Ökonomie der Piraterie

Dustin Hoffman als Captain Hook.

Piraten sind der Beweis, dass Anarchie organisiert werden konnte: Dustin Hoffman als Captain Hook. (Foto: Tristar)

In Funk, Film und Fernsehen hat die Piraterie seit jeher grosse Aufmerksamkeit bekommen. In der Ökonomie führt sie hingegen eine Randexistenz. Es gab zwar in der Wirtschaftsgeschichte früher einmal eine Diskussion über die Bedeutung der Piraterie für die Entstehung des British Empire und der Industriellen Revolution. Aber da die überwiegende Mehrheit zum Schluss kam, dass sie keinen entscheidenden Beitrag geleistet habe, wandte sich die Zunft wieder anderen Fragen zu.

In jüngster Zeit ist allerdings die Piraterie wieder auf dem Radarschirm der Forschung aufgetaucht, aber diesmal ist der Blickwinkel ein ganz anderer. Während es früher um makroökonomische oder geopolitische Fragen ging, stehen nun die mikroökonomischen Mechanismen im Zentrum. Wie waren die Piraten organisiert? Wie entschieden sie? Wie freiwillig war die Mitgliedschaft?

Auf den ersten Blick scheinen die Antworten auf der Hand zu liegen. Piraten müssen wie reguläre Armeen hierarchisch organisiert gewesen sein. An der Spitze standen charismatische Anführer, die den Rest mit Zuckerbrot und Peitsche bei Laune hielten. Captain Hook lässt grüssen.

Alles falsch, sagen neuere Untersuchungen. In seinem Buch «The Invisible Hook» – der Titel ist angelehnt an Adam Smiths Formulierung von der «unsichtbaren Hand» – zeigt der Ökonom Peter Leeson, dass die Piraten für ihre Zeit aussergewöhnlich demokratisch organisiert und gegenüber Menschen dunkler Hautfarbe relativ tolerant waren.

Leeson nennt zwei Gründe für das hohe Mass an Kooperation und das Fehlen von Sklaverei. Erstens hatten unterdrückte oder versklavte Piraten weniger Interesse am Erfolg des Unternehmens als vollwertige Mitglieder. Zweitens drohten unfreie Piraten alle Geheimnisse ausplaudern, um ihre Freiheit wieder zu gewinnen, wenn ein Piratenschiff geschnappt wurde. Es war schwieriger für die Justiz, vollwertige Mitglieder gegeneinander auszuspielen.

Gemäss Leeson waren die Piraten Pioniere beim Aufbau von modernen Institutionen:

Pirates understood the advantages of constitutional democracy –a model they adopted more than fifty years before the United States did so. Pirates also initiated an early system of workers‘ compensation, regulated drinking and smoking, and in some cases practiced racial tolerance and equality. Pirates exemplified the virtues of vice – their self-seeking interests generated socially desirable effects and their greedy criminality secured social order. Pirates proved that anarchy could be organized.

Leesons Buch wurde erwartungsgemäss von der Zunft nicht ganz ernst genommen. Die historischen Details stimmen offenbar nicht immer (hier eine kritische Rezension). Ein anderer Vorwurf lautet, dass das Thema zu wenig ernst ist. Die Piraten als Pioniere darzustellen, mag ja lustig sein, aber wo ist die Relevanz? Wir stecken in einer grossen Wirtschaftskrise, und die Ökonomen befassen sich mit solch abwegigen Themen!

Ein seltsamer Vorwurf. Wenn es eine Lehre aus der gegenwärtigen Krise zu ziehen gibt, ist es die, dass die Ökonomie die mikroökonomischen Mechanismen des Finanzsektors viel zu wenig ernst genommen hat, zum Beispiel die Fehlanreize bei der Entlöhnung, die Absenz von Checks and Balances in den leitenden Organen oder die Asymmetrien im Hypothekarmarkt.

Oder anders gesagt: Wenn der Umweg über die historische Piratenforschung dazu beiträgt, dass wir mehr über die optimale Organisation von Märkten und Unternehmen herausfinden können, sollten wir nicht weniger, sondern mehr Zeit mit dem Studium von Captain Hooks Leben verbringen, natürlich mit einer Buddel voll Rum auf dem Schreibtisch.

14 Kommentare zu «Ökonomie der Piraterie»

  • Interessant ist ja, das Dürrenmatt die frühe Eidgenossenschaft als „Raubnest“ charakterisiert. Interessant, dass die Schweizer Banken so lange funktionierten, als der Prokuristenposten mit dem Offiziersrang in der Armee (der Schweizer Nationalbande) korrellierte. Militärische Beförderungen wurden damals im Lichte ziviler Tätigkeiten und umgekehrt zivile durch militärische befeuert. Die Solidschweiz der Träger galonierter und genudelter Hüte war eben vielleicht eine Art Piratenbande inmitten Europas. Seit angelsächsisches Business-Denken eindrang und die Boni, die gemeinsame „Teilet“ der Beute ablösten kamen die Banken ins Schlingern. Auch alle anderen eidgenössischen Institutionen werden a la longue der „Geiz ist geil“-Mentalität erliegen.

  • Michael Schwarz sagt:

    Die Mikroökonomen haben längste in der Wirtschaft nicht mehr zu sagen; die Wirtschaft wird von Monetaristen diktiert, ohne Ausnahmen. Wenn wir die vergangene Krise analysieren, können wir leicht feststellen, dass die Auslöser der Krise zwar sich varieren, aber der Muster ist jedes Mal identisch, nämlich das Ungleichgewicht zwischen Geld- und Realwirtschaft. Alle sei überzeugt, dass das Geld die Welt regiert, solche ideologische Überzeugung ist die Ursache für die Krise.

  • Frank Baum sagt:

    Dass Piraten „demokratisch“ gearbeitet hatten, wurde in einigen Pulikationen erwähnt. Das ist auch durchaus plausibel. Dass sie aber als Vorreiter einer Konstitutionellen Demokratie zu sehen seien, geht dann doch etwas weit. Es ist klar, dass sich ein Piraten-Kapitän vor allem seine Unterstützung durch Zustimmung der Mannschaft erarbeiten muss. Im Gegensatz zur Bounty kam im Falle einer Meuterei niemand auf die Idee, die Meuternden zur Rechenschaft zu ziehen. Er muss also im Vorfeld festlegen, wer welchen Anteil bekommt. Es ist immer besser, so etwas geklärt zu haben, bevor jeder einzelne gierig auf die Beute blickt. Es ist auch klar, dass Rassismus keine Rolle gespielt hat: jeder, der mitmacht und sich an die Regeln hält, wird willkommen gewesen sein. Zu guter letzt erkennen auch Piraten, wohin es führt, wenn man den Rum in rauem Mengen fliessen lässt (oder aber gar nie). Insofern: Die Piraten haben sich ihr Miteinander so organisiert, damit es für ihre Zwecke gepasst hat. Dabei waren sie sicherlich umsichtig, wenn sie erfolgreich sein wollten. Das wirkt auch nur auf den ersten Blick erstaunlich. Immerhin ist man doch auf einer äusserst gefährlichen Mission unterwegs – und die Gefahren lauern innen wie aussen!

  • Fazit: Im Vergleich zu manchen heutigen Wirtschaftskapitänen waren früher Piraten edel, sympatisch, fast schon bescheiden, Vorbilder an Mitarbeiterdemokratie, trotz ihrem „Haken“ wahre Menschen…

  • Marcel Senn sagt:

    Wir leben ja immer noch im Piratenzeitalter – nur sind die jetzt nicht mehr auf Schiffen, sondern entern von riesigen Bankgebäuden aus die Welt, beherrschen die Kunst der Geiselhaft ganzer Staaten perfekt. Die Grossbanken kann man in etwas mit einem Sir Francis Drake gleichsetzen, dem Pirat der Königin, daneben gibt es noch die unkontrollierbaren Piraten wie die ganzen Hedge Funds und andere Schattenbanken.
    Maggie Thatcher hat 1986 doch das zweite grosse Zeitalter der Piraterie eingeläutet mit dem Big Bang und so marodiert das Grosskapital über die Weltmeere und die Kontinente wie der fliegende Holländer dazumal. Ihre eroberten Beute wird auf Schatzinseln wie den Cayman Inseln, den Kanalinseln und weiteren gebracht. Nur wenn ein Pirat den Ehrenkodex massivst verletzt, wird er auf ewig im Kerker verlocht, wie der Freibeuter Bernie Madoff erfahren musste.

    Nichts neues unter der Sonne….

    • Thomas Meier sagt:

      Wow, wie genial ihr Vergleich mit den Banker und den Piraten ist. Da gibt es so viele reale Gemeinsamkeiten. Auch die Idee alle Banker als Krimineller zu beschimpfen ist natürlich sehr kreativ und absolut neu. Ausserdem erkennt man durch die Verwendung von Wörtern wie „Schattenbank“ dass Sie extrem viel vom Thema verstehen (Schattenbank gibt es nicht, nur so, es heisst Shadow Banking und eine Bank ist nicht das Gleiche wie Banking…). Auch die Tatsache, dass sie Banken, welche von Staaten gerettet wurden mit Hedge Funds gleichsetzten, welche nicht nur die Lügen der Politiker aufgedeckt haben, sondern auch keinerlei Hilfe benötigten, ist absolut einleuchtend. Es macht auch Sinn, dass sie alles was nicht vollständig reguliert ist, als böse betrachten. Ihrer Logik folgend, sind die meisten KMUs folglich böse, was mir völlig einleuchtet und jedem klar ist. Allgemein finde ich es lobenswert, dass sie die Welt in einem schwarz/weiss Bild darstellen und blind ihren religiös, sozialistischen Ansichten folgen, da ich wissenschaftliche und sachliche Argumentationen ohnehin immer als eine unnötige Anstrengung empfunden habe.

      • Marcel Senn sagt:

        Meier: Da Sie sich als Banker (wie ich aus Ihren sonstigen Kommentaren entnehme) auf den Schlips getreten fühlen und dieses mittlerweile doch sehr kranke und perverse System verteidigen, ist ja verständlich, zumal Sie ja von diesem Treiben profitieren.
        Und die Mär von den edlen Hedge Fonds, die die Fehler der Politiker aufdecken – mir kommen ja fast die Tränen – zumindest der Kollaps LTCM 1998 hat die Welt doch in eine mittelschwere Krise geritten hat.

        Ich frage mich einfach, wieso Ihr ach so „edlen“ Banker regelmässig zu horrend hohen Geldbussen verurteilt werdet für Hypothekenbetrug, Liborbetrug, Strompreisbetrug, Betrug an Kunden….usw usw dabei kommt ja nur die Spitze des Eisberges überhaupt ans Tageslicht.

        PS: Ich habe früher auch mal in der Finanzbranche gearbeitet, habe mehrmals Banken in der Financial Mile in London besucht, dazu unter anderen den dazumals grössten Hedge Fund der Welt – GLG, wo wir Kunde waren, mich mit Berechnungen von Derivatkonstrukten und Hedge Fund Strategien auseinandergesetzt und mich in meiner Freizeit mit den grossen Finanzkrisen (praktisch aller durch Bankster und manipulativer Spekulation verursacht) und deren schmerzlichen Folgen für die Realwirtschaft beschäftigt.

        Ihr ach so toller Mickey-Mouse Kapitalismus ist etwas vom übelsten seit Hitler und Stalin – und der Vergleich mit Piraten daher sehr treffend. Aber treibt es nur noch weiter so doll und von einer unermesslichen Gier getrieben, dann landet ihr umso schneller auf dem Müllhaufen der Geschichte, das ist die einzige nachhaltige Lösung.

      • ast sagt:

        Im Ausland werden manchmal die Schweizer mit Piraten verglichen, manchmal auch als Gnomen dargestellt 😉 , auf jeden Fall wäre es zu überlegen die Schweizer Staatsflagge schwarz zu halten, mit rotem Totenkopf.

  • Stefan Meier sagt:

    Was Sie meinen, war das sogenannte Peilauge. Man muss beim Sextanten in die Sonne blicken und hatte als Lichtdämpfer russgeschwärtztes Glas verwendet, das aber das UV-Licht hindurchliess und somit deren Augen schädigte. Das Peilauge war eine Berufskrankheit. Die Augenklappe hat nix zu tun damit, denn die Kapitäne der Handels- und Kriegsmarine mussten ja auch navigieren, hatten aber KEINE Augenklappe.

    • Anh Toan sagt:

      @Stefan Meier: „… denn die Kapitäne der Handels- und Kriegsmarine mussten ja auch navigieren, hatten aber KEINE Augenklappe.“

      Wenn das so gewesen wäre, was ich bezweifle (im Klischee des Piraten und der Seefahrer ist es so), würde damit nur gezeigt, dass gerade auf Piratenschiffen der Autoritätserhalt durcjh Wissensmonopolisierung wichtig war.

      Das Hauptproblem war, dass man damals direkt in die Sonne sah, während man später lernte, dies Spiegelverkehrt (mit reduziertem Lichteinfall) mit dem Rücken zur Sonne zu tun.

  • Anh Toan sagt:

    Ein wesentlicher Punkt, welche die hierarchische Ordnung auf Schiffen garantierte, war die Bildung: Nur, wenige konnten in der Blütezeit der Piraterie lesen und rechnen, dies war aber unabdingbare Voraussetzung für die Navigation: Das entsprechende Wissen wurde nicht weitervermittelt, sondern monopolisiert, zwecks Aufrechterhaltung der Macht. Die Darstellung der Kapitäne mit Augenklappe kommt daher, dass beim Messen der Sonnenhöhe über dem Horizont (Sextant zur Bestimmung der Längenposition) in die Sonne geblickt werden muss. Warum wurde diese für das Augenlicht überaus gefährliche Tätigkeit nicht delegiert?

    Primär ging es bei der Führung von Schiffen nicht um Charisma, sondern die Fähigkeit mit Sextant, Karten, Kompass, Sternenhimmel und Gezeitenberechnungen umzugehen. Wer dies verstand, war gut beraten, das Wissen für sich zu behalten, dies garantierte sein Überleben.

    Schiffe und Demokratie geht nicht: Ein Schiff muss wie eine Einheit funktionieren, damit es funktionieren kann. Ein MItglied der Schiffsbesatzung wird „Hand“ genannt, es wird Teil eines Organismus, der vom Kopf (Kapitän) gesteuert wird, und bedingungslos wie eine Hand den Instruktionen des Kopfes folgt: Ansonsten spielt sich auf einem Schiff in Stressituationen etwa ab, was Otto Waalkes in „der menschliche Körper“ beschreibt:

    Grosshirn an Blutdruck: „Steigen!“
    Blutfdruck an Grosshirn: „gestiegen“
    Leber an Grosshirn: „Wo bleibt der Alkohol? Hab nix zu tun hier!“
    Grosshirn an Faust: „ballen!“
    Milz an Grosshirn: „soll ich mich auch ballen?“
    „Schnauze!“
    Milz an Auge: „Ich sehe was, was Du nicht siehst!“
    Auge an Milz: „Sad glaubst Du wohl selbst nicht, Du blinde Nuss“
    Grosshirn. „Alles hört auf mein Kommando, ist das klar?“
    „Nee, keine Lust“
    „Milz, sei still, sonst fliegste raus!“
    Grosshirn an Faust: „Zuschlagen!“
    Faust an Grosshirn: „Ich trau mich nicht!“
    „Feigling, Feigling!“

  • Eddie D. sagt:

    Ich bin damit nicht einverstanden. Die Gründe liegen liegen aus meiner Sicht eher hier:
    Wer zusammen kämpft, verbrüdert sich. Das sieht man auch in modernen Armeen, die Dienstgrad nur in der Kaserne kennen und auf dem Schlachtfeld immer wie weniger einer Rolle spielt, umso länger die Truppe zusammen kämpft. Andererseits waren Piraten die Ausgestossenen der Gesellschaft. Das führt dazu, dass sie sich als Gleichgesinnte fühlen, unabhänig der Hautfarbe oder sonst was. Alles in allem führt das dann eben zu einem demokratischen Bild, obwohl es noch immer Dienstgrad gibt und noch immer charismatische Führer und eher unterwürfige Leute gibt. Eine Rockband ist vergleichbar – hat ein Leader, der sagt, wo es lang geht, aber die Truppe hat auch was zu sagen…

    • Anh Toan sagt:

      @Eddie D:

      Tritt die Rockband 3 Stunden verspätet auf, weil der Drummer noch ein paar Groupies vernascht, ist das gut fürs Geschäft (je länger die Zuschauer gewartet haben, unmso weniger wollen sie sich nachher eingestehen, das das Konzert das Warten nicht wert war).

      Läuft auf einem Segelschiff, ein einziges Manöver nicht wie geplant, weil eine „Hand“ nur ein paar Sekunden „pennt“, ist dies häufig das Ende vom Geschäft.

      Naive Träumereien über Ganovenromantik!

      Auf einem Schiff müssen nützliche Hierarchien festgelegt werden, anhand nützlicher Kenntnisse oder Fähigkeiten: Man war Monate-, teilweise Jahrelang völlig abgeschnitten von jeder Information oder Hilfe von aussen, alle Probleme (Medizin, Nahrung, Reparaturen (Segel, Seile, Holzarbeiten)) mussten mit den sich an Bord befindlichen Ressourcen gelöst werden. Die Hierarchien entstanden auf Grund von benötigten Fähigkeiten, auf Hautfarben konnte dabei wohl nicht Rücksicht genommen werden. Wer über keine dringend benötigten Fähigkeiten verfügte, hatte unter Räubern, Mördern und anderen Subjekten, die nichts mehr ausser das nackte Leben zu verlieren hatten, wohl einen schweren Stand.

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