«Der Gipfel des Wahnsinns»

Yosemite Climb

Plötzlich Helden: Die US-Kletterer Tommy Caldwell (l.) und Kevin Jorgeson erzählen den Medien, wie sie die Dawn Wall am El Capitan bezwangen (15. Januar 2015). Foto: Eric Paul Zamora (AP, Keystone)

Für Kletterinteressierte war es ein gefundenes Humorfestival: 19 Tage brauchten zwei US-Freeclimber, um die Dawn Wall am El Capitan als erste Menschen rotpunkt zu klettern. Damit machten Tommy Caldwell und Kevin Jorgeson nicht nur am Fels das Unmögliche möglich. Sie generierten via Livestream, Twitter, Facebook, Instagram und so weiter einen ungeheuerlichen Medienhype – was für diesen Nischensport natürlich toll ist. Doch es gab auch einige Irrungen und Verwirrungen. Hier sind die Highlights:

Lang lebe Kyrbekistan! (Quelle: Tagesanzeiger)

Ein Hoch auf Kyrzbekistan! Es liegt unmittelbar neben Absurdistan. Karikatur: Ruedi Widmer («Tages-Anzeiger»)

Ein erfundenes Land: Bevor die Kletterei am El Capitan losging, gab Tommy Caldwell der «New York Times» ein exklusives Interview. Da erzählte er, wie er 2000 in Zentralasien gekidnappt und gerettet wurde – und zwar in der Republik Kyrzbekistan. Die Redaktion dachte sich wohl, wenn einer in der Vertikalen Unmenschliches vollbringen kann, dann weiss er auch, in welchen Ländern er reist. Jedenfalls hat bei der NYT niemand gemerkt, dass es Kyrzbekistan nicht gibt. Inzwischen existiert das «irrtümlich erfundene Land» – im Internet. «Der neue Staat twittert, hat einen Schwarzmarkt für Pizza und träumt vom Sieg des Fussballvereins Traktor Bishkent über Real Madrid», schreibt «Der Standard». Der «Tages-Anzeiger» schickt «Greetings from Kyrzbekistan!» Auch das ist ein Kletterrekord.

Weshalb benutzen die Seile, wenn es Freeclimbing ist? (Bild: AP Photo/Tom Evans, elcapreport)

Weshalb benutzen die Seile, wenn es Freeclimbing ist? Foto: Tom Evans (AP, Keystone)

Was bedeutet «Freiklettern»? Das gemeine Publikum verwechselte Freeclimbing mit Free-Soloklettern und reagierte in den Kommentarspalten etwas enttäuscht, weil da am El Capitan ein Sicherungsseil im Spiel war («Na ja, 50 Meter am Tag klettern, dann noch angeseilt . . .»). Oder Freiklettern wurde so erklärt, dass es jeder versteht: «Wenn der Vorsteiger zum Beispiel ein wenig traversieren muss und dann zur Seite nicht mehr weiterkommt, aber dann entdeckt, dass er 5 Meter weiter unten dies wunderbar tun kann, dann darf er sich auch nicht einfach dahin abseilen, sondern muss dort hinunterklettern.»

Hier gehts zum ARD-Beitrag: http://www.tagesschau.de/ausland/yosemite-klettern-101.html

Nur mit Händen und Füssen und Seilen aus Stahl: Auch die Kletterfans begriffen nicht immer, was da in Sensationssprache vermittelt werden wollte. Zum Beispiel im Beitrag der «Tagesschau» der ARD: «915 Meter senkrecht nach oben – noch niemand hat die Granitwand des El Capitan im Yosemite-Nationalpark ohne Hilfsmittel bezwungen. Zwei US-Freeclimber wollen das ändern. Nur mit Händen und Füssen und Nerven aus Stahl sind sie auf dem Weg nach oben.» Es sei «der Gipfel des Wahnsinns», so der Sprecher. Es sei «die Ente des Tages», antwortete das «Climax Magazine» auf Facebook. Denn der El Capitan wurde schon von x Kletterern frei «bezwungen», es geht hier um eine Route. Und Klettern.de schreibt: «Ich hätte auch gerne Füsse aus Stahl.» Wer nicht?

Der Herr links sieht aus wie Alex Honnold. Aber laut «Bild» ist es Kevin Jorgeson.

Der Herr links sieht aus wie Alex Honnold. Aber laut «Bild» ist es Kevin Jorgeson.

Wer weiss, wie Tommy Caldwell und Kevin Jorgeson aussehen? Ist doch egal. Die «Bild»-Zeitung verwendet ein Foto von Alex Honnold, dem vielleicht berühmtesten Kletterer der Welt, und schreibt darunter, er sei Jorgeson. Merkt ja keiner. Um das Missgeschick abzurunden, führt ABC News ein Interview mit Alex Honnold, nennt ihn aber durchgehend «Alex Honnlove». Honnold wurde von einem Journalisten gar gefragt, ob er den El Capitan auch schon frei geklettert sei – und das, obschon die anderen beiden diesen Berg ja gerade als Erste mit Hand und Fuss und Nerven und Seil klettern. (Für alle, die es nicht wissen: «Honnlove» ist besonders bekannt für ungesicherte Solotouren, besonders am El Capitan.)

Google jpgMit Hand und Fuss. Wer auf Google nach Kevin Jorgeson suchte, erhielt während rund einer Woche diese Information (siehe oben). «Praktisch jedes Detail ist falsch», schreibt Climbing.com. Erstens wieder die fast überall verbreitete Mär, die beiden seien die Ersten, die «nur mit Händen und Füssen» auf den El Capitan klettern wollen. Aus Tommy Caldwell machte Google Tom Evans. Und ist das wirklich Jorgeson auf dem Foto?

«Wir». Der US-Präsident ist jetzt auch offiziell ein Kletterfan: Barack Obama gratulierte den beiden Freeclimbern persönlich via Twitter: «So stolz auf Tommy Caldwell und Kevin Jorgeson, dass sie den El Capitan erobert haben. Ihr erinnert uns daran, dass alles möglich ist.» Genau. «Yes, we can», sofern man nur will, führen 1000 Meter Big Wall zur ersten Mondlandung. Nicht alle fanden den Tweet aus dem Weissen Haus gut. Er generierte Neid.

Ist das der Dank für die Anstrengung?

Ist eine solche Schlagzeile am Ende der Dank für die Anstrengung und die überwundenen Gefahren? Ja! Es ist der Ritterschlag.

«Zwei Idioten». Am Ende bleibt die Frage: Hat sich dieser Medienhype für den Nischensport Klettern gelohnt? Wie hat die breite Öffentlichkeit auf diesen historischen Erfolg reagiert? «Vielleicht soll der Leser auch mal an die Bergwacht denken, die bei einem Absturz die Leichen bergen muss.» Oder: «Ich geh davon aus, die verwenden kleine recycelbare Tüten und sammeln ihr grosses Geschäft mit dem Papier ein und entsorgen es dann, wenn sie wieder am Boden sind, in den entsprechenden Toiletten (wie Camper auch)», kommentiert einer auf Spiegel.de. Die Freude hielt sich insgesamt in Grenzen, was das britische Satiremagazin «The Daily Mash» dazu veranlasste, in einem schlanken (lesenswerten) Artikel das zu sagen, was etwa 92,6 Prozent der Nichtkletterer dachten, aber nicht so charmant formulieren konnten: «Two idiots climb big thing for some stupid reason.»

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11 Kommentare zu ««Der Gipfel des Wahnsinns»»

  • Urs Kym sagt:

    Sogar ich als Nicht-Kletterer und Nicht-Sportler meine zu Wissen, dass Lynn Hill die Erste (und auch der Erste) war, die diese Wand frei geklettert hat. Aber was kann man von der Presse im Internet-Zeitalter noch erwarten, wenn schon die minimalste Recherche aus Kostengründen gestrichen wird. Und so gross kann ja diese „sinnlose“ Leistung auch nicht gewesen sein, wenn man berücksichtigt, dass die viel schwierigere, bei Chamonix – oder ist es Zermatt ? – gelegene Eiger-Nordwand bereits vom Grossvater von Adolf Ogi erstmals frei erstiegen wurde. Und die Erstbesteigung der Nordwand der Grossen Zinne von Laveredo – wo zum Teufel ist das eigentlich ? – durch Luis Trenker war mindestens eine ebenso so grosse Leistung. Denn der hat vom Einstig bis zum Gipfel während des Kletterns die ganze Zeit noch volkstümliche Liebeslieder gesungen.

  • delpiero sagt:

    es ergibt keinen Sinn für diese Aktion , also ist es Unsinn.

  • Joachim Adamek sagt:

    Den guten Kletterer erkennt man daran, dass er immer eine Linie findet. Frau Knecht findet nicht nur die anstrengenden und schwindelerregenden, sondern auch die humorvollen. Vielen Dank für diesen Ausflug in die skurrile Welt der digitalen Spitzeninformation! – Wir sind und bleiben alle Dilettanten. Auch wenn wir beim Snowboarden einen Fallschirm auf dem Rücken haben, wie dieser „verrückte Urtyp“, der heute im Standard vorgestellt wird: Ueli Kestenholz.

  • Rob Müller sagt:

    Zum Glück entlarvt unser Alpinblog derartige Lügenartikel!

  • Dani Wieser sagt:

    Interessanter Artikel!
    Und zeigt auch schön, dass das Unwort des Jahres „Lügenpresse“ nicht von ungefähr kommt.

    Wenn nich mal die 6 Ws (wer, wie, wann, warum,….) von der Presse korrekt wiedergegeben werden können, dann hat die Presse ein Glaubwürdigkeitsproblem.

  • rené sagt:

    auch ich habe mich über die berichterstattung gewundert. falsche bilder (half dome statt el capitan im „Bund“), falsche beschreibung der kletterei, vermeintliche erstbesteigung der wand usw.
    nun frage ich mich, wieviel stimmt dann jeweils in anderen berichten zu anderen themen im journalismus?

    • Dominik Osswald sagt:

      Ich hatte mich zunächst amüsiert über das falsche Bild in der BaZ – bis ich hörte, dass der Bund den gleichen Fehler (Half Dome statt El Cap) machte, zu einem Text aus dem TA, den ich geschrieben hatte… Peinlich!
      Angesichts der Tatsache, dass gleich zwei Zeitungen unabhängig voneinander den gleichen Fehler machen, frage ich mich aber, ob vielleicht eine falsche Bildbezeichnung bei der Bildagentur vorliegt…

      • Ernst Moor sagt:

        Naja, Dominik. Du weist já sicher, dass die heutigen Zeitungen sich gegenseitig alles hemmungslos abschreiben und abbildern. Muss Dich also nicht wundern, wenn 2 Zeitungen denselben Mist bringen, d.h. denselben Fehler !!!!! Daran müssen wir alle uns gewöhnen, auch an all die Schreibfehler auf jeder Seite der Zeitungen !! Es muss immer alles schnell gehen und dann bleibt keine Zeit zum durchlesenl
        Grüsse. Ernesto.

  • Zahir sagt:

    Tja, auch die (Papier)-BaZ schaffte es, den Artikel dazu mit dem Half Dome zu illustrieren, statt mit dem El Capitan ;-)

  • Roland K. Moser sagt:

    Einer musste es machen! Nun waren es 2!
    Im übrigen bezwingt man einen Berg nicht. Weder beim Klettern noch mit dem MTB/Rennvelo. Ohne Berg ginge es nicht bergauf, also ist der Berg der Freund.

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