Der unverständliche Sinn des Bergsteigens
Bestieg als erster Schwarzer den Mount Everest: Sibusiso Vilane (45). (Youtube /eNCAAgainstAllOdds)
Die Geschichte des Südafrikaners Sibusiso Vilane (45) ist eine Art alpinistischer Tellerwäscheraufstieg – und eigentlich fast unglaublich. Aufgewachsen ist er in ärmsten Verhältnissen in einem abgelegenen Dorf in Swasiland, er hütete Ziegen, barfuss und im Lendenschutz, träumte davon, ein Dach über dem Kopf zu haben und jeden Tag eine warme Mahlzeit zu bekommen. Viel mehr konnte er vom Leben nicht erwarten. Doch es kam anders: 2003 stand Vilane auf dem Mount Everest, auf 8850 Metern, dem höchsten Erdengipfel. Als erster Schwarzer und Südafrikaner. Nelson Mandela gratulierte ihm persönlich. Zwei Jahre später stand Vilane wieder auf dem Everest, dann bestieg er die höchsten Gipfel aller Kontinente, die Seven Summits, und marschierte mit den Ski zum Nord- und zum Südpol, ohne Transporthilfe. Auch das als erster Schwarzer.
Nun las ich ein interessantes Interview mit Sibusiso Vilane im Magazin «All Mountain». Unter anderem ging es darum, dass die stärksten Langstreckenläufer der Welt bekanntlich schwarze Afrikaner sind. «Die Körperstatur, die Muskelstruktur, die mentale Stärke sind offenbar beste Voraussetzung für den Ausdauersport. Unter Bergsteigern allerdings sieht man alle Nationalitäten – nur so gut wie keine schwarzen Afrikaner. Warum?»
Vilane antwortete: «Es liegt nicht daran, dass wir es nicht könnten – wir haben einfach den Sinn dieses Sports lange nicht verstanden. Die meisten verstehen ihn auch heute noch nicht. Für uns haben Berge, Felswände und Gipfel nicht automatisch etwas Heldenhaftes an sich, im Gegenteil (…). Viele afrikanische Eltern warnen seit jeher: Kinder geht nicht auf diesen Berg, dort sind böse Geister, ihr werdet nicht wiederkommen. Für uns sind Gebirge etwas sehr Respekteinflössendes, Mächtiges, von dem man sich lieber fernhält.»
Ich fragte mich: Sind es denn nur die Afrikaner, die den Sinn dieses Sports nicht verstehen? Ist es bei uns nicht ziemlich ähnlich? Auch die Alpenbewohner glaubten bis vor nicht allzu langer Zeit, in den Bergen würden Dämonen und Gespenster wohnen. Bis ins 16. Jahrhundert war etwa die Besteigung des Pilatus per Gesetz verboten. Man glaubte, im Bergsee sei die Leiche von Pontius Pilatus, römischer Statthalter in Jerusalem, versenkt. Allein die Annäherung würde «grusame, ungestüme wätter und hagel, winschlegen und anlaufend der bergwasser» auslösen.

Gefürchige Drachen «existierten» in den Schweizer Bergen bis ins 18. Jahrhundert. Der Zürcher Gelehrte Johann Jakob Scheuchzer bildete sie in seiner «Naturgeschichte des Schweitzer Landes» ab. Nach ihm wurde später das Scheuchzerhorn im Berner Oberland benannt.
Im 18. Jahrhundert veröffentlichte der Zürcher Arzt Johann Jakob Scheuchzer ein angesehenes wissenschaftliches Werk, in dem er die Existenz von Drachen in den Schweizer Bergen nicht nur als erwiesen betrachtete. Er konnte sie sogar genau beschreiben und zeichnen – und deren Vorkommen nach Kantonen ordnen. Betroffen waren demnach: die beiden Appenzell, Bern, Glarus, Luzern, Unterwalden, Zürich sowie das «Pündtner-Land».
Erst vor 150 Jahren, als die Engländer kamen und sich die Erstbesteigungen der Alpengipfel vornahmen, merkte man langsam, dass es dort oben womöglich doch keine teuflischen Wesen gibt. Doch haben die Alpenbewohner seither den Sinn des Bergsteigens verstanden? Für die sicherheitsorientierte Gesellschaft in der Schweiz haben Felswände und Gipfel auch nicht automatisch etwas Heldenhaftes an sich, im Gegenteil.
Bergsteigen verstehen höchstens Bergsteiger. Einer Gesellschaft den Sinn zu erklären, ist sinnlos. Denn Bergsteigen ist nutzlos – für die Gesellschaft. Ob in der Schweiz oder in Swasiland.

Der Zuschauer wird knapp an den Herzinfarkt geführt: Filmproduktionen wie «Everest» helfen mit, damit die Klischees des Bergsteigens weiterleben. (Foto: 3dfilmfans.com)
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6 Kommentare zu «Der unverständliche Sinn des Bergsteigens»
Ich war 15 Jahre Bergführer in Ecuador. Viel Gäste habe ich an ihre Limiten oder darüber hinaus geführt. Das waren Schlüsselerlebnisse für meie Gäste, sowie auch für mich selbst. Dabei kann ich die Begeisterung nicht erklären, das muss man selbst ersteigen können.
Die Rundsicht von einem Gipfel zu haben ist erfüllend und es geht mir nicht nur um das Adrenalin, sonder um ein Glücksgefühl, etwas für sich erreicht zu haben, eventuell eine nahezu spitituelle Erfahrung. Das kann ich einem Zuschauer nicht vermitteln, das ist eine Erfahrung wert.
Mit vielen Gästen habe ich über Jahre den Kontakt erhalten, weil ihnen diese Erfahrung etwas in ihrem Leben eröffnet hatte. Die Fotos davon sind mehr eine Erinnerung an das eigene Erlebnis denn ein Beweis für die Leistung.
Zuerst müsste man mal definieren, was denn Sinn macht. Macht es Sinn, einen Plastikball über das Green zu dreschen (Golf), oder einen aufgeblasenen Ledersack durch eine Umrahmung mit Netz dahinter zu kicken (Fussball)? Jedem das seine und möchte niemandem sein Vergnügen schlecht reden. Für mich gehören die Stunden in den Bergen zu den schönsten meines Lebens. Es hält mich fit und ist eine schöne Abwechselung zum Alltag. Ich schöpfe viel Kraft daraus. Und ich denke, das ist das wichtigste, und darum macht es Sinn.
Guter Artikel von Frau Knecht.
„Die besten Ansichten von Bergen hat man von unten. Der wahre Grund das alpine Klettern zu tadeln ist, dass es mehr Eitelkeit erregt, als jeder andere athletische Sport.“ John Ruskin 1819 – 1900
Vielleicht steckt der „Sinn“ des Bergsteigens manchmal auch im Bedürfnis beachtet zu werden.
Frau Knecht, sie könnten die erste Tagi-Journalistin auf dem Everest sein. Also wenn das kein Ansporn ist …. ?
Was einem Bergsteigen gibt ist nicht mit Geld zu bezahlen – daher die sinnvollste, nutzlose Betätigung ever.
Seit gegen Ende der 70er ist der Pilatus-Drache verschwunden. Das Musegg-Onghüür auch.
Den Pilatus konnte man aber immer gefahrlos besteigen und auf der Musegg-Mauer gefahrlos lustwandeln, da beide ihr Essen in der Stadt geholt haben.