Gesuchtes Spektakel

Zu Fuss im Radrennen: Leader Chris Froome schreibt am Mont Ventoux unfreiwillig Tour-Geschichte. Foto: Stephane Mantey (AFP)
Die zwölfte Etappe der diesjährigen Tour de France hat wieder einmal Anschauungsunterricht geliefert, wie scheinheilig unsere Gesellschaft ist. «Der Stoff, aus dem die Albträume sind», titelte die NZZ und der Tagi schrieb in seiner Printausgabe «Lauf aus dem Chaos».
Was war geschehen? Wegen starker Winde wurde das Etappenziel der Bergankunft auf dem Mont Ventoux sechs Kilometer nach unten verlegt. Die Absperrgitter, die die Rennfahrer auf den letzten beiden Kilometern vor dem Ziel vor dem allzu euphorischen Publikum schützen sollten, blieben jedoch auf dem Berg, da der Entscheid zur Verkürzung der Etappe relativ kurzfristig fiel.
«Ein Bild für die Ewigkeit»
So kam es wie es kommen musste: Der Begleittross blieb auf dem schmalen Bergsträsschen irgendwann in den immensen Zuschauermassen stecken. Leittragend war eine Dreiergruppe um Tour-Leader Chris Froome. Wegen eines brüsken Bremsmanövers des vor ihnen fahrenden Kameramotorrades von France Télévision kam es zur Auffahrkollision bei der die drei Fahrer stürzten. Dabei wurde Froomes Fahrrad so stark beschädigt, dass er eine Weile zu Fuss dem Ziel entgegen joggte. «Ein Bild für die Ewigkeit», so die Bildlegende dazu in der NZZ, welche die ganze Widersprüchlichkeit der Szenerie im Kontext mit dem Titel perfekt beschreibt.
In den sozialen Medien überschlugen sich danach die Kommentare. Die Veranstalter wurden an den Pranger gestellt. Auf SRF betitelte der Kommentator einen Fotografen bei der Arbeit sogar als «Dummkopf». Auf Facebook forderte der frühere Tour-de-Suisse-Direktor Armin Meier, die Fahrer sollen sich gegen die arroganten Tour-Organisatoren auflehnen.
Was das Publikum vor der Tour erwartet
Wie scheinheilig ist das denn? Welche Szene wird uns wohl von der Tour de France 2016 in Erinnerung bleiben? Genau. Der Tour-Leader als Läufer wird mit Sicherheit auch die Jahresrückblicke in den Sportteilen beherrschen. Denn das ist es, was das Publikum vor der Tour insgeheim erwartet. Das ist es, was die Menschen zu Tausenden an den Strassenrand lockt. Spektakel. Je abstruser die Vorfälle, desto besser. Und diesmal kam nicht mal jemand zu schaden – was man bei anderen haarsträubenden Vorfällen und Stürzen an der Tour beileibe nicht sagen kann.
Nun auf die Besatzung der Kamera- und Fotomotorräder einzudreschen, ist sehr unfair. Das sage ich aus eigener Erfahrung. Niemand begibt sich absichtlich in eine derart ungemütliche Situation. Gerät man dennoch hinein, gilt es nur noch seinen Job zu erledigen und das möglichst gut. Also die Bilder zu liefern, die das Publikum sehen will. «Bilder für die Ewigkeit», wie es die NZZ perfekt beschrieben hat.
9 Kommentare zu «Gesuchtes Spektakel»
na ja, ich glaube, da sollte man widersprechen. Auf solche Bilder (genau wie die oftmals bis zum Erbrechen wiederholten Bilder und Videos von Stürzen) kann man sehr gut verzichten. Aber gerade die Medien sind ja vorn dabei, wenn es um die Verbreitung dieser Dinge geht. Und auch die Fotografen verdienen wohl nicht schlecht an so etwas. Allerdings sollten sie sorgsamer bei der Untertitelung der Bilder sein (oder mehr Ahnung haben…) Bei den Bildern von Froome oben wurden die Räder verwechselt – das gelbe ist das nicht passende vom Mavic Support, das schwarze ist sein defektes Pinarello…. aber egal…
Was wäre passiert, wenn ein Unbekannter gestürzt wäre? Wäre das Klassement auch auf den Kopf gestellt worden?
Wie immer ist auch das hier eine Frage der Wahrnehmung. Zu den Facts nur so viel: Nicht der Begleittross blieb stecken sondern nur das TV-Moto und zwar wegen einigen durchgeknallten Zuschauern. Und „kurzfristig“ war die Verschiebung des Zielortes m.E. gar nicht, sie erfolgte nämlich am Vorabend. Wenn auf der Alpe d’Huez die Absperrgitter schon ca. 5 km vor dem Ziel stehen, hätte man vom Veranstalter erwarten dürfen, dass die letzten 3 km richtig abgesperrt wären. Aber klar: Die Ursache waren Zuschauer (nicht echte Radsportfans!). Es war eine Frage der Zeit bis so etwas passiert – leider!
(Ein Dummkopf ist der Fotograf wahrscheinlich nicht, aber besonders geschickt angestellt hat er sich nicht).
Es ist ziemlich blöd und arrogant, was Platter da schreibt. Ich erwarte genau solche Szenen von einer Tour NICHT, sondern einfach fairen und spannenden Radsport. Und gegen die Deppen von Zuschauern ist halt kein Kraut gewachsen – oder doch?
Der eigentliche Skandal für mich ist die Umwertung der Ergebnisse.
Wäre nicht der 1. des Gesamt-Klassements gestürzt, wäre nichts passiert.
Und der Fotograf wurde aus meiner Sicht zu Recht als Dummkopf bezeichnet.
Die Zuschauer haben sich zweifellos unpassend benommen. Das ist aber keineswegs neu, und deshalb trifft den Veranstalter sehr wohl eine Mitschuld. Man kann bei fast jeder Bergankunft beobachten, dass Fahrer durch die viel zu weit in der Fahrbahn stehenden Leute belästigt oder gar behindert werden.
Ein Veranstalter kann nicht garantieren, dass nicht irgendwo ein einzelner Depp vor ein Fahrzeug springt. Wenn es aber dauernd passiert, und der Veranstalter reagiert nicht, dann ist das wie eine stille Billigung.
P.S.: Auch den Medien könnte der Veranstalter durchaus gewisse Sicherheitsrichtlinien auf den Weg geben, wenn er denn wollte.
P.S. II: Nein, solche Bilder sind ganz und gar nicht das, was ich an einem Velorennen sehen möchte!
Absperrgitter waren auf den letzten paar hundert Metern sehr wohl vorhanden, das zeigen die Bilder. Es ist falsch, dem Veranstalter irgendeine Schuld zuzuweisen, er hat im Rahmen des Möglichen gehandelt nach der kurzfristigen Streckenverkürzung. Die Schuldigen sind eindeutig die Zuschauer, die keinen Respekt vor Fahrern und Begleitfahrzeugen zeigen. Dies bei praktisch allen Bergetappen. Die Medien machten ihren Job, die Situation war dramatisch für das Maillot jaune, folglich sind es auch die Bilder. Der fehlende Respekt des Publikums zeigt sich immer mehr auch in andern Massensportveranstaltungen, insbesondere beim Fussball.
Hut ab, Thomas Huerzeler. War in einem m. vielen Berufe u.a. auch Journalist (spaeter auch Herausgeber Quartierzeitung ZH) und hatte, als es mir als „Freier“ finanziell ziemlich mager ging, ein Angebot von der Zeitung mit dem grossen „B“ in der Schweiz. Machte eine Probereportage ueber Brand eines Bauernhof, viele Tiere umgekommen, erlebte die redaktionelle Bearbeitung meiner Arbeit und sagte : Nein danke, lieber esse ich weiter trocken Kaese und Brot.
Ja, scheinheilig sind die Medien die Sensation puschen fuer eine Minderheit. Verhindert nicht, dass Boulevard Leser verliert, viele ihn auch nicht moegen in „serioeser“ Presse. Verhalten der Tourorganisation eine Schande. Milliarden kassieren und kein Sondereinsatz fuer Sicherheit der Fahrer. Gier nach Geld, Geld …
Gut gebrüllt! Bleibt bloss noch die Frage zu klären, wer oder was denn daran scheinheilig ist. Der Fahrer, der zu Fuss weitergeht? Das Publikum, das angeblich solche Bilder sehen will (Also die Bilder zu liefern, die das Publikum sehen will …)? Oder doch der Journi, der weiter draufhält, weil er ja schliesslich seinen stinkwichtigen Job machen muss, der über allem anderen steht?
Vor gefühlten 100 Jahren war ich als junger Fotograf für UPI unterwegs, als ich in einer grauenhaften Massenkarambolage eben „draufhielt“, während um mich die Menschen starben. Mein Redaktor war begeistert, aber ich wechselte zur Werbefotografie, weil ich mich selber kaum mehr ertragen konnte.