Die Gravitation des Heiligen Klaus

Kann es sein, dass mich der Heilige Klaus anzog? Dass er mich Ex-Protestant von meinem ursprünglichen Plan ablenkte und mich umlenkte nach Flüeli-Ranft? Und weswegen hätte er das tun sollen? Lauerte auf dem Bergweg nach Wirzweli, den ich hatte nehmen wollen, Gefahr?

Keine Ahnung. Jedenfalls startete ich vor zwei Wochen bei St. Jakob, Ennetmoos, mit dem Vorsatz, über den Ächerli-Grat nach Wirzweli zu gehen. Der Wegweiser zeigte mir bei der Bushaltstelle den Weg. Fünf Minuten später trat milchig das Stanserhorn aus dem Nebel; die Sonne begann zu wirken.

Das Falsche war das Richtige

Dann setzte ein, was man die Klaus’sche Gravitation nennen könnte. Jedenfalls verpasste ich den Abzweiger hinauf zum Grat; dabei spähe ich immer, solange ich nicht sicher eingespurt bin, besonders aufmerksam nach Wegweisern und Wegmarken. Aber diesmal war ich mit Blindheit geschlagen. Gut zwanzig Minuten später gestand ich es mir ein: Ich wanderte parallel zum Tal der Sarner Aa, statt von ihm wegzuwandern.

Ich beschaute die Karte, merkte, dass ich genau auf Flüeli-Ranft zulief – und fand das eine Fügung. Dort wollte ich schon lange einmal hin, warum nicht hier und heute? Ich verwarf die Idee, umzukehren. Das Falsche war das Richtige.

Nun genoss ich das Wandern auf dem Jakobsweg. Mal auf Asphalt, mal auf Kies, mal auf Wiesenboden, hielt ich über dem Tal vorwärts. Die Spitzen des Stanserhorns und Pilatus waren in Sonnengold getaucht. Nah St. Antoni trank ich in einer Selbstbedienungs-Stallbuvette einen Kaffee. Besuchte die Kapelle, auf deren Fassade der Tod als Skelett die Sense bereithält. Erfreute mich an einem Appenzeller Blässli, das mir den Bauch zum Streicheln darbot.

St. Niklaus wäre heute in der Anstalt

Es folgten: eine Panoramastrecke durchs Grüne mit Blick auf den Nebel. Die Betonanlage Bethanien, in der Dominikanerinnen der Besinnung frönen. St. Niklausen, das ich umging, indem ich bei der Wirtschaft «Alpenblick» rechts abbog. Schliesslich die Ranft-Schlucht. Zuvor machte ich aber den Abstecher zum Mösli: auch eine Kapelle, in der einst ein Eremit hauste. Den Direktweg vom Mösli zum Ranft gibt es nicht mehr, stellte ich fest; die Brücke über die Grosse Melchaa wurde vor Jahren weggeschwemmt. Ich ging zurück zum Abzweiger und stieg auf einem Pfad zum Ranft ab, der auch im Winter machbar ist, sofern man gute Schuhe hat sowie eventuell Schuhkrallen und Stöcke.

Dass im Ranft zwei Kapellen standen, verwirrte mich. Ein Schild half. Die untere Kapelle ist ein spätgotischer Ergänzungsbau, sie wurde errichtet, als immer mehr Pilger kamen. Die obere Kapelle wurde neu erbaut an der Stelle ihrer Vorgängerin; jener Ursprungskapelle war die Einsiedlerzelle angefügt, in der Klaus, vormals Niklaus von Flüe, zwanzig Jahre lang einsam hauste und angereisten Politikern und Klerikern Rat erteilte, bis er 1487 starb.

Oben auf dem Flüeli-Plateau fand ich die Sonne wieder. Erblickte Klausens Wohnhaus, in dem er mit seiner Frau und den zehn Kindern gelebt hatte, bevor er auszog, fastend und meditierend Gott sich zu nähern. Später, zuerst über einem Rippli mit Sauerkraut im «Tschiferli», dann während des Abstiegs nach Sachseln, sinnierte ich über unseren Nationalpatron und einzigen Schweizer Heiligen und dachte: Wenn der Mann heute lebte, wäre er in der Anstalt. Er war beziehungsunfähig, magersüchtig, verwahrlost. Und er litt unter Halluzinationen und Wahnvorstellungen.

Route: Ennetmoos, St. Jakob (Bushaltestelle) – Ifängi – St. Antoni – Schärpfi – Bethanien – Melchtalstrasse – auf der Strasse zwei M. aufwärts bis Restaurant Alpenblick – Abzweiger Mösli – Möslikapelle – retour zum Abzweiger – Melchaa-Brücke – untere Ranftkapelle – obere Ranftkapelle – Flüeli – Chilchweg – Sachseln Bahnhof.

Gehzeit: 4 Stunden.

Höhendifferenz: 450 Meter auf-, 500 abwärts.

Charakter: Ein Gegeneinander von Hell und Dunkel, Licht und Schatten, Panoramaweg und Schluchtstrecke, diesseitig und jenseitig, Alltag und Mystik. Zauberhaft.

Sicherheit: Der Abstieg ins Ranft-Tobel ist nicht übermässig steil, breit und gut gesichert. Gegen allfällig vereiste Partien helfen Schuhkrallen und Stöcke. Bei Vorsicht auch im Winter machbar.

Höhepunkte: Die St. Antoni-Kapelle mit dem sensenschwingenden Klapperskelett. Die Einsamkeit in der Ranft-Tiefe. Das 600 Jahre alte Wohnhaus des Bruder Klaus oben in Flüeli-Ranft.

Einkehr unterwegs: «Alpenblick» eingangs St. Niklausen. Ambitionierte Küche. Mo/Di Ruhetag. Mehrere Möglichkeiten in Flüeli-Ranft.

Lektüre: Unbedingt lesen muss man Pirmin Meiers biografische Annäherung «Ich Bruder Klaus von Flüe».

Privater Blog: widmerwandertweiter.blogspot.com

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3 Kommentare zu «Die Gravitation des Heiligen Klaus»

  • Lieber Herr Zürcher, ich meinte halt wirklich „Schweizer“ im Sinn der schweizerischen Eidgenossenschaft; Beatus und Gallus und Mauritius lebten doch zu einer Zeit, als es diese noch nicht gab. Aber natürlich kann man das auch so sehen wie Sie – herzlichen Dank für die Ergänzung. TW.

  • Karl Bolliger sagt:

    Jürg Zürcher, Sie haben den irischen Mönch Fridolin vergessen – gemäss einem Iren, der von einem Glarner auf die Herkunft des „Zieger-Frigg“ aufmerksam gemacht wurde, wohl der einzige Ausländer auf der Flagge eines Staates (Kt. Glarus)

  • Jürg Zürcher sagt:

    Ja, Herr Widmer, Bruder Klaus hat Sie wirklich in seinen gravitätischen Sog gezogen! Wie sonst könnten Sie ihn als den einzigen Schweizer Heiligen bezeichnen? Wie war das denn mit Beatus im 2. Jahrhundert, Gallus im 6./7. Jh. oder hauptsächlich mit dem Heiligen, dem Sie als Moritz bis weit nach Osten in seiner Verehrung begegnen: Mauritius? Das sind zwar alles Ursprungs-Fremde, zu Wirkkraft und Heiligsprechung brachten sie es aber in der Schweiz. Ich vermute gerade bei ihnen keine Ausgrenzung solcher Gestalten oder ihrer Verehrung – oder doch? – Zur vermuteten Pathologie des Bruder Klaus hätte ich als jahrzehntelang in der Psychiatrie tätiger und auch theoretisch nicht unbeleckter Seelsorger mehr zu erwidern als hier Raum ist. So lasse ich es aus Anstand bleiben – und danke nicht zuletzt noch für die wieder einmal spannend-einaldende Wanderschilderung bis zum Ranft!
    Freundliche Grüsse
    Jürg Zürcher

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