Autofahrten, Halluzinationen und wahre Heldinnen

Liebe Leserinnen und Leser, in diesem letzten Beitrag zur Tortour 2013 zieht Anette Michel Bilanz und schreibt, wie sie diesen Ultra-Cycling-Event erlebt hat. Wir gratulieren ihr und ihrem Team zum 5. Platz! Die Redaktion.

Das erfolgreiche Tamedia-Team. (Foto: Lupi Spuma)

Das erfolgreiche Tamedia-Team. (Foto: Lupi Spuma)

Die Tortour 2013 ist Geschichte. Vor zwei Wochen sind über 400 Athleten und Athletinnen zum Radrennen über 1000 Kilometer und 15’000 Höhenmeter gestartet. Ohne Pause fuhren sie allein, in Zweier-, Vierer- oder Sechserteams durch die ganze Schweiz. Dazu kamen nochmals mehr als hundert, welche die um knapp die Hälfte kürzere Challenge-Strecke unter die Räder nahmen.

Zum ersten Mal war auch die Tamedia AG mit einem Team am Start: Gemeinsam mit Matthias, Stefan, Sebastian, Kurt und Roger startete ich am Freitagmorgen um 4 Uhr in Schaffhausen zur Tortour. Unterwegs wurden wir perfekt unterstützt von einem ebenfalls sechsköpfigen Helferteam, das uns mit drei Autos stets rechtzeitig an die jeweiligen Übergabeorte fuhr und an der nächsten Time-Station wieder auflas. Gut 35 Stunden nach dem Start rollten wir gemeinsam ins Ziel, die drei letzten Kilometer eskortiert von vier Moto-Marshalls (die werden wirklich so genannt), und wurden dort auf einer Bühne mit grossem Tamtam in Empfang genommen – als 5. von 26 Sechserteams. Ein derart gutes Abschneiden unseres Teams hätte ich ehrlich gesagt nie erwartet. Unser Logistikkonzept hat sich bewährt, das ganze Team hat unterwegs solide Leistungen gezeigt, und wir konnten von einer fantastischen Betreuung profitieren.

Zu viel Zeit im Auto

Die gross aufgezogene Zielankunft fand ich jedoch eher unangenehm und nicht unbedingt gerechtfertigt. Wohl war ich in den zwei Tagen insgesamt 270 Kilometer (150 davon im Team) einigermassen schnell mit dem Velo gefahren, was ja schon nicht ganz alltäglich ist. Auf dem Rücksitz des Autos hatte ich jedoch über 600 Kilometer zurückgelegt. Das ist, so schätze ich, mehr als ich in den letzten fünf Jahren insgesamt Auto gefahren bin. Zugegebenermassen mit Ausnahme einer USA-Reise vor zwei Jahren. So sehr ich meine Radstrecken an der Tortour genossen habe, macht es für mich doch wenig Sinn, im Auto quer durch das ganze Land zu fahren und mich dafür feiern zu lassen.

Es ist keine Frage: Die Hauptpersonen der Tortour sind die Solo-Athleten. Auch den Zweierteams würde ich noch einen genug hohen Freak-Faktor attestieren, um sie im Ziel als kleine Stars feiern zu lassen. Die Sechser-Firmenteams hingegen sind in erster Linie die Staffage, welche die Tortour finanziell und medial zu dem Grossanlass aufbläht, der sie heute ist. Auch zum Mehrverkehr durch Begleitautos tragen die Sechserteams entscheidend bei. Sind Sponsoren an einem kleineren, reinen Ultra-Cycling-Anlass zu wenig interessiert?

Bartlose Zwerge mit roter Mütze

Die Leistungen der wahren Tortour-Helden sind sehr wohl bemerkenswert. Von den 24 Solo-Teilnehmenden schaffte es die Hälfte wieder ins Ziel in Schaffhausen. Der schnellste Solo-Radfahrer, Dani Wyss aus dem Wallis, fuhr die Strecke in weniger als 39 Stunden mit einem Durchschnittstempo von 27 km/h – er war weniger als 3 km/h langsamer als unser Sechserteam! Die einzige allein startende Frau, die Bernerin Bea Wälchli, musste auf dem Sustenpass wegen Müdigkeit und Halluzinationen aufgeben. Sie sah blau gekleidete, bartlose Zwerge mit roter Mütze am Strassenrand. Davor hatte sie in 26 Stunden 600 Kilometer und über 10’000 Höhenmeter zurückgelegt  (inklusive Albula-, Flüela-, Oberalp- und eben Sustenpass). Chapeau – ich könnte das nicht!

Caroline von Allmen vom Ladies-Team. (Foto: Lupi Spuma)

Caroline von Allmen vom Ladies-Team. (Foto: Lupi Spuma)

Stolz auf ihre Leistung können auch «The Ladies» sein: Laura Stoessel und Caroline von Allmen aus Zürich waren nach 2011 auch dieses Jahr wieder das einzige weibliche Duo an der Tortour. Dabei hatten sie sich extra wieder angemeldet, da letztes Jahr, als sie nicht dabei waren, mehrere Damen-Zweier gestartet waren und die beiden nun auch auf weibliche Konkurrenz hofften. Stattdessen setzten sie sich ambitionierte Zeitziele und massen sich daran. Das grösste Problem unterwegs seien nicht müde Beine gewesen, sondern schwere Augenlider vor allem am Grimselpass und Knieschmerzen auf den letzten Etappen. Dass die beiden nach einer Weile auch nicht mehr wussten, wie sie auf dem Sattel sitzen sollten, versteht sich fast von selbst. Während sieben von 30 Zweierteams unterwegs aufgeben mussten, beendeten die «Ladies» die Tortour nach nicht ganz 41 Stunden und liessen damit sieben der anderen Zweier-Finisherteams hinter sich.

 

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6 Kommentare zu «Autofahrten, Halluzinationen und wahre Heldinnen»

  • Thomas sagt:

    Danke für diesen ehrlichen Artikel, Anette. Als Mitstreiter in einem 6er Team ist meine Bilanz ebenfalls ambivalent. Ich fand den Anlass auch bis an die Grenzen aufgebläht und inszeniert. Die Herausforderung auf physischer, psychischer sowie die logistischer Ebene in gegenseitiger Verknüpfung fand ich dennoch faszinierend. Solofahrer und 2er-Teams fuhren eigentlich ein ganz anderes Rennen als die 4er und 6er-Teams. Erstere müssen wirklich eine Tortour aushalten, letztere schnuppern ein bisschen daran. Aber ohne sie wäre der Anlass für Sponsoren wohl zu wenig interessant und massentauglich.

  • Peter sagt:

    Die absolute wahnsinnsleistung gehört aber meiner Meinung nach dem Team Vater und Sohn ( 2er Team ) Der Vater ist
    nicht weniger als 66 Jahre alt gewesen !! Er wird übrigens noch dieses Jahr die Strecken Basel – Amsterdam und
    Bern – Barcelona unter die Räder nehmen. Ich werde schon müde wenn ich nur alle seine Strecken mit dem
    Finger auf der Landstrasse abfahre. Hopp Kari.

  • Saki sagt:

    Ich habe die Zwerge auch gesehen, sie krochen und keuchten den Berg hoch am Susten. Nur Schneewitchen „Anette Michel“ flog den Sustenpass Hoch und liess etliche Zwerge stehen… (Wir standen einfach am Strassenrand und mussten hilflos zusehen, wie sie unsere Mannen einfach stehen liess… )
    Sensationelle Veranstaltung und gewaltige Leistung der Athleten. Was aber sicher noch bemerkenswerter ist, sind die Helfer (ob von der Tortour selber oder Begleiter). Immer alle gut gelaunt, stets ein freudliches, ehrliches Lächeln für uns Radfahrer übrig gehabt. Danke.

  • Otto Liebschitz sagt:

    Die blauen Zwerge am Sustenpass gibt’s wirklich, ehrlich!

  • rainer_d sagt:

    Eine absolut krasse Veranstaltung – Respekt allen, die sich das zutrauen.

    Persönlich kann ich solchen „Tortouren“ wenig abgewinnen – man will doch auch noch was von der Umgebung sehen, vielleicht ein Foto machen, eine Pause um die Landschaft zu genießen…

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