Am Ziel zeigen Läufer ihr wahres Gesicht
Wer an der Ziellinie eines Laufs steht, erlebt Dramen, Komödien und ab und an regelrechte Krimis – nicht nur im Spitzensport. So kann etwa ein Marathonfinish nicht nur die intimsten Gefühle der Athleten freilegen und sie zu spontanen Heiratsanträgen bewegen. Die Art und Weise, wie jemand ins Ziel läuft, verrät auch vieles über den Charakter: Wie oft muss ein Durchtrainierter auf der Zielgeraden eine Läuferin vor sich noch schnappen, damit sein männliches Ego keinen Schaden nimmt. Aber auch Teamplayer outen sich vor der Ziellinie, wenn sie kurz innehalten, auf einen manchmal völlig unbekannten Leidensgenossen warten, um mit oder nach ihm einzulaufen.
Das Finish sagt aber auch viel darüber aus, wie viel der Anlass dem Athleten bedeutet, nicht nur bei Profis und Routiniers – auch Novizen können beispielsweise wahre Poser oder vollengagierte Beisser sein. Unverkennbar ist oft auch, wie erwartbar die erbrachte Leistung für den Teilnehmer war – ganz egal ob der Läufer dabei auf dem Podest landet oder nicht. Viele Läufer zeigen vor dem Zielbogen ihr wahres Gesicht. Obschon die einzelnen Finisher-Typen in männlicher Form verfasst sind, treten alle auch bei Weiblein auf – naja fast, aber urteilen Sie selbst …
1. Der Poser
Die Siegerpose oder das Victory-Zeichen sind die gängigsten Merkmale dieses Typs. Oft bemüht werden auch Supermans Faust, King Kongs Brusttrommel, Usain Bolts Pfeil und der hochgereckte Zeigefinger.
2. Der Macho
Die Emanzipation brachte die Frauen auf die Laufstrecke. Noch heute stellt dies das starke Geschlecht zuweilen vor schier unerträgliche Herausforderungen. Dieser Finisher-Typ erträgt es nicht, kurz nach einer Frau die Ziellinie zu passieren.

Nach einer Frau ins Ziel? No way! Läufer drängt sich am New York Marathon 2010 an der Autorin vorbei. Bild: PD
3. Der All-in-Typ
Dieser Einlauf-Typ ist bereit, bis zum letzten Millimeter das Letzte zu geben. Er zapft oft für einen fulminanten Schlusssprint seine letzten Kraftreserven an. Sein Kampf und Engagement sind in seinem Gesicht unübersehbar.
4. Der Beter
Dieser Finisher-Typ ist überzeugt, dass seine Energie oder sein Erfolg von höherer Macht gesteuert ist. Ein Blick nach oben oder ein Kniefall sind sein Merkmal. Achtung, der Bodenkuss kann auch einfach nur bedeuten, dass der Läufer unendlich dankbar ist, diesen Boden endlich erreicht zu haben.
5. Der Geniesser
Von Verzückung bis zur Extase, dieser Einlauf-Typ reitet im Ziel auf einer Genusswelle – ganz egal, wie hart er dafür gearbeitet hat, lässt er sich diesen Augenblick nicht nehmen.

Eunice Jepkoech Sum (Ken) geniesst ihren Einlauf am Diamond League Meeting 2014 in Rom über 800 Meter. Foto: Reuters
6. Der Überwältigte
Manchmal überraschen sich Läufer mit Leistungen, die ihnen niemand zugetraut hätte – geschweige denn sie selbst. Überrascht und überwältigt endet ihr Wettkampf oft in Tränen.

Die süssesten Tränen: Die deutsche Marathonhoffnung Anna Hahner gewinnt 2014 überraschend den Marathon in Wien. Bild: DPA
7. Der Teamplayer
Entweder treten diese Läufer bereits gemeinsam an und weichen nicht von der Seite ihres Partners oder sie schliessen schweigend auf der Strecke Freundschaft und werden mit einem eigentlichen Konkurrenten zu einer Leidensgemeinschaft. Sie würden es sich um keinen Preis nehmen lassen, gemeinsam einzulaufen.

Gemeinsamer Erfolg: Die Eliteläufer Meb Keflezighi und Hilary Dionne am Boston Marthon 2015. Foto: Winslow Townson (USA TODAY Sports)
8. Der Fixierte
Dieser Finsher-Typ ist unverkennbar. Sein erster Blick gilt seinem Handgelenk oder vielmehr seiner Uhr. Er prüft, ob er seine Zielzeit erreicht hat und stellt gleichzeitig sicher, dass er auf keinen Fall vergisst, seine Stoppuhr rechtzeitig abzustellen.

Zuerst ein Blick auf die Uhr: Pauline Chepkorir Atodonyang (Ken) gewinnt den Lausanne Marathon 2008. Foto: Keystone
9. Der Kinderzeiger
Diese Einlauf-Typen wollen die ganze Zuschauerschar wissen lassen, dass sie einerseits stolze Eltern sind. Andererseits stellt das Präsentieren der Kinder wohl auch ein kleines Dankeschön an den Nachwuchs dar, schliesslich muss dieser während des Trainings auf Papi oder Mami verzichten.

Die Schweizerin Jasmin Nunige jubelt beim Zieleinlauf als erste Frau am Swiss Alpine Marathon, Juli 2010. Foto: Keystone
10. Der Übermütige
Ausser Rand und Band zeigen diese Läufer, dass sie noch viel mehr drauf haben. Während sich die Mitstreiter neben ihnen ins Ziel schleppen, mobilisieren sie für das Erinnerungsbild noch die letzten Kräfte.
7 Kommentare zu «Am Ziel zeigen Läufer ihr wahres Gesicht»
sehr schöne und vollständige Aufzählung, wie mir scheint… Merci meint ein 5/7-Typ!
ich bin Typ Nummer 11: der Nichtstarter :-)
Einige dieser Typen sind auch über kürzere Distanzen (1/2-Marathon, 10 Meilen & 10Km) zu beobachten.
Ich bin Typ Nr. 8, der seine Zwischen- und Schlusszeiten checkt.
Frau Wertheimer. Waren Sie am New York Marathon 2010 nicht zu warm angezogen?
Die Läuferin auf dem letzten Bild ist definitiv nicht Kilian Jornet bei Sierre-Zinal!
genau, das ist Christy Pasion
Sehr schöner Bericht und ja so treffend beschrieben. Persönlich würde ich mich unter Nummer 5 einreihen und laufe am liebsten ohne Uhr. Dafür habe ich wunderschöne Erinnerungen.