Acid-Swing in der Alphütte
Diese Woche von der Leventina über den Nara-Pass ins Bleniotal (TI)
Als ich mit Ronja in Faido aus dem Zug steige, denken wir beide: Das wird ein anstrengender Tag. Dass es auch ein schöner Tag wird, davon gehen wir ebenfalls aus. Allein das Wetter: sonnig, doch nicht zu heiss. Perfekt für unsere Monumentalunternehmung.
Das Monument ist in diesem Fall die Bassa di Nara, zu Deutsch «Nara-Niederung» oder «Nara-Pass». Ein historisch bedeutender Übergang, über den in alten Zeiten Säumer Waren aus dem Bleniotal in die Gotthardgegend führten.
Bevor gewandert wird, wird gefahren. Ein Kleinbus kurvt von Faido die Bergflanke hinauf, die Leventina bleibt unter uns zurück, wir durchqueren Minidorf um Minidorf. Endlich «Molare, paese», unsere Haltestelle.
Wie Glenn Miller auf Amphetaminen
Im Freien entfalten wir uns wieder zu voller Höhe und ziehen los. Der Anfang ist, wie man ihn sich wünscht, wir wandern einige Zeit noch geradeaus, zuerst auf einem gemähten breiten Wiesenpfad. Nach gut 25 Minuten markiert der Bergbach Ri di Stou das Ende der Komfortzone, nun geht es aufwärts. Steil, steil, steil der Weg zur Alpe Nara.
In der Alphütte auf der Alpe Nara läuft eine Musik, die ich spontan «Acid-Swing» taufe, es klingt wie Glenn Miller auf Amphetaminen. Der Senn winkt. Wir winken zurück und nehmen den Rest des Aufstiegs in Angriff, der Pass liegt bereits als freundliche Kretensenke vor uns.
Ronja ist zuerst oben, das ist immer so. Bald habe auch ich es geschafft. Wir lassen uns im Gras nieder, schauen ins Weite, unter uns zieht sich das Bleniotal, dahinter eine Kette hoher Berge, von denen ich – ehrlich gesagt – keinen kenne.
Der Abstieg auf die Terrasse von Pro Marsgial ist leicht, wir vollziehen eine weite Rechtsschleife, da sind Bikerpisten, Holzstege im kupierten Gelände. Der Sessellift über unseren Köpfen ruht; im Hochsommer würde er fahren, bringe ich später in Erfahrung. Unten in Pro Marsgial nehmen wir nicht den Weg nach Cancori und Leontica, sondern schwenken erst in Piede del Sasso talwärts. Wir gehen Richtung Prugiasco und Acquarossa. So werden wir die Bahnmasten los.
Brutal, wie das abwärts geht. Einmal passieren wir ein Ferienhaus, vor dem auf feinen Metallstäben Bierdosen aufgepflanzt sind. Feldschlösschen. Die Dosen sind an den Seiten mit Längsschlitzen versehen, die Schlitze nach aussen gefalzt wie Flügel. Es sind moderne Windrädchen.
Uri-Stier mit Menschengesicht
Später, viel weiter unten, zeigt sich ein noch neuer Steg über das Bachtobel zur Rechten. Die Passerella di Negrentino führt vom Dörfchen Leontica zum Kirchlein San Carlo di Negrentino auf unserer Seite und ermöglicht, dass auch alte Leute und Behinderte dieses besuchen können.
San Carlo di Negrentino ist gut 1000 Jahre alt. Die Säumer konnten sich hier für den langen Weg in die Leventina den Segen holen. Der Uri-Stier auf dem Campanile hat ein Menschengesicht mit geweiteten Augen und wulstigen Lippen. Unter dem Urner Wappen sind kleiner die Wappen des Bleniotals und der Leventina aufgemalt mit Schwurfingern. Die beiden Talschaften des Südens mussten dem Kolonialherrn aus dem Norden Treue geloben.
Über den Steg könnten wir nun nach Leontica halten und dort den Bus nach Acquarossa nehmen; bloss, er fährt recht selten. Uns passt das nicht. So steigen wir noch einmal 300 Höhenmeter tiefer. In Acquarossa, bei der Haltestelle des Busses zum Bahnhof Biasca, sind Ronja und ich ausgepumpt. Aber die Sache war es wert – ein grosser Tessiner Pass ist nun unser.
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Route: Bushaltestelle Molare, Paese (Kleinbus ab Faido, SBB) – Fornace – Alpe Nara – Bassa di Nara (Nara-Pass) – Pian Nara – Bosco Negro – Pro Marsgial – Piede del Sasso – Ardèt – Bied – San Carlo di Negrentino – Prugiasco – Acquarossa-Comprovasco.
Wanderzeit: 5½ Stunden.
Höhendifferenz: 660 Meter auf-, 1615 abwärts.
Wanderkarte: 266 T Valle Leventina, 1:50’000.
GPX-Datei: Hier downloaden.
Retour: Bus von Acquarossa-Comprovasco (Bleniotal-Linie) zum Bahnhof Biasca.
Kürzer 1: Wenn man wie im Text beschrieben vom Pass via Pro Marsgial und Piede del Sasso usw. absteigt, aber bei San Carlo di Negrentino über den Fussgängersteg nach Leontica hält, braucht man eine halbe Stunde weniger und spart rund 300 Höhenmeter im Abstieg. Wichtig: zuerst Fahrplan konsultieren. Leontica ist mit Bussen nicht gerade verwöhnt.
Kürzer 2: Gleich viel Zeit und Höhenmeter spart man, wenn man von Pro Marsgial via Cancori nach Leontica absteigt.
Kürzer 3: Heuer nicht mehr möglich, aber evtl. in späteren Jahren: Im Hochsommer fährt unter Umständen die eine oder beide Sesselbahnen Pian Nara – Cancori und Cancori – Leontica.
Charakter: Sehr anstrengend. Still und verträumt auf der Leventinaseite, etwas diesseitiger und touristischer mit Skilift- und Sesselbahnmasten auf der Blenioseite. Aussichtsreich.
Höhepunkte: Der Gras-Wald-Weg vom Startpunkt bis Fornace. Der Blick vom Nara-Pass auf all die Berge. Das alte Kirchlein von San Carlo di Negrentino mit dem irren Uri-Stier.
Kinder: Etwas weit, oder?
Hund: Der zähe Hund wird es lieben. Alle anderen nicht.
Wanderblog: Täglich ein Eintrag auf Thomas Widmers privatem Journal.
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2 Kommentare zu «Acid-Swing in der Alphütte»
Xamba
Bei der im heutigen Tagi (09.09.16) beschriebenen Tour von der Leventina ins Bleniotal hat T. Widmer als „Berufswanderer“ mit Ausdrücken wie „anstrengender Tag“, „Monumentalunternehmung“ oder „ausgepumpt“ aber doch ziemlich übertrieben, so dass es für viele andere Wanderer ziemlich abschreckend wirken dürfte. Sicher kann man darauf hinweisen, dass diese Tour eine gewisse Kondition voraussetzt, aber seit wann ist eine 5 ½-stündige Wanderung eine Monumentalunternehmung? Schade auch, dass der lohnende Abstecher von der Bassa di Nara auf den Pizzo di Nara unerwähnt bleibt, wie auch, dass man schon in Faido starten könnte (Tour selber so gegangen am 7. August).
Sehr schön die Fotos und die Schilderung