Seelchen Nummer neun
Diese Woche von Steckborn via Ermatingen nach Konstanz (TG/D)
Abwechslung ist alles. Am Bahnhof von Steckborn beschliessen wir, nicht die ganzen fünf Stunden bis Konstanz am Wasser zu laufen. Teil eins bis Ermatingen soll eine Wald-Wiesen-Passage werden, Teil zwei hingegen direkt am Untersee verlaufen. Und am Seerhein; so heisst der gut vier Kilometer lange Fluss, der den Obersee mit dem Untersee des Bodensees verbindet. Auf Satellitenaufnahmen sieht er aus wie eine Nabelschnur.
Acht Leute sind diesmal dabei, mit mir. Hund Emil ist Seelchen Nummer neun. Kühl und diesig ist der Tag, wir queren die Schienen, gehen ein wenig aufwärts und kommen ins Grüne. Die nächsten Kilometer sind unspektakulär schön. Ruhiges Bauerland. Beim Punkt Burst gibt es eine Schutzhütte, man könnte brätlen.
Ganzkörpernahrung
Wir haben einen besseren Plan und wissen uns darin einig mit Prinz Louis Napoleon und Graf Zeppelin, Alexandre Dumas und Thomas Mann. Wir biegen ab, halten hinunter zum See. Auf einem Bach-Schwemmdelta steht das Dorf Ermatingen, eine Ballung sonderlich schöner Fachwerkbauten; unvergessen FDP-Nationalrat Ernst Mühlemann, der hier lebte. Wir halten zum Adler, einem Beeindruckungsklotz von Riegelbau aus dem 16. Jahrhundert. In ihm stiegen schon allerlei Persönlichkeiten ab.
Wir haben reserviert, werden freundlich begrüsst, Emil verkriecht sich unter den Tisch. Als wir eine Etage höher unsere Gerichte serviert bekommen, muderet er leise. Ich habe Kretzer aus dem See, die mit Kopf und Schwanz frittiert und integral gegessen werden, Ganzkörpernahrung. Knusprig sind sie, der Wein mundet. Die Gegend ist altes Kulturland, sie weiss zu leben, und natürlich gehören in diesem Zusammenhang Schlösser wie Arenenberg, Eugensberg und Hubberg erwähnt. Und die prachtvolle Insel Reichenau nah Ermatingen mit ihrer alten Klosterkirche.
Satt ziehen wir weiter, bloss Emil-auf-Diät schaut mürrisch. Winterdichte Boote, gegen die Mole schwappendes graues Wasser, später ein Riedgürtel prägen den Weg. Bei Triboltingen kommen wir an der Bahnstation vorbei und lesen an einem alten Bunker, dass er Teil des Festungsgürtels Kreuzlingen ist, der Abwehrstellung des Zweiten Weltkriegs. Dann Gottlieben. Der allerliebste Winkel, ein Minidörflein, verdankt sich einem der Standardkonflikte des Mittelalters: Kirche gegen aufstrebendes Bürgertum. 1251 baut in diesem Niemandsland der Konstanzer Bischof ein Wasserschloss. Er will den Warenverkehr von den reichen Konstanzer Städtern weglenken.
Fatale Kirchenlüge
Das Wasserschloss wird einem ganz unromantisch, wenn man die Infotafel liest; man vergisst die Hüppen, also cremegefüllten Waffelröllchen, die in Gottlieben gebacken und verkauft werden. Im Schloss sass während des Konzils von Konstanz 1414 bis 1418 der böhmische Reformdenker und Theologe Jan Hus ein. Man hatte ihm freies Geleit versprochen und ihn so gelockt. Eine Lüge; er starb im Juli 1415 auf dem Scheiterhaufen.
Jetzt sind wir am Seerhein. Enten, Velofahrer und, je näher Konstanz rückt, Jogger; die Freizeitrenner sind das untrügliche Zeichen, dass man nicht mehr so richtig draussen auf dem Land ist. Die geistige Verstädterung setzt ein. Die Konstanzer Altstadt scheint dann ganz in den Händen der Schweizer Shopper. In der «Bürgerstube» trinken wir bahnhofsnah ein Bier. Hund Emil schläft unter dem Stuhl seines Herrn, Hürzi. Seine Kieferbewegungen, dieses angedeutete Schnappen, Kauen, Mahlen, deuten an, dass er von einem Fleischbuffet träumt.
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Route: Steckborn, Bahnhof – Langenägeten – Dieppishalden – Burst – Adelmoos – Hueb – Ebenöödi – Ermatingen, Adler – Ermatingen, See – Triboltingen, See – Gottlieben – Wasserschloss – Ziegelhof – Zollhaus – Grenze – Konstanz, Altstadt – Konstanz, Bahnhof.
Wanderzeit: 5 Stunden (beliebig kürzbar).
Höhendifferenz: Je circa 210 Meter auf und ab.
Wanderkarte: Kümmerly + Frey 1:60’000 Bodensee.
GPX-Datei: Hier downloaden.
Charakter: Im ersten Teil Wald und Wiese und etwas Abstand zum See. Im zweiten Teil ab Ermatingen die meiste Zeit in Sichtweite des Sees. Am Schluss Shoppinggelegenheit in Konstanz.
Höhepunkte: Die Riegelbauten von Ermatingen. Der Fisch im Adler daselbst. Das reizende Häuserensemble am See in Gottlieben. Das Wasserschloss, in dem Jan Hus einsass. Die Altstadt von Konstanz.
Kinder: Keine Probleme.
Hund: Keine Probleme.
Einkehr: Diverse Möglichkeiten in den Dörfern und am Schluss. Adler in Ermatingen: Mo, Di geschlossen. Sehr gute Küche, speziell die Fischgerichte.
Wanderblog: Täglich ein Eintrag auf Thomas Widmers privatem Journal.
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