ich bin bei weitem nicht die Erste, die je vergessen hat, die Selbstsicherung einzuhängen. Es ist ein Fehler, der niemals passieren dürfte und dennoch immer wieder gemacht wird – wie die Unfallstatistik zeigt. Ich selber kann mir meinen Lapsus rückblickend nur damit erklären, dass es ein langer Tag in dünner Luft war. Beim Abseilen verzog sich die Sonne aus der Wand, es war plötzlich sehr kalt. Ich fror, war müde und beim letzten Stand war ich in Gedanken offenbar schon in der warmen Hütte.

Trotzdem hat mich das Erlebnis nicht abgehalten, weiterhin alpine Routen zu klettern. Denn ich gehe davon aus, dass ich diesen Fehler nicht so rasch wiederholen werde. Vielleicht mache ich einen anderen Fehler, aber diesen eher nicht mehr – jedenfalls gemäss meiner eigenen Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Fehler haben auch eine positive Wirkung

Die Wahrscheinlichkeit für einen menschlichen Fehler im stressfreien Zustand wird – laut dem Fachmagazin «Bergundsteigen» – in der Sicherheitstechnik grob mit 1 zu 1000 angesetzt. Zum Beispiel der Anseilknoten beim Klettern: Tausendmal mache man ihn richtig, und einmal werde man abgelenkt und mache ihn nur halb oder falsch. Klettert man an 100 Tagen im Jahr jeweils 10 Routen, macht man den Anseilachter gemäss dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung einmal falsch. Pro Jahr. Das Risiko ist also hoch und wäre sicherheitstechnisch unvertretbar – gäbe es nicht den «Partnercheck», bei dem sich die Kletterpartner gegenseitig überprüfen. Dadurch kann die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers um den Faktor 1000 verringert werden, von 1 zu einer Million. Rechnet man so, bindet man sich nur einmal in Tausend Jahren falsch ein und klettert los.

Das grosse Problem der Wahrscheinlichkeit ist allerdings, dass wir nicht wissen, wann das Ereignis eintritt. Dieses «Einmal in Tausend Jahren» kann schon beim nächsten Klettern sein, vielleicht in einem Jahr, eventuell erleben wir es nie. Mein Fehler letztes Jahr beim Abseilen hatte letztlich auch einen positiven Effekt: Er hat mich geweckt. Und mich für die Unsicherheiten der Sicherheit stärker sensibilisiert. Besonders bei Routinehandlungen.

Was sind Ihre Erfahrungen?

Dieser humorvolle Kletter-Cartoon von Davis Schulz zeigt, wie man das Abseilen besser nicht machen sollte:

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14 Kommentare zu «Das Risiko der Routine»

  • Raphael Raphael Wellig sagt:

    hallo miteinander

    ich danke natascha knecht für den ausgezeichneten artikel. ja, die routine führt in allen bereichen, im beruf, sport und bergsteigen zu schlimmen unfällen. beim klettern gibts nur eins, immer 120% alles durch checken.

    grüsse von
    raphael wellig

  • m.Meier sagt:

    Diesen Sommer ist uns beim Klettern ebenfalls etwas Erschreckendes passiert:
    Beim Abseilen verklemmte das Seil und wir zogen zu zweit ziemlich fest dran. Es schien auch ein Stückchen zu kommen und dann war Schluss. Ich war bereits am Raufprusiken als ein Kletterer weiter oben das Seil netterweise löste (Ich hing derweil an einem Bohrhaken und mein Partner unten im Stand).
    Beim Abziehen stellte ich mit Erschrecken fest, dass die Seilenden beim Knoten weniger als 1 cm herausschauten! Zuvor waren es ca. 8 cm und der Knoten war meiner Meinung nach gut festgezogen. Trotzdem konnten wir ihn soweit durchziehen!
    Natascha Knecht hat absolut recht: Alles immer gut (doppelt) kontrollieren und Sicherheitsmargen wenn möglich einbauen – auch bei den Seilenden.

    • Simone sagt:

      Mit welchem Knoten habt ihr das Seil verknotet? Achterknoten z.B. „wandern“ erstaunlich leicht und weit…

      • m.meier sagt:

        Ja genau mit einem Achter, wie üblich beim zusammenknoten der Doppelseile. Hat auch seit über 20 Jahren Klettern nie ein Problem bereitet und ist auch nie soweit gewandert. Vermutlich war er in einer unglücklichen Position verklemmt und wir haben zu stark gezogen. Oder er war doch nicht genug angezogen.
        Ich mache seither noch einen kleinen (hoffentlich nicht zusätzlich verklemmenden) Sicherheitsknoten in die Seilenden.

        Ich habe allerdings auch noch keine Literatur zu einem Sicherheitsproblem beim Achterknoten gefunden. Obwohl ich aus Interesse auch regelmässig zu solchen Themen lese z. B. „Berg und Steigen“, wo viele Sicherheitsthemen angesprochen werden.

      • urs sagt:

        ich hab mal gelernt dass beim abseilen das seil ca 50cm aus dem knoten rausschauen muss und nicht nur 8cm.

  • Lucas Cannolari sagt:

    Über Fehler zu reden und diese zu diskutieren nennt man Fehlerkultur – und diese ist Sicherheitssportarten essentiell! Die Patzer in Sachen Wahrscheinlichkeitsrechnung verzeihen wir der Autorin. Klar ist aber, dass das Restrisiko Mensch da ist und sich dieses durch einen Partnercheck deutlich reduzieren lässt. Dummerweise ist es aber bei gefährlichen Manövern wie z. B. beim Abseilen oder Standbau so, dass man in aller Regel alleine ist, da der Partner dann eben am anderen Ende des Seils ist. Kletterunfälle mit Verletzungsfolgen (glücklicherweise aber nichts schlimmes) kenne ich aus dem Kollegenkreis primär vom Abseilen. 15x Abseilen = 15x einem unbekannten Ankerpunkt trauen, 15x einbinden, 15x Gefahr, dass sich das Seil verhängt, … Da ziehe ich Routen mit Fussabstieg vor.

  • Rob Müller sagt:

    Auch wenn das Verhältnis eins zu Tausend wohl nur grobe Richtgrösse ist: die beschriebene Situation mit der Selbstsicherung ist mir einmal passiert – Überschlagsmässig komme ich wohl auf etwas über tausend solche Manöver.
    Die Crux am Partnercheck ist, dass eine zweite Person anwesend sein muss. Was beim Abseilen nur bei jeder zweiten Manipulation der Fall ist. So oder so ist das Abseilen wegen zuweilen fehlender Redundanz etwas vom gefährlichsten beim alpinen Sportklettern.

  • klettermax sagt:

    In einem SAC-Tourenleiterkurs hängte mein Seilpartner im Stand aus Unachtsamkeit meine Nabelschnur aus – ich war einen Moment lang ungesichert und hätte abstürzen können. Zum Glück habe ich mich nicht bewegt und zum Glück war der Stand gross genug, sodass ich es erst gar nicht realiserte. Ironischerweise war der Kollege auf „Bergundsteigen“ abonniert und war in Sachen Sicherheit am Berg ein wandelndes Lexikon …

  • Hans sagt:

    Beim An- und Abseilen passieren immer wieder Fehler, auch den Routiniertesten und Besten. (z.B. Lynn Hill) Meist gehen sie glimpflich aus. In meinen Anfängen seilten wir noch im Dülfersitz ab, ungesichert, ohne Prusikschlinge!! Oft an ganz fragwürdigen Haken. Wir hatten noch keine Sitzgurten, dafür viele Schutzengel. Heutzutage sind meist wunderbare Abseilpisten eingerichtet. Konzentration und aufmerksame Kollegen sind trotzdem gefragt.

  • P.Aeschbach sagt:

    Es ist so, auch ich muss mir immer wieder sagen konzentriere dich, sonst passiert etwas, oder eben den Partnercheck

  • gabi sagt:

    bin beeindruckt. NK schreibt mehr und mehr artikel die mir gefallen! hatte ich doch früher zum teil eher das gefühl einen „scherzblog“ zu lesen. wir alle die in den Bergen unterwegs sind machen fehler. wir alle kennen das gefühl „glück“ gehabt zu haben.
    aber die meisten wollen es nicht zugeben. ich habe die erfahrung gemacht, dass viele bergsteiger nur ungern von ihren „fehlern“ in den Bergen erzählen. irgendwie kratzt das an unserem image. wurde mir doch der spruch „die hatten halt keine ahnung!“ schon als kind eingeimpft, wenn meine eltern was über einen bergunfall lasen.
    umso mehr ziehe ich meinen hut vor NK, dass sie öffentlich dazu steht. ich finde es wichtig, dass man über solche dinge spricht und andere sensibilisiert. nicht nur anfänger machen fehler. auch alte hasen!

    • Hans sagt:

      Liebe Gabi, sowohl Natascha Knecht als auch Emil Zopfi, die ich beide nicht persönlich kenne, schreiben herausragende Artikel. Von ‚Scherzblog‘ keine Spur. Ich habe und hatte nie Mühe, Fehler zuzugeben und anderen zu erzählen, was ich wieder ‚verbrochen‘ hatte.

      • Michel sagt:

        liebe Gabi, ich berichte gerne über meine „Fehler“, damit vielleicht andere daraus lernen können. Vor Jahren habe ich (mit meiner Frau) im Verdon abgeseilt und als ich am nächsten Stand ankam, kommt eine megahübsche französin mit Bikinioberteil von unten zu mir an den Stand. Ich war derart verwirrt, dass ich vergessen habe das Abseilgerät am Karabiner einzuhängen. Der Wandfuss war noch ca. 200m unter mir. Meine Frau hat mich gerettet, in dem sie mich im letzen Moment darauf aufmerksam gemacht hat. Die lehre daraus? Es kommt selten vor, dass man einer hübschen französin im Verdon begegnet!

    • Hans sagt:

      Natascha Knecht und Emil Zopfi, die ich nicht persönlich kenne, scheiben herausragende Beiträge. Von Scherzblog keine Spur. Ich hatte nie Mühe, Fehler zuzugeben und sie meinen KollegInnen zu erzählen.

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