Andalusien liegt an der Maggia
Diese Woche von Fusio das Lavizzaratal hinab nach Bignasco (TI)
Hey, Filmfans in Locarno. Ihr könnt nicht die ganze Zeit nur im Kino hocken, ihr müsst auch mal raus in die Natur! Und nicht immer nur zum Badetümpel von Ponte Brolla. Ich empfehle euch folgende aparte Wanderung, in der unerhört vieles garantiert ist: Eine berühmte Kirche, lauschige Gärten zum Einkehren, Flusstümpel so blau wie Südseelagunen und edel schimmernder Gneis, Gneis, Gneis.
Die Idee ist, der jungen, sozusagen noch kindlichen Maggia talwärts zu folgen. Ihr nehmt dazu zuerst den Gelenkbus durchs Maggiatal bis zur Endstation Bignasco – eine schöne Fahrt. Dort steigt ihr um. Die zweite Etappe hinauf zum hintersten Dorf im Lavizzaratal, wie die Fortsetzung des Maggiatals heisst, ist dann noch viel schöner. Der Bus muss kräftig klettern.
Eine grosse Portion Charisma
Fusio klebt am Hang wie ein Gebirgsnest in den Abruzzen. Ihr steigt aus und dürft nun schlendern. Ihr habt den Ort schnell gesehen, die dicht gedrängten Häuser bilden ein paar Gässlein, mehr nicht. Aber viel Charisma hat Fusio. Würde. Und es bietet zwei gute Wirtschaften zum Einkehren: Die Antica Osteria Dazio im Kern und das Albergo Pineta gleich beim Ortseingang auf einer 20-Meter-Kuppe mit Blick auf besagten Kern. Das erste Lokal spricht den gehobenen Genussbürger an, das zweite ist eher einfach, aber auch gut.
Nicht übersehen solltet ihr das Beinhaus mit den zwei aufgemalten Sensenmännern, katholische Drastik. Hernach könnt ihr loswandern. Der Weg linksseitig der Maggia führt gleich vor dem Pineta durch. Wobei – ist das Wandern? Das erste Stück hinab nach Mogno geht sich schwerelos und eignet sich auch für Turnschuhträger.
Nach einer guten halben Stunde kommt ihr in Mogno bzw. dessen oberem Dorfteil zum vielfotografierten Zylinder. 1986 riss eine Lawine die uralte Kirche weg. Architekt Mario Botta, der Tessiner, kam, sah und siegte gegen Widerstände. Er baute San Giovanni Battista neu als Spektakel der Linien und Flächen, er inszenierte ein Lichtspiel. Müsst ihr sehen, Filmfans! Möglicherweise werdet ihr wie ich finden, dass die Kirche und besonders ihr Portal arabisches, genauer gesagt, maurisch-andalusisches Flair hat: die Ornamente, das Mosaikartige, Regie und Regime der Sonnenstrahlen. Gott ist Geometrie.
Flussauen und Bröckelkapellen
Nun müsst ihr entscheiden: entweder zurück nach Fusio oder aber weiterwandern, was gute Schuhe braucht. Die nächsten fünfeinhalb Stunden bis Bignasco: der perfekte Pfad. Gut ausgeschildert, abwechslungsreich, mal am Wasser, dann wieder hoch über ihm. Es gibt Flussauen zu sehen. Bildstöcke und Bröckelkapellen. Eine Marmorschneiderei, die auch Botta zulieferte. Waldlichtungen mit haushohen Granitblöcken. Steinbrücken und Holzbrücken. Zerfallende Rustici und gentrifizierte Rustici. Legionen hysterischer Eidechslein. Und immer wieder mal ein Dorf mit einer Osteria.
Heikel ist die Unternehmung nicht. Aber ruppig. Solltet ihr genug haben, könnt ihr an mehreren Stellen den Bus nehmen, kein Problem. Ich habe die Wanderung gerade eben gemacht und fand, dass ihr Unterhaltungswert mit dem jedes beliebigen Filmes mithalten kann. Aber eigentlich sollte man beides gar nicht gegeneinander ausspielen. Kultur und Natur im Wechselspiel, See und Berg und Film und gutes Essen in der Kombination macht den Charme der Veranstaltung von Locarno aus. In diesem Sinn weiterhin viel Spass, ihr Filmfans da unten!
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Route: Fusio (täglich wenige Busse ab Bignasco) – Weg links der Maggia zur Bottakirche von Mogno – Peccia – Marmorfirma «Marmo Cristallina» – Prato Brücke – Prato Dorf – Vedlà – Broglio – Menzonio – Cortaccia – Ovi – Besso – Bignasco.
Gehzeit: 6 Stunden (oder länger; der Weg ist ab Mogno ruppig).
Höhendifferenz: 320 Meter aufwärts, 1150 abwärts.
Wanderkarte: 266 T «Valle Leventina», letzter Wegkilometer auf 276T «Val Verzasca». 1: 50 000.
Turnschuhvariante: Von Fusio zur Bottakirche Mogno und retour in einer Stunde. Leichter Weg mit wenig Höhendifferenz.
Charakter: Tessiner Charisma. Wald, Gneis, Rustici, wilde Seitenbäche, die Maggia. Der Pfad ab Mogno ist gut signalisiert, aber an einigen Stellen ruppig.
Höhepunkte: Das Hangdorf Fusio. Bottas Kirche mit ihrem maurischen Gepräge. Die südseeblauen Tümpel der Maggia. Die Allgegenwart des Gneises, die Brünnen aus dem Stein.
Kinder: Als Ganzes weit, aber man kann die Wanderung an manchen Orten abbrechen und den Bus nehmen. An zwei, drei Passagen über der Maggia muss man Kinder beaufsichtigen.
Hund: Machbar.
Einkehr:: In Fusio und in einigen folgenden Dörfern. Sehr gute Küche gibt es in Fusio im Antica Osteria Dazio.
Wanderblog: widmerwandertweiter.blogspot.com
9 Kommentare zu «Andalusien liegt an der Maggia»
Lieber Herr Widmer,
ein Wort zu Verpflegung und Unterkunft in Fusio, Im Herbst haben wir einen Talabstieg von der Cristallina Hütte nach Fusio unternommen und dazu ein Zimmer im Albergho Pinetta gebucht. Nach einem Abstieg mit frostigen Temperaturen (nachts hatte es geschneit) kamen wir in Fusio an. Im Albergho angekommen, wurde mein Freund ohne Begrüßungswort barsch vom Hotelier gefragt, welche Buchungsnummer habe. Diese Attitüde setze sich während des gesamten Aufenthaltes fort – Lächeln oder etwas Orientierung zum Gast war hier nicht im zwischenmenschlichen Repertoire. Vielmehr waren wir eher Bittsteller. Unser mitwandernder Gast aus Südamerika interessierte sich für einen Bildband im Speiseraum. Einmal in Händen kam der Wirt viermal an unseren Tisch, um uns darauf aufmerksam zu machen, wie wertvoll der Foliant sei und dass wir ihn nur ja nicht beschädigen sollten. Am nächsten Morgen waren sämtliche Bücher aus dem Regal entfernt und durch Bilder ersetzt worden… Fusio ist sehr reizvoll, aber unter den derzeitigen Verhältnissen werden wir um diese Gastronomie einen Bogen machen und lieber in den Bus einsteigen.
Lieber Herr Kaspar, das wäre keineswegs schlimm. Aber das besagte Heft konnte ich noch nicht auftreiben und lesen. Was mich noch ernsthaft interessieren würde: Was ist für Sie die ideale Länge einer Wanderung? Herzlich, TW.
Lieber Herr Widmer, es ist ein erhebendes Gefühl den persönlichen Wanderer-Therapeuten an seiner Seite zu wissen. Ich mache also ohne zu zögern vom Angebot Gebrauch. Alsdann: 3 Stunden am Stück in moderat coupiertem Gelände, 3 bis 400 Höhenmeter dürfen’s sein, was darüber ist, ist Sport und daher tunlichst zu meiden. Abwärts ist die Ertragensgrenze bei 6 bis 800 m. Segensreicherweise melden sich nach ca. 1 Stunde (abwärts) die vereinigten Gefässe und Gelenke mit unwiderlegbaren Argumenten, die dann umso mehr verfangen, wenn ihnen auch noch ein wundermilder Wirt assistiert, der Labung herbeizuschaffen bereit ist. Konkret: die Barmelweid – Hauenstein-Route; Saignelégier – Glovelier (in wenigen aber trefflichen) Worten haben Sie die Schauderhaftigkeit dieser Örtlichkeit beschrieben); Les Prèles – Magglingen; die Lueg-Wanderung – das ungefähr dürfte mein Leistungsprofil sein. Was klar macht, dass das, womit Sie mit Ihrer Kolumne von heute locken, ich nur fingerwandernd auf der Karte verfolgen kann – hol’s dieser und jener! Aber unverdrossen Ihr Rudolf Kaspar
Lieber Herr Kaspar, zu Ihrer Frage: Ruppig heisst, dass man bei jedem Schritt anders auftritt, dass Steine im Weg liegen, Wurzeln auch, dergleichen. Aber nicht überall, einfach immer wieder. Das Spektrum der Wissenschaft werde ich mir beschaffen, ich bin gespannt und hoffe nun natürlich, es handle sich um einen guten Tipp und nicht um Ironie ihrerseits. Herzlichen Dank.
Lieber Herr Widmer, Ihr Eingehen auf meine Auslassungen freut mich über die Massen. Ohne allzuweit vorgreifen zu wollen – wäre es denn sehr schlimm, wenn der Sonnenwanderer-Artikel im SdW auch eine ironische Komponente hätte?
Ihr Rudolf Kaspar
Lieber Herr Widmer, wie der Rest der Welt lese ich Ihre Wander-Protokolle mit Interesse (bisweilen Hingabe). Eine Frage: mit wie viel Unbill muss ich rechnen, wenn Sie einige Streckenabschnitte der Fusio-Wanderung betreffend von „ruppig“ schreiben? Bedauerlicherweise kann ich velen Ihrer Anregungen nicht folgen, weil Kräfte und die mangelnde Kondition es nicht zulassen. Ich bin kein Bewegungs-Masochist! So halte ich mich dann an das Motto aller Zukurzgekommenen, das da heisst: les plus jolis voyages se font de la fenêtre.
Um den Spiess für ein Mal umzudrehen. ich bin auf einen Wandervorschlag gestossen, den ich so recht eigentlich auf für Sie zugeschnitten halte. Sie finden ihn in der August-Nummer des Magazins „Spektrum der Wissenschaft“, p. 58, Titel „Immer der Sonne entgegen“. Ich wünsche gute Unterhaltung und strammes Gehen. Ihr Rudolf Kaspar
Danke für die – treffsichere – Stilkritik, wishwash.
Eine Leserin mailt mir folgenden Tipp zur Einkehr:
„Es gibt übrigens noch ein wirklich schön gelegenes Grotto direkt am Wasser etwas abseits von Peccia, das Grotto Pozzasc. Es ist mittlerweile sehr bekannt geworden und wird von vielen Leuten besucht. Doch die Besitzerfamilie bietet nach wie vor eine übliche Grotto-Karte mit Polenta vom Kaminfeuer und kleinen kalten Plättli. Ist zu empfehlen, während der Feriensaison nur nicht gerade um die Mittagszeit, sondern ein wenig später. Oder reservieren: 091 755 16 04“.
Abruzzen in der Legende – Andalusien im Titel…hauptsache im Süden, wir haben ja Ferien.
Die Antica Osteria Dazi in Fusio eignet sich auch vorzüglich für eine stilvolle Übernachtung in romantischem Ambiente. Wenn möglich nicht im Sommer und am Wochenende, dann ist alles ziemlich voll.