Wann begann die Globalisierung?
Wann immer man sich länger in Asien aufhält, kommt man in der wirtschaftshistorischen Diskussion früher oder später zur Frage, wann die Globalisierung begann bzw. seit wann der Westen die Welt dominiert. Denn man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Westen hat alle aussereuropäischen Kulturen entweder zerstört oder dazu gezwungen, wesentliche Elemente zu übernehmen. Der britische Journalist Martin Jacques schreibt zwar in seinem Bestseller, mit dem Aufstieg Chinas entstehe eine neue, nicht-westliche Moderne. Aber der kulturelle Unterschied zwischen dem modernen China und dem modernen Europa ist verschwindend klein im Vergleich zu kulturellen Unterschieden vor 500 oder 1000 Jahren.
In der Schule lernt man, dass die westliche Dominanz im späten 15. Jahrhundert einsetzte. Der Kolumbus «entdeckte» 1492 Amerika, Vasco da Gama segelte 1498 erstmals von Europa nach Indien.

In der Forschung sieht man die Sache etwas anders. Vor allem die Reise des Portugiesen da Gama betrachtet man heute nicht mehr als grossen Durchbruch. Die portugiesischen Kaufleute schafften es nämlich nicht, ein grösseres Gebiet zu besetzen und den Handel zu kontrollieren. Sie blieben eine Minderheit in einem bereits etablierten überregionalen Handelssystem.
Auch Kolumbus‘ Reise wird heute relativiert. Natürlich war die Verbindung über den Atlantik revolutionär und für die Kulturen des amerikanischen Kontinents verheerend. Man schätzt, dass mehr als drei Viertel wegen den von den Europäern eingeschleppten Krankheiten innerhalb von wenigen Jahrzehnten gestorben sind. Aber die spanische Kolonialverwaltung war wenig effektiv. Sie konzentrierte sich auf den Abbau von Edelmetallen. Es war noch nicht ein effizientes, expandierendes System, das den ganzen Kontinent in die Weltwirtschaft integrierte. Der atlantische Wirtschaftsraum blieb lange Zeit unterentwickelt im Vergleich zu China und Indien.
Die beiden Wirtschaftshistoriker Dennis O. Flynn and Arturo Giráldez behaupten deshalb, dass erst mit der spanischen Besetzung der Philippinen in der Mitte des 16. Jahrhunderts die moderne Weltwirtschaft entstanden ist (hier). Denn über die Philippinen konnte ein weltweiter Fluss von Gütern und Silber in Gang gesetzt werden. Die Silberzahlungen aus den spanischen Kolonien in Amerika nach China waren in der Tat bedeutend. Zeitgenossen berichten, dass die spanische Oberschicht in Mexiko und Südamerika im Austausch gegen Silbere enorme Mengen von Luxusgütern (z. B. chinesische Seide) anhäufen konnten.
Die meisten Wirtschaftshistorikerinnen und -historiker lehnen heute aber auch diese Sicht ab. Sie glauben, dass erst mit der industriellen Revolution in England im späten 18. Jahrhundert die Grundlagen für die Globalisierung bzw. die westliche Dominanz gelegt worden sei. Vor dieser Umwälzung hätten die Europäer schlicht nicht die technischen Mittel gehabt, ihre Lebensweise den dicht bevölkerten Weltregionen wie China und Indien aufzuzwingen. Die Silberflüsse von Amerika nach China seien vernachlässigbar klein gewesen, wenn man sie mit dem globalen Handelsvolumen des 19. Jahrhunderts vergleiche. Am pointiertesten haben diese Meinung Kevin O’Rourke und Jeffrey Williamson vertreten (hier).
Ausserdem hat im Austausch über den Pazifik das chinesische Kaiserreich dominiert, nicht Spanien. Denn China habe seine Güter absetzen können, während Spanien nichts zu bieten hatte. Die chinesische Handelsbilanz blieb bis ins frühe 19. Jahrhundert positiv, als englische Kaufleute begannen, Opium von Indien nach China zu schmuggeln. 1839 brach deshalb der Opium-Krieg aus, 1842 musste China unter Zwang einige seiner Häfen öffnen. Erst ab diesem Zeitpunkt wurde China wirklich in die Weltwirtschaft integriert.
Die Globalisierung ist also erst 200 Jahre alt. Es gab zwar zuvor immer wieder Kontakte zwischen den Kontinenten, aber sie waren nicht vergleichbar mit der Wucht der modernen Globalisierung. Was seit 200 Jahren läuft, ist neu und singulär. Der Versuch, ein Muster aus der Geschichte abzuleiten, wie es Ian Morris in seinem Buch tut, ist deshalb zum Scheitern verurteilt.
P.S.: «Why the West Rules – For Now» von Ian Morris ist trotzdem eines der besten zum Thema. Ich kann es nur wärmstens empfehlen.
26 Kommentare zu «Wann begann die Globalisierung?»
Der geheime Kontinent – Doku 2 Teiler:
https://www.youtube.com/watch?v=WW5YdCF4Ifw
Die ganze Diskussion haengt davon ab, wie Globalisierung definiert wird. Versteht man unter dem Begriff die Bewegung von Ideen und von Guetern ueber weite Distanzen verursacht von Menschen, dann begann die Globalisierung in der Urzeit, als der Homo Sapiens von Afrika auswanderte. Mit anderen Worten sind der praehistorische Handel von Obsidian aus der Tuerkei nach Babylonien ebenso wie die Rezeption der Zahl null in Europa aus Indien, die Einfuehrung der Tomate oder des Mais in Europa oder sogar die Vermischung des Genoms des homo sapiens mit dem der Neanderthaler eben auch Globalisierung. Mit anderen Worten ist Globalisierung eine zutiefst menschliche Errungenschaft. Die Frage ist weniger, wann Globalisierung begann, vielmehr wie Gesellschaften die beschleunigte Globalisierung und deren positive und negative Effekte bewaeltigen kann.
Ich würde es noch anders Formulieren. Globalisierung nennt man den Zustand, in dem die Interessen multinationaler Unternehmen gegenüber jenen nationaler Völker Vorrang haben. Sie ist daher letztlich ein Synonym für den trickle-down Neoliberalismus und damit c.a. 30 Jahre alt.
Ich möchte meine These an einem Beispiel illustrieren:
Die meisten Leser und Schreiber würden wohl zustimmen, dass sie in ihrem Haus oder ihrer Wohnung die „Herren“ sind, die alleine bestimmen ob man etwa rauchen oder sich aus dem Kühlschrank bedienen darf.
Nun gibt es Leute, die sagen, wenn *ich* mich ohne zu fragen aus meinem Kühlschrank bedienen darf, dann sollten auch alle Besucher dasselbe dürfen. Würde jemand hier diese Ansicht teilen? Wer diese Ansicht unerhört findet ist ein Globalisierungs-Gegner „erster“ Stufe. Tatsächlich ist es aber so, dass wir zum Beispiel inländische Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen gegenüber ausländischen nicht mehr bevorzugen dürfen. Diese Stufe ist also bereits Realität.
Um das Beispiel zu beenden: Globalisierung bedeutet, dass ein Besucher in meiner Wohnung selbst dann rauchen darf, wenn ich selber nicht rauche, und wenn ich mich oder meine Kinder vor dem Rauch schützen will, dann müssen *wir* und nicht etwa der Raucher bei -10 Grad auf den Balkon. Es gibt in der Literatur genügend Beispiele von WTO- (oder NAFTA-) Urteilen, in denen ein Land gezwungen worden ist, den Markt für Güter zu „öffnen“ auch wenn zB gesundheitsspolitische Gründe oder schlicht der Wille des Volkes dagegen sprachen (Hormonfleisch, Gentechgemüse, krebserregende Benzinzusätze, etc ad nauseam).
Das Heimtückische am Markennamen „Globalisierung“ (statt Neoliberalismus) ist, dass ersterer suggeriert, sie sei eine unabwendbare Naturkraft, gegen die sich aufzulehnen letzlich einfach nur dumm ist. Was viele unter Globalisierung verstehen ist schlicht „Welthandel“, und dieser ist tatsächlich mindestens 500 Jahre alt.
@ Ralph
Ihr Bild hinkt: Sie leben nicht in „Ihrem Haus“, sondern in einer Wohngemeinschaft. Nicht nur andere Leute kommen auch in Ihr Zimmer, Sie gehen auch in andere Zimmer.
Da ist das schon etwas komplizwickter, als von Ihnen dargestellt, mit den Regeln.
Mit dem letzten Abschnitt bin ich völlig einverstanden.
Ich sehe nicht, wie Ihr Einwand meine Metapher widerlegt. Es gibt immerhin auch Leute in einer Wohngemeinschaft, die in ihrem Zimmer keinen Rauch wünschen?!? Da die selber Nichtraucher sind, dann gehen sie wohl in andere Zimmer, rauchen dort aber nicht. Ein Raucher hat trotzdem das Recht, mein Zimmer rauchend zu betreten?
Es ist eben ein Wesenszug des trickle-down Neoliberalismus (in der Fachsprache „Angebotspolitik“ genannt: supply-side), dass die Interessen des Anbieters (multinationale Unternehmen) denen der Nachfrager (Volk) vorangehen. Daher muss der Nationalstaat als Repräsentant des Volkes seine Souveränität aufzugeben, und wir müssen einen zB einen Autobahntunnel von einem billigen Ausländer statt einem marginal teureren Schweizer bauen lassen, obwohl letzterer in der Schweiz Steuern zahlt und Leute beschäftigt.
Aber egal, ich finde meine Metapher trotzdem noch recht einleuchtend 🙂
@ Karin
Das ist eine hochgradig verengte und naive Sicht auf die Globalisierung – etwa so, wie wenn Sie behaupten würden, das Entscheidende an einem Lehrer sei das Korrigieren von Aufsätzen. Ja, das brauchts auch, aber ist nur ein kleiner Ausschnitt!
Offshoring ist nur eine Variante des Outsourcing, und beides ist nur eine Abart internationaler Einkäufe und Produktionen.
In einer globalisierten Wirtschaft, die wir heute haben, gibt es echt internationale Unternehmen wie Nestle, Unilever, UBS, Credit Suisse, Siemens, Swiss Re, etc. etc., die sowohl Produktionsstandorte als auch Kunden in aller Herren Länder haben. Roche ist KEINE Schweizer Firma mehr, die sieht nur so aus. Transocean ist keine Schweizer Firma, die hat nur ihren juristischen Hauptsitz hier.
Globalisierung beginnt aber bereits, wenn mein Schreiner im Glarnerland die Badezimmertüre für mein Ferienhaus aus China bezieht, oder wenn Anh Toan in Vietnam die Buchhaltung für Schweizer KMU führt.
Die Globalisierung führt zu einer globalen, statt nationalen Sicht auf alle Probleme. Sie führt zur New World Order, der Überzeugung, dass man die Probleme der Zukunft nicht mit nationalstaatlichen Demokratischen Mitteln lösen könne, und daher eine Supranationale Führung nötig sei.
Unternehmen haben schon immer gezielt jene Arbeitskräfte gesucht, von denen sie sich am meisten „Bang for the Buck“ versprochen haben. Das waren mal die Italiener im Strassenbau, die Portugiesen, die Griechen in Europa. Heute ist es Indien und China, weil die Arbeit heute leichter dorthin gehen kann, wo die Arbeiter sind, als umgekehrt.
Die Wirtschaft arbeitet seit Jahrzehnten über die Grenzen – sowohl in der Kooperation, als auch in der Konkurrenz. Das von Ihnen hochstilisierte Offshoring ist da nur ein kleiner Furz im Biswind.
Wie auch immer, die Globalisierung ist bei der Entwicklung der Finanzmärkte besonders gut zu beobachten. Erst zum Beginn der 80er Jahre begannen die nationalen Anlageverwalter im grossen Stil in ausländische Derivate anzulegen (zum Beispiel bei uns die BVG zum Alterssparen). Es wurden in Serie in den USA neue Anlagetypen erschaffen, unter anderem auch in Wertpapierpakete gebündelte Hypotheken. Es sind gerade diese globalisierten Wertpypiertypen welche sich zu hochgefährlichen Instrumenten entwickelt haben und reionale Gefahren globalisiert. Auch die CDS Werpapierversicherungen die gobal gehandelt werden sind jüngeren Datums.
Eine sehr interessante Beobachtung über Globalisierung kann im Bereich des Rohstoffhandels gemacht werden, ich weise auf die Geschichte mit Marc Rich hin, auch die Globalisierung in diesem Bereich entpuppte sich in den beginnenden 80er Jahren zunehmend als Goldesel. Die Ungleichverteilung der nationalen Vermögen beruht zu wesentlichem Teil auf Kapital das durch die Globalisiereung der Märkte entstanden ist, die Eliten bemerkten dass sie im Gegensatz zum Gewinn aus dem Binnenmarkt sehr viel Geld vor Steuern verstecken konnten. Das ist der Grund warum ein immer grösseres Interesse am Export/Import-Geschäft entstand. Die Milliardäre der Neuzeit haben sich in einer globalisierten Plutokratie zusammengeschlossen, sie schufen zahlreiche transatlantische „Denkfabriken“ um ihre Interessen wahr zu nehmen. Diese Denkfabriken bilden heute ein grosses Gegengewicht zu nationalen Demokratien und sie bedrohen inzwischen die Zukunft der Menschheit und der globalen Ressourcen mit ihrer Lobby.
Ja, ich sehe das genauso.
Da ich aufgrund vieler Analysen zum Schluss gekommen bin, dass weder die Globalisierungsprofiteure noch die NWO viel Gutes für die Breite Bevölkerung bringen wird, versuche ich so weit möglich, mich aus dem globalen Konsumwahn auszuklinken.
Und, klar, keine Geschäfte mit den USA, keine Geschäfte mit Nazis.
Ich würde die Globalisierung noch wesentlich enger fassen und erst die Verlagerung unternehmerischer Funktionen und Prozesse ins Ausland als eigentliche Globalisierung betrachten (sogenanntes Offshoring). Beim Offshoring sucht sich ein Unternehmen gezielt auf der Welt jene Region und deren Arbeitskräfte, wo die höchste Effizienz in der Umsetzung erwartet wird. Ungeachtet nationaler Grenzen entsteht eine Konkurrenzsituation über die ganze Welt hinweg.
Der Start lässt sich nicht so einfach festlegen, weil sich das Offshoring von geringfügigen Anfängen stetig ausgeweitet hat. Echt ins Gewicht fallend ist Offshoring aber sicher erst seit wenigen Jahrzehnten. Z.B. waren 1980 bei den multinationalen US-Unternehmen erst gut 20% der Arbeitsplätze im Ausland, 25 Jahre später waren es schon über 40% (viele davon in Ländern mit tiefen Löhnen). Teilweise ist das aber auch mit Übernahmen von ausländischen Firmen einhergehend (bei Roche z.B. arbeiten nur noch etwa 15% der Angestellten in der Schweiz).
Aus meiner Sicht kam die Globalisierung fliessend, einhergehend erstens mit der technologischen Entwicklung und zweitens mit dem Aufstieg des Bankensektors. Am Wichtigsten dürfte aber etwas Anderes der Grund sein, es lag nämlich in den Interessen der Eliten die Arbeitnehmerschaft zu entmachten, was durch Freihandelszonen mit Diktaturen wie China schliesslich den Höhepunkt erreichte. Ziel war es die Arbeitnehmerschaft zu entmachten und den Sozialstaat zu zerstören, um Demokratie wieder zu einer Sache zwischen den Eliten zu machen.
http://www.nachdenkseiten.de/?p=14462
Danke für das Thema, das zu Grundlegendem führen kann! Natürliches ist jede zeitliche Einordnung des Beginnes der ‚Globalisierung‘ in einem gewissen Sinne völlig willkürlich – denn erst viele wesentliche Teile machen in der Summe dann das ganze Phänomen aus.
Ueber Entdeckungsreisen definiert, könnte man die Globalisierung auch ohne weiteres mit Heinrich dem Seefahrer (1394) oder mit dem Fall von Byzanz (29.5.1453, Schliessung des direkten Handelsweges zwischen Europa und Asien durch die Osmanen) beginnen lassen, oder mit den italienischen Stadtstaaten des 14./15. Jahrhunderts, deren (‚kapitalistisches‘) Wirtschaftshandeln im Kern schon global war (Marco Polo, Venedig und Florenz … ).
Als entscheidende Wendepunkte müsste aber m.E. wissenschaftliche Erkenntnisse, die sich allgemein ausbreiten konnten, mind. erwähnt werden, so z.B. das Ueberwinden des ptolemäischen Weltbildes (Giordano Bruno, Nikolaus Kopernikus, später Newton und Einstein als Stichworte) und das Entwickeln der Freiheit des Denkens (z.B. John Wyclif, Martin Luther usw.) – oder auch nur so profane techische Entwicklungen wie der Buchdruck.
Grundlage für all diese und der vielen Hundertausende mehr, die erwähnt werden müssten, war das nur mündlich verkündete und nur darin völlig eigentliche, dann aber absolut einmalige, globale und allumfassende ins Generelle erhobene ‚Judentum‘ eines gewissen Jesus Christus, auch wenn das wegen der Scheu vor Religiösem heutzutage niemand mehr sagen will …
Wie man sieht, ist bei jeder wissenschaftlichen Disziplin (Historiker, Philosoph, Naturwissenschafter, Wirtschaftswissenschafter, Mediziner, Theologe, Jurist usw.usf.) das Datum ein Verschiedenes – aber der geistige ‚Urknall‘ war und bleibt wohl die ungeheure Sprengkraft des Wirkens des Wanderpriesters Jesu – wenn auch der Missbrauch seines Namens leider parallel wächst mit dem globalen Erfolg seines Wirkens und Denkens in allen Dimensionen. Was war Europa, was wäre in Zukunft die Welt ohne sein Fundament?
„Aber der kulturelle Unterschied zwischen dem modernen China und dem modernen Europa ist verschwindend klein im Vergleich zu kulturellen Unterschieden vor 500 oder 1000 Jahren.“
In der relativen Betrachtung zwischen früher und heute stimme ich der Aussage unbesehen zu. Man sollte daraus aber keinesfalls ableiten, dass es keine relevanten kulturellen Unterschiede zwischen China und Europa gäbe.
Die Chinesische Kultur – das, was die Menschen dort für „normal“ halten (z.B. mit Stäbchen essen) unterscheidet sich gerade UNTER der Oberfläche erheblich von der angelsächsischen, germanischen oder frankophonen Kultur (wo man z.B. mit Messer und Gabel isst). Das dümmste, was man tun kann, ist zu glauben, die Chinesen funktionierten „im wesentlichen“ wie z.B. die Deutschen.
„Das dümmste, was man tun kann, ist zu glauben, die Chinesen funktionierten “im wesentlichen” wie z.B. die Deutschen.“
Meinen Sie? Naja, es kommt wohl darauf an was man vergleicht. Wenn man solche Feinheiten wie Stäbchen nimmt dann ist China nach wie vor eine total andere Kultur. Wenn man aber aufs Grosse Ganze geht, nämlich z.B. das die unsichtbare Hand auch in China funktioniert, dann sind China und der Westen wirklich sehr ähnlich geworden. Beide sind ziemlich materiell ausgerichtet und erfolgsorientiert. Beide Kulturen lehnen sich heute stark an wissenschaftlichen Erkenntnissen an. Beide haben einen modernen demokratischen Staat. Man kann natürlich immer noch unterschiede ausmachen, aber dass kann man zwischen jedem Menschen. Daher finde ich es gar nicht so falsch wenn man Chinesen mit Deutschen vergleicht. Sie sind nicht gleich, kommen aber sicherlich weit besser miteinander aus als sie es noch vor 500 Jahren gemacht hätten.
…naja, das mit dem „besser auskommen“ sehen wir erst, wenn es mal so richtig Knatsch gibt.
Wenn ich sehe, wie wenig die Chinesen mit den Japsen auskommen, bin ich deutlich weniger zuversichtlich.
„Denn man kann es drehen und wenden, wie man will: Der Westen hat alle aussereuropäischen Kulturen entweder zerstört oder dazu gezwungen, wesentliche Elemente zu übernehmen.“
„Aber der kulturelle Unterschied zwischen dem modernen China und dem modernen Europa ist verschwindend klein“
So ist es. Ich finde es daher immer witzig wenn man sagt der Westen haben nichts erreicht. Z.B. wenn heute China in Afrika investiert kann man durchaus argumentieren dass dies nur möglich ist, weil wir unsererseits damit begonnen haben in China zu investieren. Der Kapitalismus und damit auch der Westen haben also tatsächlich grösseren Bevölkerungsschichten zu mehr Wohlstand und Sicherheit verholfen als jemals eine Kultur zuvor. Wie auch immer, der Westen hat der Welt seinen Stempel längst aufgedrückt und ohne es zu wissen wird die westliche Kultur heute auch dann weiterleben wenn ganz Europa oder die ganze USA einfach so verschwinden. Und zwar in 1.3 Mrd. Chinesen, 1.1 Mrd. Indern, 300 Mio. Japaner etc.
Ich weis, der Westen hat auch mehr Menschen als jede vorherige Kultur umgebracht. Man kann sich also zu recht fragen, war es das wert?
CERN brachte das Internet hervor (das Anliegen war schnelle Kommunikation & Steuerung innerhalb der Forschungsbeteiligten). Das war der ausschlaggebende Zeitpunkt um über elektronische Vernetzung so intensiv und schnell Einfluss zu nehmen, als wäre man jeweils vor Ort. Damit wurde der geographisch unabhängige Arbeitsort geboren. Globalisierung so wie wir die Folgen heute erfahren, ist eine indirekte Folge von Steuerungssysteme, Vorläufern von ERP Systeme, wie wir sie in jedem Betrieb antreffen. Die Logistik als Informationslogistik, dem letzten Bindeglied um alle relevanten Geschäftsprozesse miteinander zu verbinden und mit Informationen in Echtzeit zu versorgen. Der Endkunde ist Teil der Vernetzung, die Nachfrage bestimmt das Produkt, der Konsument wird zum Produktentwickler, zum Designer, ist Teil der Marktforschung ohne dass er es wahrnimmt.
Man ist jederzeit und überall über die gesamte Prozesskette informiert und kann aktiv eingreifen. Was zuerst mit Verlagerung von Produktionen begann griff auch auf den Dienstleistungssektor über (Informatik Indien als Stichwort) und ist jetzt im Begriff einer Konsolidierungsphase. Denn mit der geographisch unabhängigen Arbeitskraft und dem Ort der Leistungserbringung, stellt sich auch die Frage der Einnahmen, der Kaufkraft, der Steuersubstanz, des Entstehungsortes der Innovation (Stichwort Made in Switzerland zu wie vielen % …), Verlust von Know how und Wissensinvestitionen (Bildung), des Konsummarktes etc., etc.
Da alles einem von einander geographisch unabhängig stattfinden kann,stellt sich die Frage nach dem Erhalt von Kaufkraft und Wohlstand. Denn geschäftliche Interessen sind nicht unbedingt die gleichen wie strategische, staatliche, politische, gesellschaftliche. Die rasante Entwicklung der letzten dreissig Jahre dürfte zur Zeit eine Konsolidierungsphase erreichen, deren Ausgang noch von vielen variablen Faktoren abhängig ist. Die Kernfrage lautet: Welcher Rohstoff hat diese Entwicklung ermöglicht? Fossiles Öl!
@W Hürlimann
„Die Kernfrage lautet: Welcher Rohstoff hat diese Entwicklung ermöglicht? Fossiles Öl!“
Dieser Schluss ist nur zum Teil richtig. Richtig ist, dass billige Energie (zZ fossiles Öl) die Mechanisierung der Wirtschaft ermöglicht und damit erhebliche Economies of Scale, ferner billige Transporte Voraussetzung der Globalisierung sind.
Der wesentliche Rohstoff ist aber nicht (nur) billige Energie, es ist Silizium – als Sinnbild für die Informatisierung / Computerisierung. Wesentlich heute sind enorme Mengen von Daten in unglaublicher Detailliertheit. Schon immer war Wissen auch Macht.
Die Computerisierung erlaubt ungeahnte Levels von Anpassung/Individualisierung in allen Bereichen der Wirtschaft.
Der relevante Rohstoff heisst: „Information“.
„Der relevante Rohstoff heisst: “Information”.“
Ich gehe noch weiter, im Hochfrequenzhandel der Börsen wird heute Information im Millisekundentakt generiert, damit versucht man die Preisentwicklung zu steuern. Ich nenne das Preissteuerung durch Streuung virtueller Information. Wer glaubt Informationen zu besitzen um so seine Anlagen zu schützen -irrt sich- weil heute eine unglaublich grosse Fülle nur noch virtueller Information das Treiben der Börsen bestimmt. Natürlich gibt es noch Informationen aus der Realität welche die Märkte beeinflusst, etwa Bernankes Aktenkoffer. Betrachtet man das aber genauer, so stellt es sich heraus dass der Inhalt von Bernankes Akten wesentlich von Informationen aus der virtuellen Realität bestimmt werden. In dem Ausmass wo Schulden in diesem Ausmass wie jene der USA nie mehr real beglichen werden können spielen harte Infos immer weniger eine Rolle.
@ ast
Ich glaube nicht, dass es harte und weiche Information gibt, genausowenig wie harte und weiche Energie.
Was ich aber sehe, ist, dass früher Buchhaltungen und Geldpolitik ein Spiegel der Realwirtschaft waren. Inzwischen haben sich die virtuellen von den konkreten Realitäten gelöst. Bernanke spielt als Avatar in Second Life, während sich die Harz4 Empfänger mit der harten ungeheizten Realität rumplagen müssen.
Mutti ist inzwischen auch primär virtuell. Früher war sie einfach Stasi-Agitprop Sekretärin.
die „globalisierung“ im historischen sinn gab es eigentlich nie. heisst die früheren imperialmächte haben ihre terretorien entweder durch kolonialisierung, eroberung oder handelsbeziehungen aufgebaut. in der neuzeit bedeutet „globalisierung“ ein eingriff in die souveränität der staaten bezüglich wirtschaftlicher und demografischer entwicklung. eines hat sich jedoch nicht geändert. die „globalisierung“ bewirkt keine allgemeine prosperität und sie ist nicht nachhaltig. ressourcen werden vernichtet, die umwelt leidet und die 4. welt-länder werden noch ärmer.
Das ist nicht war. 1.3 Mrd. Chinesen die am aufsteigen sind werden Ihnen bestätigen das Ihre Aussage nicht stimmt. Es ist war, die Globalisierung hat auch Nachteile und enormen Schaden angerichtet, aber im Grossen und Ganzen hat sie sich positiv auf die weltweite Bevölkerung ausgewirkt. Nicht gleichmässig und auch nicht überall gleich stark. In einigen Regionen war die Globalisierung sogar eher wie ein alles vernichtendes Feuer, dessen bin ich mir bewusst. Aber eben, im Grossen und Ganzen sind ihre Auswirkungen doch erfreulich und haben die ganze Menschheit weiter gebracht als sie jemals zuvor war. Heute noch gegen die Globalisierung zu sein ist eine veraltete Modeerscheinung und nicht mehr cool Herr Rittermann. Nennen Sie mich ruhig naiv, aber ich habe mich auch schon oft mit diesem Thema befasst und bin nicht ganz so indoktriniert wie Sie vielleicht glauben. Ich sehe mir nur die rationalen Fakten an und diese sind auf der positiven Seite in erdrückender Überzahl. Das ich mir dabei meinen A**** selbst bequem vor den Bildschirm flach drücken kann mag natürlich im Vergleich mit hart arbeitenden Bauern in Indien nicht fair sein, ich rechne es aber trotzdem zu den positiven Dingen der Globalisierung 😉
ich nenne sie nicht naiv, herr stadelmann, dennoch bin ich nicht ihrer meinung. gemäss ihren ausführungen verwechseln sie globalisierung mit wohlstand. obwohl das eine das andere in der theorie nicht ausschliesst-, ja sogar bis zu einem gewissen grade bedingt, zeigt die praxis leider ein anderes bild. und zwar, dass im zuge der globalisierung die schere zwischen reich und arm immer grösser wird. natürlich bin ich auch nicht ganz naiv und weiss, dass man die übergreifenden entwicklungen nicht mehr rückgängig machen kann; nur plädiere ich (wenigstens) dafür, der sozialen gerechtigkeit innerhalb des prozesses verstärkt rechnung zu tragen um nicht eine „globale 2-klassen-gesellschaft“ und daraus resultierende soziale unruhen zu
gegenwärtigen. ich behaupte etwas kühn, dass 70% der menschheit zumindest mittelfristig unter dieser entwicklung leiden
werden. ich bin mir hingegen nicht sicher, ob die wirtschaft diesen notwendigen paradigma-wechsel zu machen bereit ist.
@Philipp
„die “globalisierung” bewirkt keine allgemeine prosperität und sie ist nicht nachhaltig. ressourcen werden vernichtet, die umwelt leidet “
Sie vermischen hier zwei Elemente, die nicht miteinander gekoppelt sind:
(1) Die Globalisierung im Sinne eines Zusammenwachsens und immer stärkeren Austausches von Waren, Ideen und Dienstleistungen ist ein systemtheoretisch unausweichliche Konsequenz der technischen Evolution: Mit immer besseren Transport- und Kommunikationsmitteln ist es unvermeidlich, dass der Austausch stärker wird. Durch den stärkeren Austausch werden Pareto-Differenzen der Produktionskosten ausgenutzt um neuen Nutzen zu generieren. Diesen Entwicklung ist wertfrei und führt nicht automatisch zur Umweltzerstörung und Ausbeutung.
(2) Die Umweltzerstörung und Ausbeutung ist Folge des mechanistisch-materialistischen Weltbildes (auf einer primär mythisch dominierten Kulturstufe). Dieses Weltbild hält die Welt und die Lebewesen für maschinenähnliche Gebilde, glaubt, das ganze Leben sei ein Kampf gegen die Konkurrenz, und der Tod sei das Ende.
Diese (westliche) materialistische Kultur führt zu Ausbeutung (hierzulande: die 1% die 99%, global: der Westen die Entwicklungsländer) und Umweltzerstörung (hierzulande sind wir reich genug, um uns ein paar Reservate, äh, Nationalparks zu leisten), vorzugsweise in den Entwicklungsländern, die wenig finanzielle Möglichkeiten haben, sich der Ausbeutung ihrer Natur durch die westlich-dominanten Konzerne zu entziehen.
Die beiden Faktoren sind aber nur zufällig gleichzeitig im Spiel, das ist keine Abhängigkeit.
Wer gegen die Globalisierung kämpft, kämpft gegen Windmühlen. Wer für ein ganzheitliches Weltbild und Schutz von Natur und allem Leben kämpft, kämpft für die Zukunft.
Nicht verwechseln, nicht vermischen!
da bin ich grundsätzlich schon ihrer meinung, herr ernst; nur – leider sehe ich sehr wohl bezüglich wirtschaftsintressen-getriebener globalisierung halt auch einen (negativen) impact auf die umwelt. gerade bei den schwellenländern wie indien oder china ist der preis der erhöhten produktivität eine verstärkte umweltverschmutzung. ich habe, (musste…) china zwei mal besuchen und ich kann ihnen sagen – da ist der profit zulasten der umwelt immer im vordergrund. ein kleines beispiel: man fragte mich an für einen „spezial industriebefeuchter“, welcher feinste aerosole durch einen 300m hohen kamin an die aussenluft befördert. nach mehrmaligem hinterfragen habe ich dann erfrahen, dass kontaminiertes abwasser aus einem akw auf diese weise entsorgt werden solle……
dies war das erste mal in meiner berufskarriere, wo ich einen potentiellen auftrag restriktiv abgelehnt habe.
Man kann sich fragen ob selbst diese 200 Jahre noch etwas hoch gegriffen sind, denn erst mit dem Aufkommen des interkontinentalen Massen-Flugverkehrs und dem billigen Container-Frachtverkehr wurde doch der Produzent in China oder Brasilien zum direkten Konkurrenten des europäischen Herstellers – in den meisten Branchen! Bis dahin erstreckte sich das doch nur auf wenige Branchen.
Heute ist eigentlich nur noch der lokale Malermeister rein durch seine räumliche Präsenz vor Übersee-Konkurrenz geschützt.
@ Cornelis B. — Zum letzten Satz: Auch dies stimmt nicht wirklich; zwar sind in ZH (+ wahrscheinl. dem Rest der CH) noch keine asiatischen Subfirmen im KMU-Sektor der Handwerksbetriebe aufgetaucht, aber in anderen, dienstleistungsnäheren Sektoren, etwa der Reinigungsbranche findet z.B. zurzeit gerade ein Verdrängungskampf „einheimischer“ Betriebe (meist von Einwanderern gegründet) durch so genannte Spanier und Portugiesen statt. Wenn man deren Mitarbeitende mit EU-Pässen aber genau anschaut, sieht man, dass es sich um Lateinamerikaner (Andenstaatler und Brasilianer beiderlei Geschlechts) handelt. Die Globalisation greift heute wesentlich tiefer durch als häufig angenommen.
Zur andern These, die Technologie (Flugzeuge, Container- und andere Riesentransportmittel der Meere, womöglich auch Pipelines etc.) sei das entscheidende Element der Globalisierung: Straumann legt eben genau dar, dass es sich um ein von Europa und den USA dominiertes Weltphänomen handelt, dass die andern Gesellschaftsformen zu weitreichenden verwestlichenden Konsequenzen zwang, also nicht eine Techniksache ist.