Alles ist ein wenig traurig – und noch schöner als sonst

Diese Woche von Claro nah Bellinzona auf die Monti di Savorù (TI)

Es ist Herbst. Melancholie zieht in die Landschaft ein respektive in den Menschen, der sie durchschreitet. Das Fest ist vorbei. So fühlte ich es auch auf meiner Wanderung von Claro durch Buchen, Birken, Kastanienbäume auf die Monti di Savorù.

Versteht man, was ich meine? Im Herbst wird der Wald still. Und ein wenig traurig. Alles ist noch schöner als sonst. Weil es endet.

Und gleich eine weitere Vorbemerkung, sie ist geografischer Art. Bei den Monti di Savorù, manchmal auch Monti di Saurù, handelt es sich um eine Serie von Maiensässen hoch über jener Ecke, wo kurz vor Bellinzona Misox und Riviera zusammenkommen. «Riviera» wiederum ist der Name des Ticino-Tals zwischen Biasca und Bellinzona. Dass der alte deutsche Name «Reffier» entschwunden ist, halte ich nicht für einen Verlust. Es ist in ihm kein Wohlklang.

Pippo und der heilige Benedikt

Kalt der Morgen, als ich bei Claro, Ponton, so der Name der Bushaltestelle, loszog. Der Hang meines Tages erhob sich bläulich vor mir. Auf der Strasse ins Dorf lag Raureif. Beim Metzger Pippo kaufte ich mir eine Salami und eine Ciabatta.

Claros Kirche hätte in jedem Pasolinifilm auftauchen können, stilechter Süden. Weiter oben passierte ich die Kapelle St. Ambrosi. Ein gepflästerter Pilgerweg, glitschig feucht von der Nacht, leitete mich zum Benediktinerinnenkloster Santa Maria Assunta auf einem Felssporn 350 Meter über dem Dorf. Den Ordensgründer lernte ich durch das Fresko eines Bildstockes kennen: Benedikt von Nursia, ein bärtiger, hagerer Mann mit heiteren Augen, trug einen Raben auf der Hand.

Das Kloster war Gold im Sonnenlicht. Ich ging in die Kirche, fand den Rest der Anlage verschlossen, stellte mich auf die Terrasse, blickte durch Palmen auf die Riviera und freute mich des Lebens. Die Bergspitzen gegenüber, Gipfel wie die Cima dell’Uomo, waren in Schnee getaucht.

Dann der Aufstieg durch die Waldflanke und viel von den eingangs beschriebenen herbstlichen Gefühlswallungen, Euphorie und Schwere im Wechsel. Die ersten 20 Minuten ging ich auf einem Strässchen. Es folgte ein stellenweise schmaler Pfad, der Boden war mal wurzeldurchsetzt, mal geröllbedeckt, dann wieder gepolstert durch weiche Kastanienhüllen. Der Wald schief bereits zu schlafen, kein Vogel war zu hören.

Via Ai und Pozzuolo kam ich nach Parusciana und passierte dabei zwei, drei Traumrustici. Von Parusciana führte mich ein leichter Weg hinüber zu den Monti di Savorù. Auch da kein Mensch. Das Restauräntchen war zu, die Seilbahnkabine hing verlassen in der Bergstation.

Ich liess mich auf einem Trockenmäuerchen nieder, Eidechslein huschten von dannen; Godzilla hatte sich auf ihr Haus gesetzt. Was für ein Unterschied zur Kälte des Morgens, dachte ich, während ich in den Himmel blinzelte, die Sonnenwärme genoss, Pippos Salami verschlang und plötzlich glücklich war.

Die Sechsjährige, sie lebe hoch!

Und nun noch ein PS, liebe Leserin und lieber Leser. Meine Wanderkolumne feiert dieser Tage ihren sechsten Geburtstag. Rund 300 Wanderungen habe ich bisher vorgestellt – und möchte mich bedanken für alle, die sie nachgehen, die mir schreiben, die loben oder auch Kritik an der einen oder anderen Ungenauigkeit oder Unbedachtheit üben. Auf viele weitere Routen und so viele Reaktionen wie bisher!

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Route: Claro, Ponton (Bushaltestelle der Buslinie Airolo – Biasca – Bellinzona) – Claro Kirche – Kloster Santa Maria Assunta – Cavri – Pozzuolo – Parusciana – Monti di Savorù (Saurù), Seilbahn.

Wanderzeit: 3 1/4 Stunden.

Höhendifferenz: 1075 Meter aufwärts, 35 abwärts.

Savorù-Seilbahn: Der Fahrplan ist nicht allzu dicht.

Verlängerung: Statt auf den Monti di Savorù das Bähnchen hinab nach Lumino zu nehmen, kann man auch laufen. Steiler, aber guter Kehrenweg im Wald. Plus 2 Stunden, plus 1055 Höhenmeter abwärts.

Wanderkarte: 276 T Val Verzasca 1:50 000. Für den Abstieg nach Lumino braucht es auch die Karte 277 T Roveredo.

GPX-Datei: Hier downloaden.

Retour: Von Lumino mit dem Bus nach Bellinzona.

Charakter: Zuerst ein Pilgerweg zum Kloster von Claro. Hernach einsamer, steiler Wald auf guten Pfaden. Aussichtsreich, still, mit aparten Rustici und viel Bergsicht in den oberen Lagen.

Höhepunkte: Die Kirche von Claro. Der gepflegte Weg zum Kloster. Der Blick vom palmengesäumten Kloster auf die Riviera. Der Bergblick weiter oben.

Kinder: Machbar.

Hund: Machbar.

Einkehr: Bei der Seilbahn-Bergstation gibt es ein kleines Restaurant. Die Öffnungszeiten sind nicht wirklich klar festgelegt. Anfragen! 091 829 20 95.

Wanderblog: Täglich ein Eintrag auf Thomas Widmer privatem Journal.

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8 Kommentare zu «Alles ist ein wenig traurig – und noch schöner als sonst»

  • Thomas Widmer sagt:

    Vielen Dank an alle für die Gratulationen und das Lob!

  • R. Casella sagt:

    Vielen Dank für die tollen, humorvollen Kolumnen. Am Freitag bin ich immer sehr gespannt, wo es diesmal hingeht.
    Da ich im Tessin lebe, sind natürlich für mich einige Wanderungen zu weit weg und umständlich zu erreichen, aber ich lese diese trotzdem mit viel Interesse und Freude.
    Bei Ihrer Claro Wanderung hatten Sie ja mächtig Glück, dass Sie dieses Jahr so einen schönen Tag im Tessin erlebt
    haben. Jetzt Sonntagabend regnet es hier bereits wieder sehr stark.

  • Esther Gemmill sagt:

    All zu gerne wuerde ich mit wandern!! Jedes Wochenende freue ich mich erneut auf diese Kolumne. Seit mehr als 50 Jahren nicht unbedingt Heimweh- aber Auslandschweizerin. Congratulations and many more hikes.

  • Rolf Löber sagt:

    Immer lesenswert und mit viel Freude für mich verbunden. Gerade die Wanderung Claro zum Kloster kenne ich persönlich – im Novemberlicht mit viel Wehmut und schöner Schwere verbunden, weil in dieser Zeit jeweils der Winter nicht mehr weit weg ist, und Tessiner Spätherbstlicht direkt in die Seele geht. Lieber Thomas Widmer, vielen Dank fürs bereits Geschriebene – inkl. Bilder – und in freudiger Erwartung aufs hoffentlich noch Kommende.

  • Marie-Theres Haeberli sagt:

    Ein wunderbarer Artikel fuer eine Heimwehschweizerin. Herzliche Gratulation.

  • Irene feldmann sagt:

    Ihre Bilder sind einfach immer beeindruckend, mit dem Text und dem Humor drin immer eine Freude, wie auch am heutigen Morgen. Danke und noch viele Jahre weiter!

  • @Znuk_ch sagt:

    Herzliche Gratulation! Und weiterhin viel Gesundheit und Spass am Laufen!!!

    • R. E. Knupfer sagt:

      Schliesse mich der Gratulation und den guten Wünschen an. Möge die Kniearthrose noch etwas auf sich warten lassen.
      Und jetzt, lieber Thomas Widmer, ans Werk! Noch weitere 300 Widmer’sche Wanderkolumnen bitte. Mindestens!

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