Das Wirtschaftswunder des 21. Jahrhunderts

Obwohl die materiellen Bedürfnisse in Ländern wie der Schweiz weitgehend gesättigt sind, wächst der Konsum – dank raffinierter Marketingkonzepte.

Bedürfnisweckung statt Bedürfnisdeckung: Heute müssen Kunden dazu gebracht werden, jährlich ein neues Smartphone zu kaufen. Foto: Reuters

Das Wirtschaftswunder besteht im 21. Jahrhundert nicht mehr darin, dass pro Kopf immer mehr Güter und Dienstleistungen produziert werden können. Ein Wunder ist es vielmehr, dass diese Mehrproduktion tatsächlich von Jahr zu Jahr auch verkauft werden kann. Und dies, obwohl in hochentwickelten Ländern wie der Schweiz materielle Bedürfnisse weitgehend gesättigt sind. Doch nichts wächst regelmässiger als der Konsum der privaten Haushalte. Seit dem Jahr 2000 liegen die realen Wachstumsraten zwischen 0,4 und 2,6 Prozent, ohne dass sich irgendein Anzeichen von Sättigung erkennen lässt.

Grundsätzlich ist es so: Je höher der Wohlstand einer Gesellschaft wird, umso mehr Aufwand braucht es, um weitere Produkte an die Frau oder den Mann zu bringen. Als Radios, Fernseher, Waschmaschinen und Autos, aber auch Personalcomputer oder Smartphones erstmals auf den Markt kamen, musste man den Konsumenten nicht gross erklären, wozu sie diese brauchen. Sie entsprachen Bedürfnissen nach Unterhaltung, Kommunikation oder Bequemlichkeit. Die Menschen aber dazu zu bringen, jedes Jahr ein neues Smartphone zu kaufen, sich alle zwei Jahre wieder für ein neues Automodell zu entscheiden, braucht schon wesentlich mehr Anstrengung. Doch auch in dieser Hinsicht erwies sich die Wirtschaft als innovativ – statt um Bedürfnisdeckung geht es zunehmend um Bedürfnisweckung.

Wasserflaschen und Autoscham

So wussten Menschen bis vor einigen Jahren noch nicht, dass sie das Bedürfnis haben, täglich Herzfrequenz, Tagesaktivitäten, verbrannte Kalorien und ihren Schlaf zu erfassen. Dank den Anstrengungen der Hersteller von Gesundheitsuhren wurde dieses Bedürfnis jedoch in ihnen «geweckt», und Gesundheitsuhren bzw. Fitness Tracker werden heute in grossen Mengen verkauft. Auch war es Menschen bis in die 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland oder der Schweiz nicht bewusst, dass sie ein Bedürfnis hatten, normales Wasser ohne Kohlensäure in Flaschen abgefüllt zu kaufen, statt zu Hause den Wasserhahn aufzudrehen und es dort gratis zu beziehen. Doch dank geschickter Werbung glauben sie heute, dass Wasser aus Flaschen qualitativ hochwertiger, frischer oder sauberer ist, selbst wenn das objektiv betrachtet nicht der Fall ist.

Im grossen Stil begannen die systematischen Anstrengungen zur Bedürfnisweckung in den USA in den 50er-Jahren. Bereits damals befürchtete man, das Wachstum des Konsums könne zum Stillstand kommen, weil die Menschen dort bereits alles hätten, was sie eigentlich brauchen. Die Werbefachleute sprachen deshalb mehr und mehr davon, dass es wünschenswert sei, eine «psychologische Schrottreife» zu schaffen, indem man bereits existierende Produkte durch neue, angeblich bessere, leistungsfähigere oder modischere Varianten nach kurzer Zeit funktional entwertet. So wissen wir von einer Konferenz von Gasgeräteherstellern in den 50er-Jahren, dass diese ermahnt wurden, sich ein Beispiel an den Autofabrikanten zu nehmen. Dort sei die psychologische Schrottreife bereits zu höherer Meisterschaft entwickelt worden. Autohändler hätten es geschafft, in jedem Menschen, der einen mehr als zwei oder drei Jahre alten Wagen fährt, ein Gefühl der Beschämung hervorzurufen.

Konsumwachstum dank psychischer Verschrottung

Inzwischen wurde dieses Gefühl der Beschämung erfolgreich auf viele weitere Produkte übertragen. Man schämt sich, weil man nicht die neuesten Möbel hat, weil man die Grillparty mit einem alten Holzkohlegrill bestreitet, weil man nicht mit einem der neuesten Smartphone-Modelle telefoniert oder weil man schon länger keinen Weiterbildungskurs mehr absolviert hat. Güter oder Dienstleistungen werden zunehmend weniger dadurch obsolet, dass sie kaputtgehen und dadurch zu physischem Schrott werden. Sie werden obsolet, weil sich Unternehmen viel Mühe geben, bereits existierende Produkte möglichst schnell durch neu auf den Markt kommende, tatsächlich oder angeblich bessere Produkte psychisch zu verschrotten. Nicht nur, aber hauptsächlich aus diesem Grund haben wir jedes Jahr neue Modelle oder Versionen von Autos, Smartphones, Kaffeemaschinen, Computerspielen oder Diäten.

Halten wir fest: Das stetige Wachstum des Konsums der privaten Haushalte und damit auch des BIP ergibt sich nicht von selbst. Es braucht erhebliche Anstrengungen zur Weckung stets weiterer Bedürfnisse, damit wir uns zu noch mehr Konsum verleiten lassen. Bis heute hat das stets funktioniert, wie die Wachstumsraten des privaten Konsums aufzeigen.

12 Kommentare zu «Das Wirtschaftswunder des 21. Jahrhunderts»

  • Rolf Zach sagt:

    Es gab da vor Jahrzehnten zwei Bücher mit den Namen „Gesellschaft im Überfluss“ und „Wirtschaft für Staat und Gesellschaft“ von einem Autor namens
    John Kenneth Galbraith. Obwohl sicher nicht mehr in allem richtig, aber noch wie vor in vielem, war er doch einer der ersten. der auf überflüssigen Konsum hinwies bei gleichzeitig miserabler öffentlicher Infrastruktur. Wird einem bewusst, wenn man so eine Stadt wie Chicago besucht, die vor 100 Jahren noch eine Infrastruktur hatte, wobei sie praktisch jede europäische Stadt beneidete. Und heute, mühsam für die dortigen Pendler mit einer veralten Loop, aber architektonischen privaten Wunderbauten, deren Luxus als Wolkenkratzer unübertrefflich ist und darum herum in vielen Stadtteilen nur Armseligkeit und Ärger.

  • Anh Toàn sagt:

    „Bedürfnisdeckung geht es zunehmend um Bedürfnisweckung.“

    Das scheint mir falsch, man kann keine Bedürfnisse wecken, dies zu versuchen wäre wirtschaftlich Selbstmord:

    Man nimmt real vorhandene Bedürfnisse und behauptet, mit dem Kauf des Produktes würden diese befriedigt: Mit dem Kauf des richtigen Waschmittel gibt’s eine glückliche Familie. Ein Bedürfnis nach einem anders verpackten Waschmittel (drin ist ohnehin das Gleiche) gab es nicht, aber dass Bedürfnis nach einer glücklichen Familie war schon da: Meistens wird behauptet, mit dem Kauf des Produktes erhalte man soziale Anerkennung.

    Vielleicht werden ja irgendwann die Konsumenten so schlau und merken, dass das richtige Waschmittel höchstens sauber wäscht, aber keine glückliche Familie macht.

  • Hans Olo sagt:

    Physische und psychische Obsoleszenzen – beides seit bald einem Jahrhundert immer raffinierter geplant und umgesetzt, sorgen für konsumlücklich zahme Menschen in den mittlerweile nicht mehr nur westlichen Ländern.

    Zwar gibt es Risiken und Nebenwirkungen – wie z.B. Ausbeutung endlicher Ressourcen, Vergiftung von Wasser und Boden, Artendezimierung und Klimakatastrophe – doch zum Glück können wir diese unseren Kindern unterjubeln und unseren verdienten Wohlstand noch bis zum Ende geniessen.

    Eine unbedingt zu empfehlende BBC Doku zu diesem Thema:
    „The Century of the Self“
    Sicher auf englisch, evtl. auch mit deutschen Untertiteln.

    • Ralf Schrader sagt:

      Das Darstellen einfachster Sachverhalte oder Tatsachen in aufwendiger Filmform, statt in Text, ist auch eine Art von Obsoleszenz.

      • Claire sagt:

        Schrader: Gerade „The Century of the Self“ ist viel eher ein Recyclingparadebeispiel, besteht doch die gut 4 Stündige Dok praktisch ausschliesslich aus historischem Filmmaterial welches in einen neuen Kontext gesetzt wurde.
        Würde das ganze Wirtschaftswachstum so ressourcenschonend und kreativ umgesetzt wie „The Century of the self“, dann würde es der Umwelt auch einiges besser gehen.
        .
        Nun Herr Dr. Schrader, es sind nun nicht alle Menschen so helle, wie Sie glauben es zu sein, darum kann man bei einigen mit einer Filmdoku mehr erreichen als mit einem Buch. Angesichts eines zunehmenden wohlstandsdegenerierten Konsumidiotismus ist Aufklärung in dem Bereich doch sehr nötig. Greta & die Klimakidz langen dazu bei weitem nicht.

        • Ralf Schrader sagt:

          Ein 4h Film, elektronisch abrufbar vorgehalten, ist Ressourcenvergeudung erster Güte. Da kann das Material noch so alt und auf Zelluloid sein. Das Thema selbst kann man auf einer halben A4 Seite abhandeln. Wie fast jedes andere Thema auch.

          • Claire sagt:

            Schrader: Wenn Sie 100 Jahre Jahre Verführungsgeschichte seit Freud Neffe Edward Bernays, dem „Erfinder“ der PR mit all den vielen Entwicklungen und immer neuen Kaufverführungskünsten auf einer halben Seite abhandeln können, dann scheinen Sie mir aber ein tendenziell sehr oberflächlicher Mensch zu sein.
            Allenfalls ein paar Grundprinzipien der menschlichen Triebstruktur kann man auf populärwissenschaftliche Manier in eine halbe Seite quetschen, aber die wären dann auch nur sehr oberflächlich und generalisierend abgehandelt.
            Wäre alles so einfach wäre, würden weltweit nicht Mio von Mitarbeitern in Marketingabteilungen, PR- und Werbebuden arbeiten um immer neue Kaufverführungsstrategien zu erarbeiten.

          • Hans Olo sagt:

            Sehr gerne Herr Schrader, so können die Leser einen Haufen Zeit sparen und erst noch Ressourcen sparen.
            Ich bin gespannt auf Ihre Ausführungen.

            Und sollten Ihnen 800 Zeichen doch nicht genug sein, können sie das Thema auch auf zwei Posts aufteilen.

          • Ulrich Oswald sagt:

            Aber schon irgendwie genial, wie Freuds Neffe Bernays den Amerikanern „ham and eggs“ verkaufte, um den Schweinefleischkonsum anzukurbeln. Bei der Zigarettenpropaganda hat er sich schliesslich geschämt und mit der *PROPAGANDA* (unbedingt lesenswertes Buch!) aufgehört.
            Freud hat sich nicht geschämt, sondern gekokst und Zigarren geraucht, woran er schliesslich gestorben ist.

  • Bamford Jessica sagt:

    Wir haben immer grössere Teile der Gesellschaft, die sich äusserst Konsumkritisch verhält, sich also schämt, wenn sie bereits nach zwei Jahren ein neues Handy kaufen und nie ein Auto kaufen würden. Dies breitet sich immer mehr aus, und widerspricht diesem Kommentar komplett. Auch das stagnierende Wachstum seit 2008 lässt mich an dieser Theorie zweifeln, die klingt als wäre sie seit 10 Jahren nicht mehr anzuwenden.

    • Claire sagt:

      Jessica: Sorry aber diese bescheidenen vielleicht 10-20% der Bevölkerung, die Sie hier ansprechen langen da jetzt wirklich nirgends hin.
      Von was für einem stagnierenden Wachstum reden denn Sie? Das Welt-GDP ist von 2009 von 60.3 Bio $ auf 86 Bio $ 2018 gestiegen. Die Schulden der privaten Haushalte sind ebenfalls stetig am zunehmen von 34 auf über 47 Bio $ im gleichen Zeitraum, mit denen kann man auch schön konsumieren.
      Frau Jessica, sind Ihnen diese zunehmend vielen SUV auf den Strassen noch nie aufgefallen? Da wird jenen Konsumenten doch auch eingeredet, nur mit einem Hausfrauenpanzer seien sie noch sicher auf den Strassen unterwegs.
      .
      Vielleicht sollten Sie wieder mal aus Ihrer Filterblase steigen und andere soziale Umfelder mal etwas genauer beobachten.

  • Ralf Schrader sagt:

    Aussenreizabhängigkeit ist eine mittelschwere psychische Störung, lässt sich aber leicht therapieren.

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