Das Zeitnahme-Theater bei den Weltcuprennen in Crans-Montana ist peinlich. Peinlich im Jahr 2019 und besonders peinlich für das Land der Uhrmacher. Wir sind ja nicht Nordkorea. Aber Pannen kommen vor.
Blenden wir 29 Jahre zurück. WM-Endrunde in Italien. Europa steht unter dem Hooligan-Schock, und die Fifa verbannt Englands Nationalmannschaft für die Vorrunde nach Sardinien. Die italienische Regierung erlässt während der Spieltage ein völlig überrissenes Alkoholverbot über das ganze Land, das erstaunlicherweise weitgehend eingehalten wird. Der gebotene Fussball ist ziemlich trostlos, aber das italienische Wetter und die gute Stimmung sorgen für eine schöne WM. Die Zuschauer stehen im Bann von grossartigen Spielern wie Diego Maradona, Roberto Baggio und Lothar Matthäus, alle im Zenit ihres Könnens. «Un’ estate italiana», der schönste WM-Song aller Zeiten mit Gianna Nannini und Edoardo Bennato, klingt in allen Radios und Stadien.
Italia 90 ist die erste WM mit mobilen Telefonen, schwere, unförmige Dinger, aber sie funktionieren. Ich stehe in Neapel am Spielfeldrand und rufe spasseshalber einen Freund an, der in Baden am Bildschirm sitzt. «Siehst du mich?» – «Ja, ich sehe dich, aber warum zum Teufel spielt ihr noch?» – «Was ist denn los?» – «Ihr spielt schon 8 Minuten zu lang!», schreit der Freund ins Telefon. Ich verstehe gar nichts, denn die Fifa lässt die Matchuhren nach 45 Minuten stoppen, und elektronische Anzeigen gibt es noch nicht. Was ein Videobeweis ist, weiss noch kein Mensch, und auf dem Feld spielen Italien gegen Argentinien. Napolis Maradona gegen den Gastgeber Italien, und dies in Neapel. Niemand schaut auf die Uhr.
Ein Schiedsrichter in Trance – und keiner merkts
Schiedsrichter Michel Vautrot schaut auf die Uhr, aber er merkt nicht, dass sie stillsteht. Der Franzose ist zu dieser Zeit der vielleicht beste seines Fachs und wurde deshalb nicht für den Final, sondern für diesen brisanten Halbfinal aufgeboten. Er ist wie in Trance, völlig absorbiert vom Spiel und den 60’000 Zuschauern im Stadion San Paolo. Er sieht und merkt nicht, dass sein Linienrichter Peter Mikkelsen verzweifelt ständig Zeichen geben will und mit dem Zeigefinger auf seine Uhr tippt. Michel Vautrot lebt sein eigenes Spiel. Irgendwann pfeift er ab, viel zu spät.
Phänomenal war, dass diese unendlich anmutende Überzeit in ganz Italien von niemandem bemerkt wurde, weder von den Zuschauern noch von den Journalisten und schon gar nicht vom Schiedsrichterinspektor. Und zum Glück für Michel Vautrot passiert in dieser Phantomphase nichts, kein Tor, kein umstrittener Entscheid, keine turbulente Szene. In der Garderobe merkt er, dass er auf seiner Uhr die Stopptaste gedrückt und nicht wieder gelöst hat.
Das Spiel endete nach Toren von Toto Schillaci und Claudio Caniggia 1:1, Argentinien gewann das Elfmeterschiessen. Und Michel Vautrot blieb der Tiefpunkt seiner glanzvollen Karriere als Schiedsrichter erspart. Ein Tiefpunkt, der sein Geheimnis blieb.