Der See, den es nicht gibt

Diese Woche zum Lagh da Caralin im Bernina-Gebiet GR

Hat jemand eine Wanderkarte 1:50’000 «Poschiavo», die älter als 15 Jahre ist? Weg damit und eine neue kaufen! Unser Wanderziel, den Caralinsee, gibt es erst seit anderthalb Jahrzehnten; ältere Karten zeigen ihn nicht. Er ist sozusagen noch in der Pubertät.

Um dem heiteren Gedanken einen düsteren anzuhängen: Der Caralinsee verdankt seine Geburt dem langsamen Sterben eines anderen Gebirgswesens. Der immer schneller abschmelzende Palügletscher hat ihn geschaffen.

Puschlaver Iglus

Und damit zum Anfang der Wanderung, zur Bahnhaltestelle Ospizio Bernina an der Strecke von Pontresina nach Poschiavo. Es ist dort ein schönes Loswandern mit dem fahlblauen, weiten Lago Bianco vor Augen, dem Berninapass-Stausee. In sanftem Auf und Ab erreichen wir bald seine Südspitze. Gleichermassen leicht gelangen wir hinauf zur Aussichtskanzel von Sassal Mason, denn auf dieser sanften Rampe beginnen die Glückshormone zu wirken. Der Blick ist nun atemberaubend und reicht vorbei an den allerzackigsten Gipfeln Richtung Puschlav und Italien. Aber auch zum nahen Piz Palü. Bei gutem Wetter sieht man an ihm Pünktchen auf dem Weg zum Gipfel. Bergsteiger.

Toll auch, was die Terrasse des Sassal-Mason-Restaurants schmückt. Es sind zwei Crot, runde Iglus aus unverputzten Steinen. In den Crot lagerten die Leute des Puschlavs einst Milch, Käse und dergleichen; heute erfreuen sich an ihnen die Touristen.

Nach Sassal Mason geht es kurz steil abwärts, eine Spitzkehre ist zu bewältigen. Und dann wandern wir bei steter leichter Steigung genau auf den Palügletscher zu und in einen weiten Bergkessel alpinen Gepräges hinein. Der Pfad ist ein Genuss und kann sich schweizweit sehen lassen. Breit ist er, führt sicher durch die steile Felshalde, tief unten liegt der herzförmige Palüsee, den wir viel später tangieren werden. An zwei Orten gibt es am Pfad kurze Tunnel, immer wieder bespritzen uns eisige Bäche. Wir haben schon Türkenbund, Knabenkraut, Enzian gesehen, nun kommt Edelweiss dazu. Edelweiss, zum Berühren nah! Aber nicht zum Ausreissen!

Später ein Geröllfeld und der Abflussbach des Caralinsees, über den eine winters hochklappbare kleine Brücke genial führt. Dann der See selber. Das ihn ermöglichende Wasser des Palügletschers stürzt im Hintergrund über eine steile Fluh, die Seefläche ist von einem arktischen Blau, Eisbrocken treiben, gibt es hier Pinguine und Robben? Eine gute Sache, am Ufer zu ruhen und zu sinnieren über das Werden und das Vergehen. Den Namen hat der See von einem nahen Berg, dem Piz Caral samt der vorgelagerten Nase «Caralin».

Und zum Schluss: Gletschermühlen

Über glatt geschliffene Felsen hinweg nähern wir uns der abrupten Kante zum Palüsee hinab, der Abstieg ist ruppig. Unten ein Sprudelbach, in den man gern die Füsse hält. Schliesslich der Palüsee mit der Alpe Palü. Auf der Terrasse kann man ruhen und einen Käseteller essen. Die Wanderung ist damit noch nicht fertig. Die Steilstufe hinab zur Bahnstation von Cavaglia ist noch zu meistern. Unten können wir vor der Buvette in der Sonne hocken und auf den Zug warten.

Vielleicht schieben wir dieses Schlusserlebnis aber noch ein wenig auf. Wenig entfernt nur warten Gletschermühlen perfekt erschlossen in einem Rundweg. Die geschmirgelten Steine in ihren Felsschlünden, die in allen Spielarten hellgrau bis schwarz koloriert sind, muss man gesehen haben.

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Route: Ospizio Bernina (Haltestelle der Linie Pontresina – Poschiavo) – Sassal Mason – Caralinsee – Geri da Palü – Palüsee – Alpe Palü – Cavaglia (Haltestelle derselben Bahnlinie).

Wanderzeit: 4 Stunden.

Höhendifferenz: 330 Meter aufwärts, 890 abwärts.

Wanderkarte: 249 T Val Poschiavo, 1:50’000.

GPX-Datei: Hier downloaden.

Abstecher: Am Ende der Wanderung empfiehlt sich von der Station Cavaglia aus die Besichtigung der Gletschermühlen. Dafür braucht man (hin, Besichtigung, zurück) eine Stunde zusätzlich. Der Abstecher lohnt sich, die Mühlen sind eindrücklich, in die eine kann man per Leiter sogar absteigen.

Charakter: Insgesamt angenehm. Vor dem Caralinsee ist die Passage über grobes Geröll etwas anspruchsvoller, zudem ist der Abstieg zur Alpe Palü ziemlich steil. Die Wanderung ist äusserst aussichtsreich und hat im Bereich des Caralinsees deutlich alpinen Charakter. Steinschlagrisiko auf der Passage zum Caralinsee.

Höhepunkte: Die Crot von Sassal Mason. Der Tiefblick danach auf den Palüsee. Die vielen raren Pflanzen am Weg inklusive Edelweiss. Der arktisch anmutende Caralinsee unter dem Palügletscher. Der Käseteller auf der Alpe Palü. Die Gletschermühlen von Cavaglia.

Kinder: Dies ist eine gute Familienwanderung. Auf dem Weg von Sassal Mason zum See muss man die Kinder aber im Auge behalten. Der Weg ist nicht ausgesetzt und breit, führt aber doch durch eine steile Felshalde, dies bei Steinschlagrisiko.

Hund: Der Hund wird die Route lieben.

Einkehr: Ospizio Bernina am Anfang, Bahnhofbuffet, täglich offen. Sassal Mason, täglich offen. Alpe Palü. An der Station Cavaglia gibt es einen Kiosk mit Buvette, in der Regel offen.

Wanderblog: Täglich ein Eintrag auf Thomas Widmers privatem Journal.

Führer: Viele Informationen, auch zum Caralinsee, gibt es in «Das Puschlav» von Corina Lanfranchi, Rotpunkt.

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3 Kommentare zu «Der See, den es nicht gibt»

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