Kann denn so viel Schönheit wahr sein?

Diese Woche vom Brünig via Chäseren aufs Brienzer Rothorn (BE)


Die Wanderung aufs Brienzer Rothorn: eine der besten Touren meines Lebens. Die ganzen fünf Gehstunden lang bekämpften sich subtile Schauder und grosse Freude. Der Weg führt durch eine unglaublich steile Halde und ist eigentlich unmöglich; für sehr Schwindelanfällige ist er nichts. Und gleichzeitig liebte ich den Weitblick und Tiefblick auf all die Gipfel und den Brienzersee in seiner vom Gletscher ausgefrästen Mulde.

Das Übermass an Schönheit trug zum Gefühl bei, dass ich auf der Heimreise dachte: Das hast du nur geträumt, Widmer!

Gut, führte ich an jenem Tag meine Kamera mit. 192 Aufnahmen beweisen mir in Momenten des Zweifels, dass die Unternehmung stattgefunden hat. Sie begann bei strahlendem, vielleicht ein wenig heissem Wetter auf dem Brünig, wo ich aus dem Zug stieg, mein Ziel auf dem Wegweiser ausgeschrieben sah und gleich startete.

Alpogli klingt türkisch

Die stark befahrene Passstrasse wurde ich schnell los und mochte hernach das Einlaufen und Schnaufen im steilen, doch harmlosen Wald. Beim Totzweg stand eine Kuh, wetzte irgendwie die Klauen an einem Felsen und schloss sich mir an. Als der Zaun nahte und sie zurückbleiben musste, senkte sie traurig den Kopf – der Moment der Trennung.

Nach den Hütten des Wiler-Vorsess geriet ich in die wilde Flanke unterhalb des Wilerhorns und des Hörnlis. Bei Alpogli, was irgendwie türkisch klingt, passierte ich Lawinenverbauungen aus Holz. Dann Fluemeder, Salewang, Äbnet, der Pfad waagrecht durch die Flanke war schmal, war mal begrast, mal felsig, mal geröllig. Zur Linken ging es grauslig abwärts, an einer Stelle waren Ketten montiert.

Ich kam an Wegarbeitern vorbei. Zwei, drei Männer pickelten und bohrten, überall lagen Werkzeuge, ich dachte, dass dies eine harte Arbeit war, und fühlte Dankbarkeit. Weiter vorn waren zwei jüngere Typen ebenfalls am Ausbessern. Sie machten sich dazu einen Spass daraus, Steinbrocken mit viel Schwung in den Hang zu rollen; die Brocken kollerten talwärts, rissen andere Brocken mit, sprangen meterhoch, es knallte und donnerte durch Wiese und Wald. Das fand ich blöd und hoffte, dass unter uns keine Menschen waren. Auf meiner Karte waren unterhalb doch Wege eingezeichnet.

Bei der Alp Chäseren war das Gröbste ausgestanden. Weitgehend. Ich rastete, ass etwas Kleines. Der Lammbachgraben, ein Geröllkanal, war anschliessend noch einmal ein Gruselstück, man hätte sich auf den Hosenboden setzen und 1000 Höhenmeter nach Oberschwanden hinabrutschen können, einem Dorfweiler über Brienz. Oder doch nicht? Man hätte es wohl nicht überlebt.

Es walzt und klappert in der Halde

Dergleichen seltsame Ideen wälzend, langte ich keuchend beim Eiseesattel an. Das gleichnamige Seelein ganz in der Nähe: Augentrost von überirdischer Sanftheit, es schien mir, wie andere Dinge zuvor, nicht ganz von dieser Welt. Als ich drei viertel Stunden später die Schlusskehren absolviert hatte und auf dem Rothorn stand, spürte ich Erhabenheit.

Das Panorama war göttlich, ich genoss und genoss, bis mich endlich ein seltsames Walzen und Klappern aus der Schwelgerei riss. Das Dampfbähnchen von Brienz. Gleich noch einmal dachte ich, während ich der Seilbahn nach Sörenberg zustrebte: Kann das denn wahr sein, ein Zug auf diesen Wahnsinnsberg? Spinnen wir Schweizer eigentlich? Ist es ein kollektiver Landschaftsrausch, der da wirkt?

++

Route: Bahnhof Brünig-Hasliberg – Engiwald – Schäri/Totzweg – Bruni/Wiler-Vorsess – Alpogli – Fluemeder – Chäseren – Lammbachgraben – In Mederen – Eiseesattel – Brienzer Rothorn (Gipfel) – Brienzer Rothorn (Seilbahn).

Wanderzeit: 5 1/4 Stunden.

Höhendifferenz: 1524 Meter auf-, 235 abwärts.

Wanderkarte: 254 T Interlaken, 1:50’000.

GPX-Datei: Hier downloaden.

Retour: Mit der Seilbahn nach Sörenberg, Schönenboden; von dort Buslinie nach Schüpfheim Bahnhof. Oder mit der Dampfbahn hinab nach Brienz.

Charakter: Anstrengende, dabei ungeheuer aussichtsreiche Bergwanderung. Schmale Wege, zum Teil leicht exponiert, mit viel Tiefblick. Trittsicherheit und eine durchschnittliche Schwindelresistenz nötig.

Höhepunkte: Jeder Meter ist ein Höhepunkt. Besonders: der erste Anblick des Brienzersees beim Totzweg. Die Rast bei der Alp Chäseren. Das tiefblaue Eiseeli. Die Ankunft auf dem Gipfel, wo einem auch der Blick nach Norden (Sörenberg) zuteil wird.

Kinder: Machbar, doch muss man sie im Auge behalten und anleiten. Kleine Kinder sichert man mit einem Seil.

Hund: Keine Probleme.

Einkehr: Brünig und Rothorngipfel.

Wanderblog: Täglich ein Eintrag auf Thomas Widmers privatem Journal.

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6 Kommentare zu «Kann denn so viel Schönheit wahr sein?»

  • D Huber sagt:

    Guten Tag Herr Widmer. Vielen Dank auch für diesen Bericht. Dank ihrem grossen Empfehlungsschreiben habe ich heute –es war ein herrlicher Herbsttag – die Wanderung auf das Brienzer Rothorn unternommen. Atemberaubend die Streckenführung. Das Ziel hoch über dem Wolkenmeer. Ausgepowert aber wunschlos glücklich. Danke!
    Grüsse
    D.Huber

  • Susanne Imlig sagt:

    Das wird meine nächste Wanderung sein!
    Danke Herr Widmer

  • Kurt sagt:

    Mit Kinder auf eine Wanderung mit 1500 Höhenmeter finde ich happig. Dann sind sie eher schon Jugendliche und brauchen keine ‚Hundeleine‘ mehr.

    • Daniel Heierli sagt:

      Das kommt halt drauf an, wie trainiert die Kinder sind. Wenn sie trainiert sind, ist eine solche Wanderung auch für sechsjährige bestens machbar!

      • Thomas Widmer sagt:

        Lieber Kurt, ich habe einen Neffen und eine Nichte, die so etwas lieben! Die Nichte ist eher jugendlich, der Neffe noch ein Kind.

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