Von wegen Egotrip am Everest

  • Rund 7000-mal erfolgreich bestiegen: Der Mount Everest, der höchste Berg der Welt, gesehen von Kalapatthar, Nepal. Foto: Tashi Sherpa (AP)

  • Die Motivation der Gipfel-Aspiranten hat sich in den 63 Jahren seit der Erstbesteigung durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay verändert. Foto: Tashi Sherpa (AP)

  • Die gefragte Leistung am «Dach der Welt» bleibt extrem: Abstieg vom Gipfel am 21. Mai 2016. Foto: Phurba Tenzing Sherpa (AFP)

  • Doch die These, dass die Besteigung ein reiner Egotrip sei, lassen Psychologen nicht mehr so stehen. Foto: Phurba Tenjing Sherpa (Reuters)

  • Am Berg kann man der Angst in die Augen sehen: Der Chinese Liu Lei wird nach der Rückkehr vom Gipfel medizinisch betreut. Foto: Suman Shreshta (AFP)

  • Jede Saison sterben am Everest Leute: Eine geborgene Leiche wird nach Kathmandu gebracht, 26. Mai 2016. Foto: Niranjan Shrestha (AP)

  • Der Berg gibt und nimmt: Der Australier Robert Gropel hat beim Abstieg Ende Mai 2016 seine Frau verloren. Foto: Navesh Chitrakar (Reuters)

Am Mount Everest neigt sich die kurze Hochsaison dem Ende zu. Wieder war sie voller Triumphe, Dramen, Rekorde und Kontroversen. Als der Brite George Mallory in den 1920ern gefragt wurde, weshalb er als erster Mensch auf den 8850 Meter hohen Gipfel steigen wolle, antwortete er: «Weil er da ist.» Von seinem dritten Versuch kehrte Mallory nicht zurück. Inzwischen wurde der höchste Berg der Welt 7000-mal erfolgreich bestiegen, von 4000 Menschen, die unheimlich viel Abfall hinterlassen haben. Auch liegen 200 Leichen in der Todeszone, können nicht ins Tal transportiert werden und dienen den Bergsteigern heute als Wegweiser – wie bei uns in den Alpen die Steinmannli.

Logisch, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten am Everest einiges verändert hat – auch die Motivation der Gipfel-Aspiranten. «Die eine will die Asche ihres verstorbenen Mannes dort oben verstreuen, der andere will für die Mutter rauf, und ein anderer will einen persönlichen Dämon in sich besiegen», sagte die in Kathmandu lebende Journalistin Billi Bierling gegenüber der BBC.

Nicht alle, aber manche prahlen danach für den Rest ihres Lebens damit, was (meines Erachtens) verständlich ist. Denn die Besteigung des Everests bleibt trotz der Hilfe von Sherpas und Flaschensauerstoff, trotz präparierter Pisten und Fixseilen nach wie vor eine Leistung. Willenskraft und Biss müssen trotz allem enorm gross sein – es braucht mehr als nur ein dickes Portemonnaie, um es bis auf den Gipfel und zurück zu schaffen. Der Berg ist und bleibt gefährlich. Jede Saison sterben am Everest Leute, etwa an der Höhenkrankheit, die jeden treffen kann, selbst den fitten und erfahrenen Bergsteiger. Vergangene Woche waren es fünf Männer und eine Frau, die ihr Leben am Everest liessen. 400 waren dagegen erfolgreich. Allein am letzten Mittwoch standen gemäss der «Himalayan Times» über 200 Personen oben, was ein neuer Rekord ist. Der bisherige Rekord stammte aus dem Jahr 2010, als 169 Bergsteiger an einem einzigen Tag den Gipfel erreichten.

Der ganze «Showzirkus» am Everest hat zweifellos Dimensionen angenommen, die niemand mehr als gesund bezeichnen kann, nicht einmal jene, die damit gutes Geld verdienen. Doch die These, dass die Besteigung ein reiner Egotrip sei, lassen heutige Psychologieforscher nicht mehr so stehen. Die Entwicklung sei auch eine Folge unserer komplexen Welt, in der wir uns oft unfair behandelt und ausgeliefert fühlten. Gerade die hohen Berge, das eigens definierte Ziel und die Anstrengung in der ungemütlichen und menschenfeindlichen Zone könnten manchen Leuten die Möglichkeit bieten, die Kontrolle über ihr eigenes Leben wiederzufinden.

«Diese Personen schreiben sich oft selbst emotionale Defizite zu, fühlen sich ungeliebt, vermissen eine Partnerschaft. Das versuchen sie dadurch zu kompensieren, indem sie ihre Gefühle in einer ausgesuchten Extremsituation in den Griff bekommen wollen», sagte Sportpsychologe Matthew Barlow von der Bangor University in Wales zur BBC. Im Alltag seien die Ängste oft verwirrend, widersprüchlich, und man wisse nicht genau, woher sie kämen. In den Bergen sei die Angst klar. «Wenn du fällst, bist du tot.» Hier könne man der Angst direkt in die Augen schauen und sie überwinden. Hier könne man sein Glück oder Unglück selber in die Hand nehmen.

Oder mit anderen Worten: Manche haben mehr Angst vor dem Leben als vor dem Tod am Everest.

Was ist Ihre Meinung?

Hinweis: Neu können wir alle auf den Everest – dank der ersten Dokumentation der Südroute mit einer 360-Grad-Kamera. Die nepalesischen Bergführer Lakpa Sherpa, Pemba Rinji Sherpa sowie ihre Kollegen Ang Kaji Sherpa und Kusang Sherpa sind für die Schweizer Firma Mammut von Kathmandu auf den Gipfel gestiegen. Die vollständige Route ist jetzt online unter Project360.mammut.ch zu sehen.

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21 Kommentare zu «Von wegen Egotrip am Everest»

  • Raphael Raphael Wellig sagt:

    hallo natascha

    ich danke dir für den ausgezeichneten text. jeder soll und darf auf seinen berg steigen, wann und wie er will. das ist die freiheit des menschen. ich verstehe, das soviele auf den höchsten punkt der erde steigen wollen.
    das wichtigste dabei ist doch, alles mit respekt und ehrfurcht vor den einheimischen, den sherpas, der natur und dem everest zu machen. und vorallem den muell wieder runter zu nehmen.
    klar, es ist auf jedenfall ein egotripp. da gibt es nichts daran zu rütteln. und viele alpinisten haben auch einen komplex. wichtig ist als alpinist, immer auf sein herz zu hören. egal wo und wie hoch.

    ich wünsche allen gute touren.

    viele grüsse von
    raphael welli http://www.raphaelwellig.ch

  • Martin ZK sagt:

    Victor Frankl hat auch viel über das Bergsteigen gesagt. Wir (oder immerhin einige) sind immer auf der Suche nach dem Sinn und/oder wollen uns einen geben. Ob der auf dem Olavtoppen oder dem ME zu finden ist, kann jeder für sich entscheiden. Aber es ist natürlich ein Big Business. Es wird daher viele geben, die wie auch Matterhorn, Mt. Blanc etc. es sich und anderen zeigen müssen, dass sie da rauf können: physisch und finanziell. Da ist viel Leistungsexhibitionismus dabei. Bei welchem ME Touristen das eine oder andere überwiegt, weiss wohl niemand. Aber wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Schneeball!

  • Joachim Adamek sagt:

    Ich kann verstehen, dass man von einem bestimmten Berg nicht loskommt. Ich kann auch verstehen, dass man gerne seine Grenzen ausloten möchte. Und ich kann auch verstehen, dass Menschen – ob alleine oder im Duo- Abenteuer lieben. Was ich weniger verstehe, ist, dass es unbedingt der Everest sein muss. Nur weil er der höchste Berg ist? Weil seine Besteigung noch heute ein echtes Risiko ist? Oder liegt es an den mittlerweile, vielen guten Reiseangeboten? – Die Besteigung eines 8000ers benötigt eine Gewöhnung über Jahre hinweg. Alles andere, finde ich, ist Leichtsinn.

  • Frank Darchinger sagt:

    Eine Therapie könnte diesen selbsternannten ‚Helden‘ ja vielleicht ebenso gut helfen, vor allem mit Blick auf die Angehörigen, die ungefragt und ohne jeden Lustgewinn zunächst Angst und Sorge und eventuell auch die Folgen ertragen müssen.

  • Walter Boshalter sagt:

    Was auch immer die Gründe sind, Stories von Leuten die den Everest bestiegen haben sind etwas abgelutscht und machen mir zumindest keinen grossen Eindruck mehr. Ausnahme: Sie hättens ohne Sherpas geschafft.

    Mehr Eindruck machen mir Leute, welche bei Erstbesteigungen von Bergen dabei sind die kaum einer kennt danach kaum mehr bestiegen werden (wie z.B. geschehen beim Olavtoppen (780 m) anno 2014).

  • Sandy von felsklettern.ch sagt:

    Viktor E. Frankl sprach vor langer Zeit von existenzieller Frustration. Ich frage mich inwiefern dieses Konzept aufs Bergsteigen in diesen Höhen zutrifft.

  • Aschi sagt:

    Die besten Ansichten von Bergen hat man von unten. Der wahre Grund das alpine Klettern zu tadeln ist, dass es mehr Eitelkeit erregt, als jeder andere athletische Sport. John Ruskin 1819 – 1900
    Eine andere mögliche Erklärung, die wahrscheinlich etliche „Leidensgenossen“ am Berg bevorzugen: „Das Spiel mit dem Gleichgewicht beim Klettern, hilft das seelische Gleichgewicht zu verbessern.“

    • Natascha Knecht sagt:

      Lieber Aschi – Das mit dem Gleichgewicht würde ich unterschreiben. Von John Ruskin bin ich zwar ein grosser Fan (siehe auch mein Anderegg-Buch). Aber wir dürfen nicht vergessen, Ruskin war kein Bergsteiger, weil ihm schlichtweg die Begeisterung, der Sinn und die Fitness für «körperliche Ertüchtigung» fehlte. Da ich sehr viel seiner Literatur gelesen habe, bin ich nicht sicher, ob er sein berühmtes Zitat «Die beste Ansicht von Bergen hat man von unten» halt auch ein Bisschen aus «Neid» in die Welt gesetzt hat – äusserst erfolgreich -, um Seinesgleichen auf sein Boot zu ziehen und ihnen letztlich auch ein gutes Gefühl zu geben – womit wir wieder beim guten, alten Thema wären.

      • Natascha Knecht sagt:

        Habe über die Jahre hinweg natürlich viel darüber nachgedacht – auch wegen mir selber und meiner Motivation fürs Bergsteigen.

        Für Meinungen und Inputs bin – von allen – nicht nicht nur offen, sondern äusserst dankbar!

        Vielleicht werde ich einen meiner nächsten Blogs darüber schreiben.

        • Aschi sagt:

          Wenn man dann zu den U80 gehört stellt sich etwa die Frage, wieso musste ich auf so viele berge hinauf? Wahrscheinlich als Therapie.

  • Megge sagt:

    Dies mit den Defiziten trifft kaum auf alle zu. Einmal auf dem höchsten Gipfel der Erde zu stehen kann für einen Alpinisten genügend Motivation sein. Auch wenn heute vieles von den Sherpas eingerichtet wird, ist es nach wir vor eine Leistung worauf ein jeder / jede Stolz sein wird. Dies stärkt das Ego.
    Hingegen der Satz “Manche haben mehr Angst vor dem Leben als vor dem Tod“ hat was wahres. Geht in die Richtung: Das eigene Leben selbst in die Hände nehmen. In der heutigen Welt sind wir oft „gesellschaftsgesteuert“ und leben nicht selbst sondern werden gelebt.
    Über die Psychologie des Bergsteigens gibt’s mehrere Bücher. Ergänzend zu Mellory, oder was auch schon zum Ausdruck gebracht wurde “die schönste sinnloseste Beschäftigung“. Verstehen tun’s nur welche die selbst auf Berge steigen.

    • Natascha Knecht sagt:

      Naja, lieber Megge, das mit den Defiziten ist auch eine Frage der Ansicht, der Perspektive. Mein Schlussatz „Manche haben mehr Angst vor dem Leben als vor dem Tod“ ist mir bei der Analyse spontan in den Sinn gekommen und ich finde auch, er hat etwas Wahres. Nicht nur in Bezug auf Everest-Bergsteiger, ich kann sie nicht beurteilen, auch wenn ich selber etwa 10 Personen persönlich kenne, die schon dort oben waren. Wenn ich mich getraue, also meine Blogger-Angst überwinde, schreibe ich bald einen Text darüber … Vielleicht.

      • Megge sagt:

        Zwischen Flow und Narzissmus lässt sicher grüssen. Ich erkenne mich dort fast auf jeder Seite ;-)
        Doch möchte ich trotzdem nicht allen die auf dem Everest waren ein Defizit zu sprechen.
        Deine Themen sind immer wieder spannend. Bitte weiter so.

  • Mia sagt:

    Vielleicht geht es auch darum, ein wirkliches Ziel vor Augen zu haben. Man kann sich 1-2 Jahre darauf vorbereiten. Das gibt Lebenssinn.
    Es würde mich viel mehr interessieren, wie es nach der Besteigung aussieht. Ich meine 2-3 Monate später. Entsteht dann eine grosse Leere? Womit will man diese überbrücken, wenn der höchste aller Berge bereits bestiegen ist?

  • Am Bärg sagt:

    Es ist jedem selbst überlassen, welcher Sportart man nachgehen möchte. Wenn Leute auf den Berg wollen, dann sollen sie das tun. Man weiss ja über das Risiko bescheid. Nicht jede Sportart ist eine Kompensationshaltung.

  • Hans W. sagt:

    Warum steigt man auf Berge? Ein einfacher Schwabe soll darüber philosophierenden Bergsteigern gesagt haben: , Damit ihr drüber schwätze könnt‘. Selbstverständlich ist die Besteigung des Everest nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Leistung. Ein Egotrip ist sie allemal. Wer seine ‚Gefühle in einer ausgesuchten Extremsituation in den Griff bekommen will‘ kann dies ohne Sauerstoffhilfe und ohne Sherpas haben. Auf etwas niedrigeren Bergen im Himalaya, in den Anden oder im Kaukasus. Oder mit einem Alleingang auf den Selbsanft:-) Aber eben, darüber ’schwätze‘ gibt dann halt weniger her.

  • Ralf Kannenberg sagt:

    Der letzte Satz fast alles ausgezeichnet zusammen ! Zum Glück begünstigt die Evolution solche Menschen nicht.

  • renzo siegrist sagt:

    Wenn ich das richtig verstanden habe soll es um Kompensation gehen. Diese ist allerdings meiner Meinung nach der Hauptantreiber des Ego Trips!
    Same same but different also wohl eher….

  • Markus sagt:

    Kann es sein, dass die Schlussfolgerung auch auf sie zutrifft Frau Knecht? Einfach ist es die Heckmair anstatt der Everest?

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