Willkommen am Tessiner Fels
Ein Beitrag von Emil Zopfi*
«Benvenuti al Canyon» steht auf dem Täfelchen, das an einem Baum hängt. So freundlich sind wir noch nie in einem Klettergebiet begrüsst worden. Canyon heisst ein Sektor der Falesie di Gudo. Die Felsen hoch über der Magadinoebene sind vor wenigen Jahren von Tessiner Kletterern erschlossen worden. Der Weg vom Parkplatz durch den Kastanienwald ist sorgfältig angelegt, alle paar Meter weist ein rot-weisser Pfeil die Richtung – selbst in Gegenrichtung, man muss ja auch den Rückweg wieder finden. Unter den rötlichen und grauen Gneisformationen ist ein Rastplatz mit Tisch und Bänken eingerichtet, selbst der Aschenbecher aus Granit fehlt nicht. Die Routen sind weithin sichtbar in gelber Farbe und grossen Buchstaben angeschrieben, samt Schwierigkeitsgrad. Bohrhaken, Umlenkungen – hier stimmt alles, auch das Ambiente. Zwischen den Birken und Kastanien streift der Blick über die Ebene zum Ceneri, am Himmel kreist ein Raubvogel, am Fuss der Wand windet sich eine junge Ringelnatter und verschwindet unter Steinen. Mit Sorgfalt und Hingabe haben lokale Enthusiasten einen kleinen Felsfreizeitpark erschlossen und für die Klettergemeinde zur Verfügung gestellt.
Einst bildeten die Tessiner Kletterer eine verschworene Gemeinschaft, die sich dezidiert gegen die Felssportler aus dem Norden abgrenzte und Routenbeschreibungen und neue Klettergebiete geheim hielt. «Ein auswärtiges Kletterführerprojekt zwingt zum einstimmigen Widerstand», schreibt Marco Volken in einem historischen Abriss über seinen 1964 gegründeten Kletterclub Scoiattoli dei Denti della Vecchia. Tempi passati. Über die Website Scoiattoli.ch veröffentlicht die Gruppe heute neue Routen, Gebiete und weitere Informationen zum Klettern im Tessin. Unter anderem kann man hier die Beschreibung der Falesie di Gudo herunterladen.
«La roccia, sebbene non sia fra le migliori de Cantone, offre vie molto variate e mai banali», heisst es da. Das klingt nicht gerade hinreissend, ist jedoch ehrlich und entspricht etwa unserer Erfahrung. Heikle Einzelstellen, glatte Auflegergriffe, die Bewertung ziemlich hart. Das Gebiet ist sicher gewöhnungsbedürftig. Die gute Information zeigt jedenfalls, wie sich die Szene im Tessin gewandelt hat in den vergangenen Jahren. Allerdings wird auch darauf hingewiesen, dass sich die Felsen auf privatem Grund befinden, «un comportamento rispettoso» sei angezeigt.
Das erinnert an den Sektor Il Gufetto in Arcegno, wo uns vor drei Jahren kein «Benvenuti» empfing, sondern der Schriftzug «PRIVATO CHIUSA», in Riesenbuchstaben auf den Fels gepinselt. Die untersten Haken waren ausgerissen, ein Fixseil am Zugangsweg entfernt. Über die Gründe dieser privaten Felssperrung gibt es verschiedene Versionen. Der Besitzer des nahen Rusticos, zu dessen Grundstück offenbar auch der Wald und die Felsen gehören, habe sich über Müll und menschliche Exkremente beklagt. Laut anderen Gerüchten war es sein Hund, der sich mit den Felssportlern nicht vertragen habe. Die Tessiner Scoiattoli hätten das Gespräch gesucht, aber offensichtlich ohne Erfolg.
Der Aschenbecher bei den Felsen von Gudo ist wohl als Mahnung gedacht, sich anständig zu benehmen und nicht einmal eine Zigarettenkippe liegen zu lassen. Damit nicht auch hier eines Tages «PRIVATO CHIUSA» steht statt des freundlichen «Benvenuti».
*Emil Zopfi ist Rentner, Schriftsteller und lebt in Zürich. Er ist seit über fünfzig Jahren Bergsteiger und Kletterer, www.zopfi.ch.
Ein Kommentar zu «Willkommen am Tessiner Fels»
Ja, lieber Herr Zopfi, mit allem einverstanden. Und zur Hölle mit den Idioten, die überall ihren Müll liegen lassen und den Einstieg versch… Aber Pfeilchen, sorgfältig angelegte Wege, Hinweisschildi allüberall erinnern mich halt trotzdem mehr an die artifizielle Welt einer Kletterhalle denn an ein schönes Stück Fels in einem Kastanienwald. Das kann am Ende die Lösung auch nicht sein. PS: Früher gabs übrigens noch die Filmdosen, in denen liessen sich Zigarettenkippen prima entsorgen – aber heute raucht ja auch niemand mehr.