Der Uetli- ist auch ein Kletterberg

Ein Gastbeitrag von Emil Zopfi*

Der letztes Jahr verstorbene Zürcher Extrembergsteiger und Bergführer Walter Müller ist am Fuss des Uetlibergs aufgewachsen. Als Jugendlicher begann er zu klettern, an den Nagelfluhblöcken unterhalb des Wegs, der vom Staffel westlich am Gipfel des Uetli vorbeiführt. Walter hängte sich in die Fingerlöcher der Nagelfluh, klammerte sich an die glatten, ins Konglomerat eingebackenen Flusskiesel und verinnerlichte mit grosser Beharrlichkeit die harten Bewegungsabläufe. Das konsequente Training machte ihn zu einem der ersten Freikletterer der Schweiz, dem äusserst schwierige Erstbegehungen und Wiederholungen in den Alpen gelangen.

Schon in den 30er-Jahren, heisst es, hätten die Zürcher Gebrüder Amstad, Erstbegeher unter anderem des Salbit Südgrats, auf dem Uetli trainiert. Ein Kletterfreund erzählte mir, dass ein paar Zürcher Extreme in den 60er-Jahren sogar im Winter auf den Uetli trabten und sich in den vereisten und verschneiten Felsen die Finger blau kletterten. Anschliessend wärmten sie sich auf dem Kulm mit einem Bier auf und wälzten Pläne von grossen Nordwänden, Winter-Erstbegehungen und Himalayaexpeditionen.

Nacktklettern am «Schnudernäsli»

Jetzt haben wir einen warmen Herbst, doch mein eigener Versuch an einer kleingriffigen und zum Teil mit Tropfstein überzogenen, etwa zehn Meter hohen Wand endet mangels Fingerkraft und Sicherung ziemlich kläglich. Hier wäre sogar ein Vorstieg möglich. Im Fels stecken Haken verschiedener Generationen, auch neue Bohrhaken, die zeigen, dass es trotz Kletterhallen und unzähligen Klettergärten noch immer Uetli-Kletterfreaks gibt. Pfeile weisen an verschiedenen Blöcken die Einstiege zu Boulderproblemen.

In den 80er-Jahren machte der legendäre Kletterclub Uetliberg KCÜ Furore. Mitglieder des wilden Haufens wie Martin Scheel oder Roland Heer wurden schliesslich hervorragende Kletterer und Bergsteiger. Heer, inzwischen als Schriftsteller bekannt geworden, schreibt: «Die damalige Hauptbedingung für einen Eintritt in das Klübli war seilfrei den Uetlibergturm hochzuklettern.» Den Routen und Felsen gab man Namen wie «Schnudernäsli-Direkte», «Müllerwändli», «Rollstuhlüberhang», «Matterhörnli» oder «Spinnenwändli» – auch Nacktklettern gehörte zum Programm. Die KCÜ-Freaks wohnten in WGs und gehörten zur anarcho-dadaistischen Szene der Zürcher Jugendbewegung der 80er, die so einprägsame Slogans schaffte wie «Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer». Die Alpen blieben dann aber zum Glück doch stehen, und so konnte Martin Scheel als einer der Ersten Routen von Sportkletterniveau in den Alpen erschliessen, 1980 etwa den «Supertramp» in der Bockmattli-Nordwand.

Zwölf neue Routen am Uetli

An der senkrechten Felsstufe direkt unter der Westseite des Gipfels finden sich Spuren einer weiteren «Renaissance» des Uetlikletterns: dicke Bohrhaken, Ketten, Schlingen und künstliche Griffe im Wasser überronnenen und zum Teil bewachsenen Fels. Ein düsterer Winkel, an dem kaum mehr jemand klettert. Vor zwanzig Jahren richteten hier Junge vom SAC Uto zwölf Routen im fünften bis achten Grad ein. Pascal Siegrist zeichnete ein liebevolles Topo, das auch mal im Internet auftauchte. Inzwischen trainiert der Mitinhaber der trendigen Boulderhalle Minimum in Altstetten wohl lieber an der Kunstwand für grosse Unternehmen in den Alpen, etwa die Erstbegehung von «Out of Space» in der Südostwand des Chalchschijen, einer Route im zehnten Grad.

Für ein erweitertes Nagelfluh-Klettertraining lohnt sich eine Fahrt nach Bregenz zum «Känzele» am Gebhardsberg, dem «Uetliberg» der Vorarlberger Hauptstadt. Konglomeratsüchtige pilgern schliesslich zum Montserrat bei Barcelona – dort hat auch Martin Scheel Routen erschlossen. Sicher erinnerte er sich dabei an seine Anfänge auf dem Uetliberg.

SCHRIFTSTELLER, AUTOR,*Emil Zopfi ist Schriftsteller und lebt in Zürich. Er ist seit über fünfzig Jahren Bergsteiger und Kletterer. www.zopfi.ch

Beliebte Blogbeiträge

6 Kommentare zu «Der Uetli- ist auch ein Kletterberg»

  • Isi Huber sagt:

    Das war die Zeit, als wir unser erstes Gschtältli aus Autogurten zusammenschneiderten und dann damit am Brüggler rumkletterten. Dass wir es überlebten, ist vielem geschuldet, u.a. einem tüchtigen Schutzengel…

  • R. E. Knupfer sagt:

    Amüsanter Schrieb von Emil Zopfi! – Prähistorische Jugenderinnerungen werden wach. Lang, lang ist’s her, als wir Mutters Wäscheleine (damals noch aus währschaftem Hanf gefertigt!) beschlagnahmt und damit top-rope „gesichert“ an den Nagelfluhblöcken beim Kindlistein unser Talent als künftige Spitzenalpinisten getestet haben. Höhepunkt unserer alpinen Abenteuer am Üetli war dann jeweils die kühne Mehrseillängentour durch die Falletsche, direttissima und vorzugsweise unter winterlichen Verhältnissen. Echtes Hochgebirgs-Feeling in Zürich-Leimbach! Unvergesslich!
    Übrigens: Liebhabern des Kletterns im Konglomeratfels kann neben einer Pilgerfahrt nach Montserrat auch eine solche zu den Mallos de Riglos in der aragonesischen Provinz Huesca oder ein Ausflug nach Metéora im nordgriechischen Thessalien wärmstens empfohlen werden!

    • Hitsch sagt:

      Hallo R.E. Knupfer, würde mich freuen weitere Infos über die Mehrseillängentour durch die Falletsche zu erhalten. Ich oute mich hier mal als einer der Uetli-Kletterfreaks;-)
      Grüsse Hitsch

      • René Edward Knupfer sagt:

        @ Hitsch – 7. November 2014 um 17:02
        Also, lieber Hitsch – nachstehend die Routenbeschreibung für Deine geplante Winterdurchsteigung der Falletsche über die Superdirettissima:
        Start in Zürich-Unterleimbach, dem Trampelpfad entlang dem Rütschlibach hinein bis in den Grund des Erosionstrichters. Dort, wo in rund 600 m Höhe die Wegspur endet, dem Bächlein halbrechts folgend direttissimamente hinauf um dann, wenn die Rinne allmählich ungangbar wird, auf die Begrenzungsrippe rechts hinüberzuwechseln. Die kahle Mergelrippe steil hoch bis zur unbezwingbaren Gipfelwand. Verreckt alpin! Atemberaubende Gebirgsszenerie ringsum! Arktische Schneewildnis am Stadtrand von Zürich! Jetzt Quergang unter der Nagelfluhwand nach rechts bis zu deren Ende. Dann raufwursteln von Baum zu Baum, durch Eis und Schnee, die magische Höhenmarke von 800 m überwindend, unter Aufbietung Eurer letzten Kräfte hinauf zum Gipfel, wo Ihr von Euren Angehörigen mit Hallo begrüsst und mit heissem Kaffee oder einem kühlen Bier empfangen werdet.

  • Thomas sagt:

    Ein schöner, stimmiger Text. Schade nur, dass hier offensichtlich nicht vollständig recherchiert wurde. Sonst wäre Herrn Zopfi nicht verborgen geblieben, dass am Üetliberg mit einer Extremexpedition Alpingeschichte geschrieben wurde. InsiderInnen wissen, wovon ich rede.

    • Felix Zürcher sagt:

      Die Aktion „Extremexpedition“ war so extrem doof, dass es mir wirklich peinlich ist, im Zusammenhang mit diesem schönen Beitrag von Emil Zopfi daran erinnert zu werden!

Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht. Über die Entscheide der Redaktion wird keine Korrespondenz geführt.