Strassenerotik

Diese Woche über den Gotthardpass (TI/UR)

Den Gotthard kannten schon die Römer. Sie nannten ihn Adula Mons, wichtig war er ihnen nicht. Den Grund haben wir alle in der Schule gelernt: Die Schöllenenschlucht zwischen Göschenen und Andermatt erzwang auf dem Weg von Norden zum Pass einen absurden Umweg. Erst die Zähmung des Verkehrshindernisses mit einem Längssteg im 13. Jahrhundert machte den Gotthard zum Nord-Süd-Übergang kontinentalen Ranges.

Vor einiger Zeit huldigte ich diesem Mythos europäischer Mobilität mit einer Wanderung. Der Gang über den Gotthard ist aber nur jenen zu empfehlen, die sich nicht daran stören, dass man immer wieder in der Nähe der Strasse geht. Im Tremolatal wird daraus ein Genuss. Der alten Piste, die längst durch eine modernere mit Brücken, Tunnels, Galerien ersetzt ist, eignet eine eigensinnige Stofflichkeit. Die bauchigen Stützmauern, die Haarnadelkurven, die Pflasterpartien sind ein Schauvergnügen. Die Tremola ist Strassenerotik.

Treiben lassen

Ich startete am Bahnhof Airolo, gewann durch den Ort Höhe, hielt auf dem Sentiero Gottardo vorwärts; gegenüber sah ich nun unverstellt die Pesciüm-Seilbahn. Wenig später, bei Fondo del Bosco, gewann ich auch Einblick in das Bedretto-Tal und erreichte die Passstrasse. Bei Motto Bartola kam ich an einer Militärkaserne vorbei. Und dann ergötzte ich mich im Tremolatal an den Kurven sonder Zahl. Der Wanderweg führt zu einem Gutteil als schmaler Pfad in der Falllinie durch Gras und Geröll; kurze Stücke verlaufen auf der Strasse.

Schliesslich eine kleine Häuserballung, aha! Die Passhöhe! Stimmt nicht ganz. Das alte Hospiz ist gut eine Viertelstunde vor dem Kulminationspunkt auf 2106 Metern über Meer platziert. Im Hotel «San Gottardo» kehrte ich ein, ass ein Riz Casimir, das mir nicht schmeckte, nur halb, zahlte, liess mich draussen treiben: Da waren Töfffahrer, Velofahrer, Autofahrer, Cartouristen in Scharen. Es gab einen Stand mit Bernhardinerhunden sowie einen Bratwurstgrill. Ich kaufte mir eine Wurst, sehr gut.

Lawinentauglicher Galgen

Zufrieden zottelte ich weiter, vorbei am Lago della Piazza hinauf zur Passhöhe. Der zweite Teil der Wanderung war eine zweite Offenbarung: Das Stück hinab zum Mätteli, einem Geländepunkt mit Wirtschaft, ist von der Strasse fast ganz entflochten. Mässig steil führt es, zum Teil auf historischen Wegstücken, durch eine aparte Landschaft aus rötlichem Sumpfboden und flechtenbedeckten, grünlichen Felsen; dies ist ein nordisches Szenario, ein wenig Schottland, viel Norwegen. Nach dem Mätteli genoss ich die Nahbarkeit der jungen Gotthardreuss, die mit Elan vorwärtszieht. Monumental die Flanke vor meinem Augen, die das Urserental gegen Norden abschliesst; was baut die Natur doch für Massivwände!

Unten in Hospental war ich müde. Im «St. Gotthard» trank ich etwas und schaute einem Entertainer mit Urs. P. Gasche-Schnauz zu, der virtuos mit zwei Holzlöffeln einen Klappersound produzierte; dazwischen blies der Mann seine Trompete. Das Schild «Galgen» unweit des Restaurants hatte ich zuvor nicht ernstgenommen. Doch tatsächlich hat Hospental seinen alten Galgen noch, wurde mir bedeutet. Er steht im St. Annawald, besteht aus zwei Mauerkeilen und einem Holzbalken. Die Mauerkeile laufen gegen den Berghang spitz zu. Die Hinrichtungsstätte ist lawinentauglich.

Route: Bahnhof Airolo, Beginn des Sentiero Gottardo – Fondo del Bosco – Motto Bartola – Tremolatal – Gotthard-Hospiz – Gotthard-Passhöhe – Mätteli – Hospental Dorf – Hospental Bahnhof.

Gehzeit: 5 1/2 Stunden.

Höhendifferenz: 1000 Meter aufwärts, 690 abwärts.

Kurzvariante: Aufstieg bis zur Passhöhe in 3 Stunden. Von dort mit dem Bus nach Airolo oder Hospental.

Wanderkarte: 5001T «Gotthard» 1: 50 000.

Charakter: Anstrengend. Eine Kulturwanderung dem europäischen Transit-Mythos entlang. Teilweise strassennah.

Höhepunkte: Die Tremolastrasse aus der Nähe, Erotik des Kopfsteinpflasters. Die Totenkapelle vor dem Hospiz. Die grünlichen Flechtenfelsen und die junge Gotthardreuss im Abstieg. Die Beizendichte und Geborgenheit von Hospental.

Hund: Machbar, aber anstrengend.

Einkehr unterwegs: Beim Hospiz sowie beim Mätteli.

Blog: widmerwandertweiter.blogspot.com

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6 Kommentare zu «Strassenerotik»

  • Es gibt parallel dazu ebenfalls eine wunderschöne Wanderung ohne Rummel. Sie führt von Oberalp zum Tomasee (Quelle des Rheins, ein mystischer Ort) und weiter im Val Maighel über den Passo Bornengo und Bassa del Lago Scuro zum Ritomsee und zuletzt hinunter nach Ambri. Uebernachten kann man in der Cadlimohütte, mit einer traumhaften Aussicht auf die Tessiner Alpen.

  • Urs Kyburz sagt:

    Wir (meine Frau, die zwei Kinder und ich) starteten ein paar Tage vorher auf der Passhöhe und erlebten auf dem Weg zur Fibbia (2738 m) noch mehr nordische und alpine Einsamkeit. Keine Menschenseele weit und breit ausser uns Vieren, einfach herrlich! Der Zivilisationslärm (= Motorräder und Autos) holte uns erst kurz vor dem Ziel wieder ein.

  • Silvia sagt:

    Hallo Thomas
    ziemlich sicher sind wir uns irgendwo begegnet. Bin in umgekehrter Richtung – aber gemütlicher – am Donnerstag von Hospental zum Hospiz und am Freitag die Tremola runter nach Airolo.
    Für mich erschreckend war einfach die Blechlawine samt Menschenansammlung auf dem Pass. Aber auch dem kann man entschwinden, z.B. mit einem kurzen Aufstieg zum Lago dela Sella – wunderschön!!!
    Auch ich wollte die Tremola pur erleben – frühmorgens praktisch ohne Verkehr.
    Ein Highlight für „Passüberquerer“
    Gruss
    Silvia

  • Jutta Maier sagt:

    Ich habe den Gotthard per Velo entdeckt, bin im Massenlager auf dem Pass unter gekommen, wandern gegangen, und dann die Tremola runter gefahren. Drei Tage Geschichte, Wanderwege ohne Touris oder Mountainbiker und eine unerreichte Vielseitigkeit. dAs essen hat mir nach solchen Aktivitäten immer geschmeckt, egal was…

  • Hallo Thomas

    danke für diese tolle wanderung.
    bei mir werden bei deinem tollen text erinnerungen wach. als rekrut in der gebirgs-infanterie airolo bin ich hier 100km abgewandert. es ist ein spannendes gebiet.

    ich wünsche allen gute touren.

    gruss von
    raphael wellig / http://www.raphaelwellig.ch

  • Franz Oettli sagt:

    Für besinnlichere Wanderer eignet sich der Gotthardpass vorzüglich knapp vor oder knapp nach der Strassensperrung (Frühling resp. Herbst): Einsamkeit pur. Trotz wenig Schnee ist der Weg lange gut erkenn- und begehbar. Nur das Bier und die Bratwurst ist selber mitzubringen.

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