Steile Kurven in Oerlikon


Seit über 100 Jahren steht sie in Zürich-Oerlikon: die offene Rennbahn. Heute mitten im Siedlungsgebiet, wurde das Betonoval 1912 allein auf weiter Flur gebaut, nur von Wiesen umgeben. Die 333 Meter lange Bahn mit ihren Steilwandkurven, die Winkel von bis zu 45 Grad aufweisen, galt als architektonisches Meisterwerk. Die Radrennen boten gefragte Unterhaltung, die Zuschauer reisten damals en masse nach Oerlikon. Heute bringt das Fernsehen Sportereignisse ins Wohnzimmer, und für einen ausgelassenen Abend gibt es viele Alternativen zur Rennbahn. Wohnten zu den Blütezeiten in den Fünfzigerjahren den Radrennen in Oerlikon bis zu 15’000 Zuschauer bei, sind es heute noch ein paar Hundert. Sehenswerte Radrennen finden aber noch immer statt: Jeden regenfreien Dienstagabend im Sommer stehen hier die nationale Elite und auch immer wieder internationale Profis am Start.

Bahnrennen sind die zuschauerfreundlichsten Radrennen. Das ganze Renngelände lässt sich bequem von der Tribüne aus überblicken. So kann der ganze Rennverlauf mit allen Attacken, Einbrüchen und Schlusssprints mitverfolgt werden. Ein Biss Bratwurst, während die Scheibenräder auf der Bahn vorbeisausen, ein Schluck Bier, wenn sich die Aufregung nach dem Schlusssprint legt. Blechern klingt die Stimme des Speakers aus den Lautsprechern, wenn er die Namen der Sieger oder der Ausgeschiedenen ausruft. Rund zehnmal pro Abend spielt seit Jahren die gleiche Marschmusik, zu der die Sieger ihre Ehrenrunden drehen und dabei mit der Trophäe von Blumen Remund in Wallisellen in die Zuschauerränge winken.

Hier ist das coole, gentrifizierte Zürich noch nicht angekommen, die Welt der Radrennbahn ist irgendwie un-urban und ein wenig von gestern – auf eine wohltuende Art. Knalliges Spektakel und Kommerz bleiben draussen, es gibt werbefreie Pausen und Zeit für einen Schwatz mit den Angehörigen der «Bahnfamilie». In der Tat herrscht eine familiäre Stimmung auf und neben der Bahn, und man trifft immer etwa die gleichen «Verdächtigen» an den Dienstagabenden. So gemütlich die Stimmung: die Rennfahrer lassen keine Wünsche an die Geschwindigkeit offen. Die Eliterennen werden mit Durchschnittsgeschwindigkeiten von rund 50 km/h gefahren. Bei den Steherrennen, bei denen Motorräder den Velofahrern ihren individuellen Windschatten spenden, werden im Schnitt 70 km/h erreicht – Spitzentempi können gar 90 km/h betragen, und das ohne bergab zu fahren! Entsprechend eigenartig sehen diese Velos aus: Die Kettenblätter sind pizzatellergross, die Vorderräder eher klein und die Gabel nach innen gebogen, damit der Fahrer näher an die Rolle des Töffs und damit des Windschattens kommt.

Viele der grossen Radsportler der Vergangenheit haben in Oerlikon ihre Runden gedreht, so etwa Hugo Koblet, Ferdy Kübler, Urs Freuler. Franco Marvulli, der gutaussehende Platzhirsch der vergangenen Jahre, war Weltmeister in mehreren Bahndisziplinen. Vergangene Saison ist er zurückgetreten, jetzt sind die Positionskämpfe um seine Nachfolge definitiv eröffnet. Schnelle Junge wie Stefan Küng, Tom Bohli, Frank Pasche oder Théry Schir stehen in Oerlikon zahlreich am Start, auch international fahren sie auf die Podeste. Diese vier sind gar gerade U-23-Europameister in der Mannschaftsverfolgung geworden, Stefan Küng holte sich den Titel auch noch auf der Strasse und im Zeitfahren. Mit diesen Resultaten sind die jungen Bahnfahrer auf gutem Weg zum Ziel des Projektes «Rad-Bahnvierer Rio 2016» von Nationaltrainer Daniel Gisiger: die Qualifikation für die Olympischen Spiele. Für das ehrgeizige Projekt sind die Trainings und Rennen auf der Rennbahn in Zürich zentral.

Auch für den Radsport allgemein werden die Bahnrennen zudem als Alternative zu den Strassenrennen immer wichtiger. Deren Kalender dünnt allmählich aus, da Bewilligungen für Strassensperrungen und Freiwillige als Streckenposten schwieriger zu bekommen sind als früher.

Als Hobbyfahrer muss man übrigens nicht auf der Tribüne sitzen bleiben: Nach dem Besuch eines Bahnkurses – meist donnerstagabends – steht den Absolventen das Oval zu verschiedenen Zeiten für freie Trainings offen. Die Rennpiste wird also rege genutzt und ist dazu absolut einzigartig. Trotz allem werden immer wieder Pläne publik, wie die Stadt das Areal besser ausnutzen könnte. In den vergangenen Jahren war etwa von einem neuen Eishockeystadion oder einem Ersatzhallenbad die Rede, obwohl es beides in unmittelbarer Nähe bereits gibt.

Der aktuelle Mietvertrag der Interessengemeinschaft offene Rennbahn Oerlikon (Igor), welche die Bahn betreibt, läuft bis 2016. Ein kurzer Zeithorizont für einen Betrieb dieser Bedeutung. Die Interessengemeinschaft ist jedoch zuversichtlich, den Rennbetrieb bis 2020 und darüber hinaus aufrechterhalten zu können. Ich hoffe es auch, für alle Radsportfans!

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3 Kommentare zu «Steile Kurven in Oerlikon»

  • Markus Meili sagt:

    Schöne Bilder aus alten Zeiten. Übrigens zeigt das Bild mit Hugo Koblet die Ehrenrunde am Schluss des Giro d’Italia mit dem Sieger neben Koblet, Carlo Clerici. Er war der zweite Schweizer, der den Giro gewonnen hat nach Hugo Koblet.

  • Paul Kleger sagt:

    Super und wenn alles umgekrempelt wird, unsere Rennbahn bleibt wie sie ist

  • Paul Kleger sagt:

    Der friedlichste, gemütlichste und sportlichste Oase der Stadt. Hier kann man das Leben geniessen und Freunde, sowie Bekannte Personen aus nah und fern kennlernen oder wieder treffen. Haltet uns diesen himmlischen Ort für unsere Lebensqualität noch lange erhalten.

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