Blogs, aber bitte keine Selfies

Blog-Redaktion am Samstag den 15. November 2014

Eine Replik von Jean-Martin Büttner*

Das Ich als Hauptdarsteller: Frankreichs Präsident François Hollande posiert an Feierlichkeiten zum Jahrestag des Weltkriegsendes für ein Selfie (11. November 2014). Foto: Reuters

Das Ich als Hauptdarsteller: Frankreichs Präsident François Hollande posiert an Feierlichkeiten zum Jahrestag des Weltkriegsendes für ein Selfie (11. November 2014). Foto: Reuters

Er sei kein Journalist, sondern Schriftsteller, schrieb Philipp Tingler diese Woche im Blog Mag: «Das kann ebenfalls jeder werden, heutzutage.» Er hat recht. Heutzutage darf sich jeder in die Öffentlichkeit schreiben, der eine Enter-Taste drücken kann. Je stärker die Medienhäuser sparen müssen, desto fröhlicher drängen die schreibenden Einzelunternehmer an die Öffentlichkeit: als Ich-AG, deren Kapital die eigene Ansicht ist. Das Internet hat die Meinungsführerschaft der Medien demokratisiert. Früher wurde  das Wissen hierarchisch weitergegeben, heute wuchert es als Rhizom im Netz.

Wo viel Demokratie entsteht, wird auch viel Meinung verabreicht. Und sie kommt an. Blogs sind nicht nur bei den Sendern populär, sie erreichen auch viele Empfänger. Viele Blogger schreiben darüber, was sie erlebt haben, andere informieren darüber, was sie wissen. Manche haben sich weltweit Respekt verschafft. Etwa der junge Computerbenutzer, der kein Klimatologe war. Und trotzdem als Einziger vorausberechnete, dass der Hurrikan Katrina New Orleans unterwassern würde. Solche Blogger machen Wissen öffentlich, das früher keine Abnehmer erreichte, weil der offene Kanal fehlte.

Auf diese mediale Entwicklung hat der «Tages-Anzeiger» reagiert und mehrere Blogs installiert. Es geht um Befindlichkeiten und Privates, aber auch um Wirtschaft, Politik und Medien. Einige der Beiträge erscheinen in der gedruckten Zeitung auf Seite 2 neben dem Tageskommentar. Links wird meist die fremde Welt erklärt, rechts zu oft die eigene Welt gelebt. Manchmal sind links und rechts Welten voneinander entfernt. Dann trägt der Kommentar die Krawatte der Meinungsbildung, der Blog die Adiletten der Selbstbetrachtung.

Das klingt unwirsch. Denn es stimmt: Der Journalismus ist unter Druck geraten. Der Beruf hat keinen guten Ruf mehr. Die Arbeitsbedingungen erschweren die Arbeit. Immer weniger Journalisten müssen immer schneller immer mehr abliefern. Früher dauerte ein Nachrichtenzyklus 24 Stunden, jetzt aktualisiert er sich stundenweise. Aufwendige Recherchen werden von den Leserinnen und Lesern hoch geschätzt, nur sind sie immer weniger bereit, dafür zu zahlen.

An die Stelle der Recherche tritt bei vielen Bloggern die eigene Person. Sie wird zum Austragungsort ihrer Texte. Das hat den Vorteil der Unmittelbarkeit. Was das Blogformat auszeichne, schreibt Philipp Tingler, sei «die gefühlte grössere Gesprächsnähe». Das klingt plausibel: Blogger werden gerade deshalb gerne gelesen, weil ihre Gedanken dem Alltag gelten. Ihre Autoren treten nicht als Monstranzen auf, die über das Leben schreiben wie über eine Vernehmlassung. Sie betreiben keinen Journalismus, aber sie ergänzen ihn.

Der Unterschied liegt im Zugang. Im Journalismus hat das Ich als Hauptdarsteller wenig zu suchen; die Fakten der Berichterstattung sind wichtiger als die Befindlichkeit des Berichterstatters. Aber wie jeder ehrliche Journalist weiss, operiert die Objektivität auch dann parteiisch, wenn sie sich mit Fakten tarnt; denn die Auswahl entscheidet.

Und trotzdem. Man liest Blogs lieber, die über den Autor und seine Ansichten hinausgehen, und man ärgert sich über jene, die den ersten Kindergartentag, das glatte Handy-Erlebnis und die ganz eigene Hafenkran-Epiphanie vorplaudern. Die eigene Befindlichkeit reicht nicht aus. Es braucht den Stil als Ausdruck der Gedanken. Und es braucht eine Relevanz, die über ein hingeschriebenes Selfie hinausweist.

*Jean-Martin Büttner ist Hintergrund-Redaktor des «Tages-Anzeigers». Dies ist seine Replik auf den Blog «Der digitale Stil» von Philipp Tingler.


 

Happy Birthday, Blogs! 15 verschiedene Blogs, mehrere tausend Beiträge und weit über eine Million Kommentare: Da stehen wir nach fünf Jahren. Die Blogs gehören heute zum festen Inventar von tagesanzeiger.ch. Nationale Bekanntheit haben nicht nur die Klassiker wie der Mama- oder der Sweet-Home-Blog erlangt. Auch neuere Blogs, wie etwa «Manage Your Boss» oder «Welttheater», fanden schnell Anklang bei den Leserinnen und Lesern. Grund genug um nach fünf Jahren Geburtstag zu feiern. In den kommenden zehn Tagen feiern wir unsere Blogs mit speziellen Postings. Und in Videos und weiteren Blogpostings gewähren wir Ihnen einen Blick hinter die Kulissen, porträtieren Autoren – und schreiben über unseren Umgang mit Kommentaren und Kommentarschreibern. Fehlt noch was? Ja! Erst durch die Kommentare von Ihnen, liebe Userinnen und User, entstehen spannende Diskussionen und Debatten. Ein herzliches Dankeschön dafür. Sie finden alle Jubiläums-Beiträge hier.

9 Kommentare zu “Blogs, aber bitte keine Selfies”

  1. Marcel Zufferey sagt:

    Ja, der gute Ruf ist zweifellos dahin: RTL hat soeben einen Reporter gefeuert, der versucht hat, die öffentliche Meinung (und andere Berufskollegen) im Rahmen einer TV-Reportage auf allerbillgste und verwerflichste Weise zu manipulieren:

    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/falscher-pegida-demonstrant-rtl-wirft-reporter-raus-13335537.html

    Qualitätsjournalismus eben: Da weiss man, was man hat! Das überschreitet die Ebene vom Meinungsjournalismus (und seinem Äquivalent im Netz, dem Blog-Selfie) gleich auf mehreren Ebenen! Aber wie heisst es doch so schön: Ist der Ruf erst mal ruiniert…

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  3. David Bender sagt:

    Der Selfie-Vergleich bringt es auf den Punkt. Beispielsweise scheint Herr Fröhlich vor allem daran interessiert zu sein, uns mitzuteilen, mit wie vielen hohen Managern er per Du ist. Auf seiner Website erscheint als Referenzkunde die Tamedia-AG. Wie wohl die Auswahl der Autoren funktioniert?….

  4. Réda El Arbi sagt:

    Nun, Blogs können politische und gesellschaftliche Tendenzen anhand persönlicher Erlebnisse und Prozesse verdeutlichen. Und wo früher die Einordnung und Meinung in der Hand einiger weniger Leitartikler lag, wird nun in den sozialen Medien Orientierung gesucht. Blogs werden nicht mehr gelesen, weil sie “Alltag” behandeln. Blogs werden mehr gelesen, weil sie einen emotionalen Zugang zu einem Thema schaffen und so dem Leser und seiner Befindlichkeit Rechnung tragen. Blogs beginnen da, wo der klassische Journalismus aufhört: Er nimmt die reine Information der journalistisch arbeitenden Kollegen und gibt ihr eine weitre Dimension.

  5. Zufferey Marcel sagt:

    Blog ist nicht gleich Blog: Embedded blogs, wie ich zum Beispiel die Tagi-Blogs nenne, unterscheiden sich grundlegend von jenen, die auf wordpress oder ähnlichen Platformen losgelöst von jedem redaktionellen (und damit auch kommerziellen) Kontext vor sich hin… blubbern und wuchern. Von Letzteren gibt es weltweit ein paar Wenige, die wirklich relevant sind. Doch die kann man an einer Hand abzählen. Interessanter sind da schon Mischformen wie z. B. Krautreporter (D). Stefan Niggemeier et al. texten da fröhlich, unabhängig und meistens gut recherchiert (!) vor sich hin- und ziehen bemerkenswerterweise auch schon erste Bezahlangebote auf! Letzteres lässt sich übrigens immer häufiger beobachten, v. a. im Bereich der alternativen Medien und auf Sachthemen spezialisierten Informationsportale. Was die Befindlichkeiten hüben und drüben anbelangt: Meinungsjournalismus unterscheidet sich nur graduell vom Blog-Selfie. Nur haben sich Journalisten den Richtlinien vom Presserat unterzuordnen (Erklärung der Rechte und Pflichten der Journalistinnen und Journalisten) und der freie Blogger auf wordpress nicht. Ob das ein Fluch oder ein Segen ist, wird sich in unserer stark fragmentierten Informationswelt erst noch weisen müssen.

  6. Barbara von Kaenel sagt:

    Yep!

  7. Markus sagt:

    Schade ist, dass einige Verfasser der Blogs derart von sich eingenommen sind, dass sie andere Meinungen nicht interessiert und Kommentare, die ihnen nicht passen, unterdrücken. Das ergibt leider kein objektives Bild.