Schreckliche Erinnerung ans Matterhorn
Ein Gastbeitrag von Emil Zopfi*

In einer Sekunde kann sich Glück in Unglück wandeln: Vor fünfzig Jahren kam am Matterhorn der Bergführer Anselm Biffiger ums Leben. (Foto: Keystone)
Es ist der 19. Juli 1964. Schon früh weckt uns das Poltern, Klirren und Murmeln der Bergsteiger, die zum Matterhorn wollen. Das Wettrennen um die ersten Plätze am Hörnligrat beginnt bereits im Massenlager, setzt sich fort an den Tischen, um die man dicht gedrängt und verschlafen das Frühstück in sich hineinstopft. Die ersten Seilschaften brechen auf, Lichtpunkte in der Nacht. Wir nehmen es gelassener, wollen zum Zmuttgrat, müssen uns nicht in die Karawane der Führerpartien einreihen. Vor uns eine einzige Seilschaft, der Bergführer Anselm Biffiger mit seiner Verlobten. In drei Wochen soll Hochzeit sein, haben wir in der Hütte gehört.
Schon in der Seilbahn zum Schwarzsee ist mir das Paar aufgefallen. Der kräftige, braun gebrannte Bergführer mit der schönen jungen Begleiterin auf den Knien. Sie unterhalten sich auf Französisch, aber wir verstehen: Arête de Zmutt. Ich beneide die beiden ein bisschen, wie gern wäre ich mit einer Freundin auf Berge gestiegen. Aber ich bin im Militärdienst in Bern, und meine Begleiter, drei Berner, kenne ich kaum.

Anselm Biffiger war 34 Jahre alt, als er verunglückte.
Bei den Felsstufen am Fuss des Eisfeldes, das auf den Gletscherbalkon unter der Nordflanke führt, überholen wir den Bergführer und seine Begleiterin. Sie haben Probleme mit einem Steigeisen, doch dann schliessen sie rasch auf. Anselm steht ein paar Meter unter mir, als es hoch über uns in den Felsen kracht. Vom Hörnligrat stürzt ein Felsbrocken auf uns zu, wohl ausgelöst von einer Seilschaft, die sich verstiegen hat, er reisst eine Steinlawine mit sich. Ich stehe in einer Rinne, kralle mich an den Pickel, höre Schreie, spüre Steine auf Schultern und Arme prasseln. Sekunden wie Stunden, ich fühle mich in einer andern Welt, entrückt und schwerelos. Kein Schmerz, nichts. Fast ein Traum, ein Albtraum.
Eine seltsame bleischwere Stille macht sich breit. Ich schaue hinab, sehe am Fuss der Wand zwei Körper langsam, wie in Zeitlupe, durch den Schnee rutschen. Sie bleiben liegen. Verbunden durch das Seil. Jenseits des Tals fällt das erste Licht auf die Gipfel der Dent Blanche und des Zinalrothorns.
Anselm hatte keine Chance
Blick nach oben. Mein Seilpartner hängt kopfüber im Eishang, klammert sich mit einer Hand an einen Riss, den er im Rutschen fassen konnte. Der Felsblock hat seinen Rucksack aufgerissen. Wir haben überlebt, auch unsere zwei Gefährten, die hinter Anselm eingestiegen sind.
Überlebt hat auch die junge Frau, schwer verletzt liegt sie im Schnee, wir schützen sie mit Tüchern vor der Sonne. Anselm, vom Felsblock direkt getroffen, hatte keine Chance. Warten, warten, ein strahlender Tag, gleissendes Licht. Nach sechs Stunden landet auf dem kleinen Feld, das wir gestampft haben, ein Helikopter, gesteuert vom Gletscherpiloten Hermann Geiger. Es ist nicht die erste Rettung an diesem Morgen.
Ein hervorragender Bergsteiger
Warum ich das erzähle? Weil es genau fünfzig Jahre her ist vielleicht und mich die Bilder jener Sekunden und Stunden nie mehr losgelassen haben. Weil ich nach Jahren, durch einen Zufall, mit einem Neffen von Anselm in Kontakt kam. So erfuhr ich einiges über sein Leben.

Jede freie Minute verbrachte Biffiger am Berg.
Anselm Biffiger war 34 Jahre alt, stammte aus St. Niklaus im Mattertal. Er war Mitglied im lokalen Bergführerverein, im Hauptberuf Mechaniker beim Cern. Mit Freunden vom Kletterclub Amis Montagnards kletterte er jede freie Minute an der Salève bei Genf. Ein Foto zeigt ihn in einem Überhang, in Strickleitern stehend, wie damals üblich. Ein anderes auf dem Gipfel der Aiguille Verte nach der Nordwand. Und kürzlich habe ich, seltsamerweise auf einer österreichischen Website, gelesen, dass ihm 1962 die 31. Begehung der klassischen Nordwandroute am Matterhorn glückte. Ein hervorragender Bergsteiger also, in den besten Jahren, wie man sagt, und am Beginn seines Lebens als Ehemann, als Vater vielleicht.
Ich frage nicht nach dem Warum, weil es doch keine Antwort gibt. Erfahren habe ich damals, wie sich Glück in einer Sekunde in Unglück wandeln kann. Vor allem auch in unseren geliebten Bergen.
* Emil Zopfi ist Schriftsteller und lebt in Zürich. Er ist seit über fünfzig Jahren Bergsteiger und Kletterer.
7 Kommentare zu «Schreckliche Erinnerung ans Matterhorn»
hallo mitenand
natürlich auch ein herzliches beileid an emil zopfi.
gruss von
raphael wellig
hallo emil
ich danke dir für den bericht. mein herzliches beileid gilt der familie biffiger.
ich kenne das gefühl von einem stein getroffen zu werden. ich bin selbst mit meinem kollegen am petit mont-collon wegem steinschlag 150meter abestürzt. wie durch ein wunder haben wir ueberlebt.
ich kenne diese passage zum zmuttgrat. ich habe den grat im 1985 begangen. emil und anslem haben alles richtig gemacht. es war einfach schicksal, bestimmung… es gibt keine worte dafür. ich bin ueberzeugt, die seilgefährten von anselm werden ihn im herzen in die berge mitnehmen.
ich wünsche allen gute touren.
gruss von
raphael wellig
Guten Tag Herr Zopfi
Besten Dank für Ihren Bericht.
Anselm Biffiger selig war unser Onkel. Wir konnten die Details nie so zur Kenntnis erhalten, wie durch Ihre persönliche Schilderung.
Nochmals herzlichen Dank,
Norbert Biffiger
Was für eine tolle und zugleich sehr traurige Geschichte! Du hast mich gerade sehr bewegt und so langsam mache ich mir sorgen um meinen Mann, er ist heute in den Dolomiten zum Klettern, hoffentlich kommt er heile zurück ….
Wie besonders tragisch. Was ist aus der Braut geworden? Wurde sie gesund, hat sie die Freude im Leben wieder gefunden?
Im Wallis, in den Alpen, gehört der Tod in den Bergen zum Leben. Es gibt so viele tragische Geschichten, jeder kennt eine. – Aber wer es so direkt mit erleben muss, der wird es nie mehr los. – Vielen Dank dem Autor für diese einfühlsame Geschichte.
Die Frau ist wieder gesund geworden, hat später geheiratet. Zwei Freunde, die dabei waren, haben sie einmal besucht.
Ein schreckliches Erlebnis. Um die sog. objektiven Gefahren zu wissen, ist eine Sache, sie selber zu erfahren, eine ganz andere. Abgesehen von de Frage nach dem „warum“, die sich bei Unfällen immer stellt, ist besonders nagend, dass man alles richtig machen kann, und es einen trotzdem erwischt.