Spitzensport fördert gefährliche Essstörungen
Ein Gastbeitrag von Dr. med. Martin Narozny-Willi

Der Druck im Spitzensport erhöht das Risiko der Magersucht, speziell für Frauen (die Japanerin Hitomi Niiya nach ihrem 5. Rang über 10’000 Meter bei der WM 2013 in Moskau). Foto: Lucy Nicholson/Reuters
Gestörtes Essverhalten kann massive, zum Teil irreversible Schäden bei Athletinnen und Athleten hervorrufen. 1992 wurde erstmals unter dem Namen «Female Athlete Triad» ein Symptomenkomplex bei Sportlerinnen beschrieben, der gestörtes Essverhalten, Ausbleiben der Monatsblutung und Osteoporose umfasste. Die weitere Forschung auf diesem Gebiet zeigte jedoch, dass diese Umschreibung zu kurz greift, da noch viele weitere Symptome hinzukommen und die Erkrankung auch Männer betreffen kann.
Ein Konsensus-Papier des Internationalen Olympischen Komitees führte darum den viel breiter gefassten neuen Begriff der «Relative Energy Deficiency in Sport» (RED-S) ein. Diese Diagnose umfasst Störungen des Energiestoffwechsels, der Monatsblutung, des Knochenstoffwechsels, der Immunabwehr, der Proteinsynthese und des Herz-Kreislauf-Systems, bedingt durch eine insuffiziente Energieaufnahme.
Ursachen
Das hört sich jetzt alles sehr theoretisch an. Am Anfang der Erkrankung steht eine Störung des Essverhaltens mit ungenügender Energieaufnahme, das von unvernünftigen Essgewohnheiten bis zu schweren Essstörungen wie Anorexie (Magersucht) oder Bulimie (Ess-Brech-Sucht) reichen kann. Die Übergänge sind fliessend. Oft beginnt ein gestörtes Essverhalten mit einer übertriebenen Diät in einer Sportart mit Gewichtsklassen wie Rudern oder Judo. Die Athletin möchte in der tieferen Gewichtsklasse starten, da sie in der nächst höheren Klasse zu den Leichtesten gehören würde, was nicht von Vorteil ist. Ein hohes Risiko bergen auch Sportarten, bei welchen per se ein tiefes Gewicht Vorteile bringt, wie z. B. Langstreckenlauf. Ästhetische Disziplinen wie rhythmische Sportgymnastik oder Kunstturnen bevorteilen leider auch vor allem leichtgewichtige Sportlerinnen mit den entsprechenden Risiken.
Essstörungen
Gestörtes Essverhalten entsteht oft entweder durch selbst auferlegten Druck oder durch Druck von Trainern und Umgebung der Athletin: «Du musst das Gewicht reduzieren, sonst erreichst du deine Ziele nicht.» Dies führt zu übertriebenen Diäten. 15 bis 60 Prozent aller Athletinnen zeigen ein gestörtes Essverhalten mit zum Beispiel nur einer Hauptmahlzeit täglich oder Ablehnung kohlenhydrat- oder fetthaltiger Nahrungsmittel. Schreitet diese fatale Entwicklung fort, kann sich daraus eine eigentliche Essstörung entwickeln. Essstörungen können also Ursache oder Folge einer RED-S sein.
Diese Essstörungen, wie Anorexie und Bulimie, sind schwerwiegende psychische Erkrankungen, die auch entsprechend schwierig zu therapieren sind. In der Allgemeinbevölkerung kommt die Anorexie bei bis zu 4 Prozent und die Bulimie bei bis zu 5 Prozent vor. 90 bis 95 Prozent dieser Erkrankungen sind bei Frauen zu beobachten.
Auswirkungen auf die Gesundheit
- Störung der Monatsblutung: Bedingt durch das gestörte Essverhalten kommt es zu hormonellen Störungen. Dadurch kann bei jungen Athletinnen die Monatsblutung gar nie auftreten (primäre Amenorrhoe) oder plötzlich während langer Zeit ausbleiben (sekundäre Amenorrhoe). Während eine sekundäre Amenorrhoe bei 2 bis 5 Prozent der gesunden weiblichen Bevölkerung vorkommt, kann sie je nach Sportart bei bis zu 60 Prozent der Athletinnen auftreten! Das Fehlen der Monatsblutung hat viele hormonelle Störungen auch anderer Systeme zur Folge und ist darum besonders kritisch.
- Knochenerkrankungen: Ebenfalls durch hormonelle Störungen kommt es zu einer verminderten Knochendichte, der sogenannten Osteoporose. Tritt die Osteoporose bereits im jugendlichen Alter auf, ist unter Umständen auch mit adäquater Therapie keine vollständige Korrektur möglich. Wegen der verminderten Knochendichte steigt auch das Risiko für Stressfrakturen mit verlängerter Heilungszeit.
- Mangelerscheinungen: Durch das gestörte Essverhalten kann es zu einem Mangel an Vitaminen und Spurenelementen kommen. Häufig wird ein Eisenmangel beobachtet, der bis zur Blutarmut (Anämie) führen kann.
- Herz-Kreislauf-System: Die verminderte Energieaufnahme führt zu einer ungünstigen Konstellation der Blutfettwerte und zu einer Veränderung der Gefässwände, was das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht.
- Weitere Symptome: Gehäuft werden auch chronische Müdigkeit und vermehrte Infektanfälligkeit beobachtet.
- Leistungseinbusse im Sport: Ständig entleerte Glycogenspeicher und ein Abbau der Muskelmasse führen zu einer Leistungseinbusse. Training führt nicht mehr in gleichem Masse zu einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit.
Männliche Athleten
Eine RED-S kann auch bei Männern auftreten, wenn auch deutlich seltener. Zusätzlich zu den oben erwähnten Sportarten sind bei Männern die Skispringer und die Jockeys speziell betroffen. Grundsätzlich zeigen sich dieselben schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit, natürlich mit Ausnahme der Störung der Monatsblutung.
Screening und Diagnose
Die beste Gelegenheit für ein Screening ist die jährliche sportärztliche Untersuchung, welche die meisten Sportverbände für die Kaderathletinnen und -athleten vorschreiben. Von Swiss Olympic steht ein spezieller «Female Athlete»-Fragebogen zur Verfügung, der ausführlich die Risikofaktoren für eine RED-S erfasst. Die stark ausgeprägten Essstörungen sind recht gut zu erfassen. Deutlich schwieriger wird es bei den beginnenden Essstörungen, wo oft nur indirekte Zeichen wie erhöhte Trainingsintensität, vermehrt Verletzungen und Infekte, Wachstums- und Entwicklungsverzögerung und Diäten zum Erhalt der Gewichtsklasse zu beobachten sind.
Therapiestrategien
In der Theorie sind die therapeutischen Massnahmen klar: Verbesserung der Energieaufnahme, Reduktion des Trainings, Gewichtszunahme, allenfalls Regulation der Monatsblutung durch Hormonpräparate sowie Verbesserung der Knochendichte durch Kraft- und Sprungkrafttraining bei genügender Calciumaufnahme und allenfalls Vitamin-D-Zufuhr.
Leider sind Essstörungen aber äusserst schwierig zu behandeln, nicht selten verläuft die Therapie erfolglos. Der Widerstand gegen die Therapie steigt mit dem Ausmass der Essstörung. Der therapeutische Ansatz muss multidisziplinär unter Einbezug der Athletin, des Trainers, des Arztes, eines auf Essstörungen spezialisierten Psychologen, eines Ernährungsberaters und allenfalls eines Physiotherapeuten erfolgen. Bei schweren Fällen dauert die Therapie unter Umständen Jahre und wird von Rückschlägen begleitet.
Das «IOC Consensus Statement« lesen Sie hier.
Der Fragebogen «Female Athlete» von Swiss Olympics hier.
*Dr. med. Martin Narozny-Willi, Facharzt Orthopädische Chirurgie FMH, Sportmedizin SGSM und Verbandsarzt Swiss Ice Hockey. Medbase Zürich, Sportmedizin und Leistungsdiagnostik. Die Klinik ist eine Swiss Olympic Medical Base.
10 Kommentare zu «Spitzensport fördert gefährliche Essstörungen»
Man sollte am besten einen Minimal-BMI einführen. Wenn dieser nicht überschritten ist, dann darf die Athletin nicht starten.
Vielen Dank für den prägnant-kurzen und sehr erhellenden Beitrag zu diesem sehr heiklen Problem, das medial wie ebenso sportwissenschaftlich sicher nicht in einem Maße thematisiert wird, wie es eigentlich notwendig wäre, v.a. mit Blick auf den grassierenden und in allen gesellschaftflichen Schichten ausprägten Gesundheits- und Fitnesswahn, der sich letztlich in verschiedensten Sportarten bzw. deren Ausübung manifestieren kann. Denn man muss wohl konstatieren: darin offenbart sich die Leistungsgesellschaft in ihrer krankesten Form. Eng damit zusammen hängt gewiss auch die Sportsucht.
Gleichwohl sollte auch das inverse Phänomen problematisiert werden, nämlich dass Menschen mit geringem Körpergewicht bzw. allgemein gefasst: Menschen mit einem von der vorgestellten Norm abweichenden Körper – per se in Frage gestellt, gekränkt oder gar diskriminiert werden, auch wenn dieses Problem nicht so verbreitet ist wie ersteres.
Es ist besser wenn wir unseren Körper nicht uneingeschränkt als unser Eigentum betrachten. Verantwortung gegenüber dem Schöpfer hilft wenn wir daran denken dass es ein Geschenk ist wie genial der Organismus geschaffen ist.
Ich kann Freude haben an allem was, je nach Alter noch, möglich ist. Ich muss nicht Top sein, sondern kann so sein wie ich bin und am Sport, an der Bewegung, Freude haben.
Bei Spitzensportlern wird die Ernährung im Normalfall genau kontrolliert und die ist perfekt abgestimmt auf die Belastungen / Anforderungen der Sportart. Jeder Hobby-Bodybuilder macht das gleiche, inklusive ‚Off-Season‘ Diätplan. Viele der Symptome hängen wohl eher mit den leistungssteigernden Drogen (und der damit höheren Belastung für den Körper) zusammen und sind durchaus kalkulierte Risiken der Athleten, welche zumindest alle auf Olympianiveau auch einsetzen müssen.
Die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen berät immer wieder (Hobby)-Sportler und Sportlerinnen mit Essproblemen. Wir sind eine NPO-Organisation und finanzieren uns über Mitgliederbeiträge und Fundraising. So können wir kostenlose Beratungen im Bereich Essstörungen für Betroffenen und deren Angehörige oder Bezugspersonen anbieten. Unser Angebot ist niederschwellig und kann sogar anonym erfolgen. Wir beraten per: Mail, Telefon oder Persönlich. Weiter Informationen finden Sie unter: http://www.aes.ch.
Die abgebildete Sportlerin scheint ja eher (oder auch) eine Borderline-Patientin zu sein… Genauso tragisch wie Essstörungen…
Wie kommen Sie darauf?
Die Schnittwunden am linken Unterarm…
@Martin: Schhauen Sie sich Mal den rechten (auf dem Bild rechts) Unteram der Dame an. Ein wenig auffällig viele Narben….
Danke, dass Sie dieses Thema zur Sprache bringen. Als mehr oder weniger Direktbetroffene habe ich gerade nach der Lektüre vieler Beiträge dieses Blogs oft das Gefühl, immer noch mehr Sport machen zu müssen – deshalb lese ich hier immer weniger mit. Gut, dass Sie auch einmal die andere Seite zeigen. Die Therapie finde ich umso schwieriger, weil momentan die Devise herrscht: Je mehr Sport, desto besser, disziplinierter, schöner, gesünder. Es ist schwierig, sich selbst im Kopf zuzugestehen, dass es auch zuviel sein kann, vor allem bei gleichzeitigem Unvermögen, mehr zu essen.