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Ein teures Geschenk: Kinder mit Spielern von Tottenham Hotspur und West Ham United vor einem Match im Januar 2018. Foto: Getty Images
Es sieht niedlich aus, wenn Knaben und Mädchen Hand in Hand mit den Fussballstars unserer Zeit auf den Rasen laufen. Es ist auch wirklich ein sympathischer Akt, dass vor dem Anpfiff Kinder die Gelegenheit erhalten, direkten Kontakt mit dem grossen Fussball zu erhalten. Man kann leicht darüber hinwegsehen, dass es sich bei diesem mittlerweile zur guten Gewohnheit gewordenen gemeinsamen Betreten des Rasens auch um eine wohldosierte Werbeaktion der Ausrüster handelt. Das einmalige Erlebnis der Kinder soll über kritischen Hintergedanken stehen.
Das britische Staatsfernsehen BBC hat mit einer Recherche nun allerdings die Idylle zerstört: 11 von 20 Mannschaften verlangen für dieses Einlaufen gewissermassen Kindergeld. Everton vor West Ham und Leicester lautet die unrühmliche Tabellenspitze, wobei Everton für den Einmarsch auf Kinderbeinen 718 Pfund – rund 900 Franken – verlangt. Dieses Geld soll für einen wohltätigen Zweck verwendet werden. Dass ein Erinnerungsfoto, eine Eintrittskarte, ein Autogramm und die Fussballausrüstung dazugehören, macht die Sache nicht besser, zumal Hose, Hemd und Schuhe ohnehin vom Ausrüster zur Verfügung gestellt werden.
Swansea hat nach dem Abstieg das Kindergeld reduziert, würde aber in der Premier League immer noch zur unrühmlichen Spitze zählen. West Ham liess sich zudem einfallen, dass der Preis bei Spielen gegen die besten sechs der Rangliste erhöht wird. Gibt es noch mehr Raffgier?
Zur kleinen Ehrenrettung des Fussballs muss immerhin erwähnt werden, dass die beiden Topvereine aus Manchester sowie Arsenal, Chelsea und Liverpool auf dieses hässliche Sondergeld verzichten. Das tun auch Fulham, Huddersfield, Newcastle und Southampton.
Roberto Rodriguez vom FCZ (Mitte) versuchte es am Sonntag gegen den FC Thun mit einer Schwalbe (siehe Video unten) – und reklamierte sogar noch, als ihn der Schiedsrichter dafür bestrafte. Foto: Keystone, Walter Bieri
Was ist schlimmer als eine Schwalbe? Ein Fussballer, der nach einer Schwalbe auch noch reklamiert.
Zum Beispiel: Roberto Rodriguez. Der Mittelfeldspieler des FC Zürich legte sich im Heimspiel am letzten Sonntag gegen den FC Thun auf besonders perfide Art und Weise hin, ohne jede gegnerische Berührung, einfach so – statt ein Tor zu erzielen, wollte er den Penalty schinden. Ging zum Glück schief: Schiedsrichter Urs Schnyder bestrafte ihn mit einer Verwarnung. Noch unverständlicher, dass Rodriguez diesen Entscheid kaum begreifen mochte.
Die Schwalbe von Roberto Rodriguez im Heimspiel gegen Thun. Video: SRF
Nicht immer sind die Unparteiischen so aufmerksam wie der junge Schnyder. Am gleichen Wochenende spürte in der Premier League Tottenhams Starstürmer Harry Kane in der Schlussphase der Partie gegen Liverpool das Flugwetter – und wurde mit einem Penaltypfiff belohnt. Die Quittung für das unsportliche Verhalten stellte sich Kane dann jedoch gleich selbst aus: Er verschoss den Elfmeter (okay, später avancierte er mit einem zum 2:2 verwandelten weiteren Penalty doch noch zum späten Tottenham-Helden). Liverpools Verteidiger Virgil Van Dijk schäumte nach dem Spiel: «Er ist ein Schwalbenkönig.»
Schwalben entscheiden Spiele
Schwalben sind ein Übel im Fussball und ein Phänomen, das es in dieser Häufigkeit in keiner anderen Sportart gibt. Warum sie nicht auszurotten sind? Weil Schwalben noch immer als Kavaliersdelikt gelten. Eine Gelbe Karte, maximal – mehr haben die Sünder nicht zu befürchten –, und das auch erst seit 1999. Zu gewinnen dafür umso mehr: einen Penalty, vielleicht sogar eine Rote Karte für den Gegner, Schwalben entscheiden Spiele. «Ich habe mich für die Schwalbe entschieden», sagte einst Albion Avdijaj, der GC-Stürmer, nachdem ihn 2015 als Spieler des FC Vaduz die Fernsehbilder enttarnt hatten. Betrug ist unter Fussballern eine Option.
Als sich Albion Avdijaj für eine Schwalbe entschied. Video: SRF
Schwalbenkönige müssen also mehr geächtet werden. Und genau darauf arbeitet die Fan-Initiative «Stop Diving» hin. Das Projekt aus England hat ein Manifest erstellt und will damit nicht nur Fans erreichen, sondern auch aktive Spieler. Die Kernbotschaft: «Wie Athleten in jeder anderen Sportart gehen Fussballer an ihre Leistungsgrenze, um erfolgreich zu sein. Sie trainieren, sie opfern sich auf. Aber nur im Fussball wird auch unehrlich gespielt. Fussball ist der einzige Sport, in dem Unehrlichkeit akzeptiert ist, manchmal sogar belohnt wird.»
Mit ihrer Petition hat sich «Stop Diving» zum Ziel gesetzt, dass schon «die WM 2018 in Russland ganz ohne Schwalben auskommt». Ganz im Gegensatz zur Endrunde 2014 in Brasilien, bei der Arjen Robben im Achtelfinal der Holländer gegen Mexiko eine der spektakulärsten Schwalben in jüngerer Vergangenheit aufführte. Ach, überhaupt: Robben.
Auf der Webseite von «Stop Diving» kann jeder unterschreiben, der solche Unsportlichkeiten vom Fussballplatz verbannt sehen will. Ausserdem werden Interessierte animiert, ihre Lieblingsfussballer mit dem Ansinnen in den sozialen Medien zu kontaktieren und ebenfalls mitzumachen. Der Hashtag: #stopdiving.
Die unsportliche Aktion von Harry Kane gegen Liverpool. Video: Youtube
Längerfristig regt «Stop Diving» an, eine Datenbank mit Schwalben zu initiieren. So liesse sich dokumentieren, welche Ligen besonders anfällig sind, welche Nationalitäten, welche Spieler auf welchen Positionen. Ist dieser Datensatz erst gross genug, sei die Fussballgemeinde sensibilisiert – und sind es auch die Schiedsrichter. «Und dann können die Verantwortlichen konkrete Massnahmen einleiten», hofft die Fan-Initiative.
Bereits aktiv geworden ist die Premier League: Seit dieser Saison können Schwalben nachträglich mit Spielsperren sanktioniert werden, wenn sie einen Penalty oder Platzverweis zur Folge hatten. Müssen aber nicht: Der englische Fussballverband FA sah davon ab, gegen den Nationalspieler ein Verfahren einzuleiten.
Noch schlimmer: Kanes Trainer bei Tottenham, Mauricio Pochettino, rechtfertigte die Schwalbe seines Torjägers auch noch. Der Argentinier sagte, dem Vernehmen nach bei vollem Bewusstsein: «Im Fussball geht es nun einmal darum, den Gegner auszutricksen. Vor 20 oder 30 Jahren hätten wir alle einem Spieler gratuliert, wenn er den Schiedsrichter so übertölpelt.»
Der ewige Albtraum der Berner: Valentin Stocker erzielt für die Basler das 0:1 gegen YBs Torhüter Marco Wölfli, 2010. Foto: Peter Klaunzer (Keystone)
Schnell nochmals auf die Tabelle geschaut. Doch, doch, die Young Boys liegen laut der offiziellen Website der Liga noch immer zwei Punkte vor dem FC Basel. Aber fühlt es sich nicht an, als hätten die Berner plötzlich drei Punkte Rückstand?
Ein paar Tage bloss sind vergangen, seit sich die Basler Führungscrew aus ihren diversen Walliser Ferienorten zurückgemeldet hat am Arbeitsplatz. Doch in der kurzen Zeit hat der Serienmeister schnell mal seine Muskeln spielen lassen. Fabian Frei zurück, Valentin Stocker zurück. Das Signal nach Bern könnte klarer nicht sein. Die Berner werden richtig beissen müssen, wollen sie Meister werden.
Vor allem Stockers Rückkehr hat mehr als eine sportliche Bedeutung. Möglich, dass er nach einem halben Jahr ohne Spielpraxis nicht sofort eine Verstärkung sein wird. Und seine Nähe zu Sportchef Marco Streller könnte gar zum Problem werden. Viel wichtiger aber: Seine Verpflichtung trifft die Nerven in Basel und Bern.
Der schnüsige Vali
Im St.-Jakob-Park wird Stocker wohl immer der schnüsige Vali sein. Als unbekümmerter Teenager hat er die Leute im Sturm erobert – und sie danach nie mehr losgelassen. Dieser Einsatz, dieser Hundeblick, dieser unschuldige Sex-Appeal! Und natürlich: die Treffer, die Assists, diese Momente, in denen er den Ball schon verloren zu haben scheint – und ihn dann doch irgendwie ins Tor stockert.
Haben Sie dagegen schon mal gehört, was die Menschen im Stade de Suisse so zu erzählen (oder zu brüllen) haben, wenn Stocker zu Besuch ist? Im Vergleich dazu wirkt die Verabschiedung von Haris Seferovic bei seiner Auswechslung gegen Nordirland wie eine Liebesbekundung des Publikums. Sagen wir, die Berner Einschätzungen zu Stocker pendeln sich im Normalfall im Raum zwischen Gürtellinie und Kniehöhe ein. Dieser Giftzwerg, dieser scheinheilige Milchbubi mit seinen fies gestreckten Beinen, der seinerseits bei der geringsten Berührung wie vom Blitz getroffen zusammensackt! Und natürlich: die Treffer, die Assists – alle immer irgendwie gegen YB gerichtet.
Und Basel ist Meister
Nun mag die Ausdrucksweise diskutabel sein. Aber grundsätzlich beweist das Berner Publikum einen feinen Sinn für die drohende Gefahr, die von Stocker ausgeht. Er ist so etwas wie der Endgegner, an dem die Berner bislang immer gescheitert sind. Stocker, die YB-Nemesis, der ultimative Gegenspieler, der Erzrivale, der Todesengel aller Berner Meisterträume.
Mai 2008, erste Finalissima zwischen Basel und Bern. 38’000 Zuschauer im Joggeli. Stocker ist vor kurzem 19 geworden, als ihm in der 13. Minute der Ball im Strafraum vor die Füsse springt. Eine Drehung, ein Schuss zwischen Marco Wölflis Beinen hindurch – 1:0. Zehn Minuten später schüttelt er Hakan Yakin ab, ein Pass auf Streller – 2:0. Basel ist Meister.
Mai 2010, zweite Finalissima zwischen Bern und Basel. 31’210 Zuschauer im Wankdorf. Stocker ist längst Stammspieler, als ihm ein Ball eigentlich schon weggespritzt zu sein scheint. Eine Berührung mit dem Aussenrist, der Ball fliegt über Goalie Wölfli – 0:1. 20 Minuten später flankt Stocker von links, Scott Chipperfield trifft per Kopf – 0:2. Basel ist Meister.
Kein Wunder, schwelgten die Basler gleich nach Stockers Verpflichtung in ersten Fantasien.
Stocker schiesst in der Finalissima in Bern dann das goldene Tor (abseitsverdächtig) in der 87. Minute, nachdem YB 2 Penaltys verwehrt wurden. #rotblaulive
Wenigstens davor muss YB keine Angst haben: Die Liga hat den Spielplan bereits am Saisonstart bekannt gegeben. Bern und Basel treffen in dieser Saison nicht am letzten Spieltag aufeinander.
Andererseits: Kaum ist Stocker zurück, heisst der YB-Goalie wieder … Wölfli.
Orrr … der Fussballgott wieder … 😩
Gestern nur ein bisschen über Steffen/Stocker gelästert – zägg! – geht heute unser Goalie kaputt! #Karma#bscybhttps://t.co/8ViJla1tIv
Christian Andiel am Donnerstag den 8. September 2016
Männerfeindschaft: José Mourinho (links) und Pep Guardiola beim Cup-Viertelfinal Real – Barcelona im Januar 2012. Foto: Keystone
Geben sie sich die Hand? Schauen sie einander in die Augen? Am Samstag zur Mittagszeit ist es so weit, in Manchester treffen José Mourinho und Pep Guardiola erstmals nach mehr als vier Jahren wieder aufeinander. High Noon ist um 13.30 Uhr zwar grade durch, aber es wird ein Duell, das die eh schon aufgeladene Atmosphäre in der Premier League ein erstes Mal so richtig zum Kochen bringt.
Mourinho und Guardiola sind sich gegenseitig in tiefster Abneigung zugetan, dabei arbeiteten sie einst vier Jahre in Barcelona zusammen: Guardiola als Captain, Mourinho als Assistent der Chefcoachs Bobby Robson und Louis van Gaal. Es ist das Duell zweier Männer mit überbordendem Ego und manchmal schon furchterregenden Rattenfänger-Mentalitäten. Und es ist das Duell zweier komplett unterschiedlicher Systeme: Guardiolas Ballbesitz-Fussball gegen Mourinhos Abwarte- und Kontertaktik.
Jetzt stehen sie sich nach Champions League und Primera División erstmals in der Premier League gegenüber. Guardiola wird gerne an den ersten Clásico denken, als er im November 2010 mit Barça Mourinhos Real beim 5:0 demütigte. Mourinho vor allem an das 3:1 mit Inter im Halbfinal der Champions League im April 2010. Barcelona hatte wegen des Vulkanausbruchs auf Island die Reise nach Italien im Bus zurücklegen müssen, nach dem 1:0 im Hinspiel erklärte Guardiola die Niederlage mit diesen Strapazen. Mourinho hat ihm diese «Ausrede» nie verziehen, er fühlte sich im Stolz nach einem starken Auftritt seiner Mannschaft tief verletzt.
Es geht wieder los, und das im «Theatre of Dreams» der United. Beide bislang ohne Verlustpunkt, beide mit der optimalen Ausbeute nach drei Partien. «Game of Thrones» titelte der «Observer» am Sonntag in seiner Vorschau auf die Partie. Und erinnerte an das 6:1 der City vor fünf Jahren beim Spiel im Old Trafford. Es war die schlimmste Heimpleite für ManU nach mehr als einem halben Jahrhundert.
Christian Andiel am Donnerstag den 11. August 2016
Dich ignorier ich nicht einmal! Pep Guardiola (links) und José Mourinho während ihrer gemeinsamen Zeit in Spanien. Foto: Reuters
Das muss Pep Guardiola fertigmachen. Gleich das erste Duell mit seinem Intimfeind José Mourinho verliert der stolze Katalane. Knapp, aber verloren ist verloren. Dabei sah Guardiola im ersten Moment wie der Sieger aus: 190,1 Millionen Euro warf sein Club Manchester City für neue Spieler auf den Markt, und damit 5,1 Millionen mehr als Lokalrivale Manchester United. Haben die Besitzer von ManU ihren neuen Coach Mourinho also weniger lieb, ist er ihnen weniger teuer? Falsch, wie der zweite Blick aufdeckt: ManU hat keinen Cent eingenommen, also eine Transferbilanz von eben diesen 185 Millionen Euro. Manchester City aber hat die Herren Dzeko, Rulli und Lejeune für insgesamt 19,5 Millionen verkauft, damit sinkt die Transferbilanz auf jämmerliche 170,6 Millionen Euro. Es ist eine Schande, wird sich Guardiola sagen, bereut er möglicherweise schon den Wechsel zu diesen Geizkragen?
Natürlich spinnt die Premier League. Und das Transferfenster schliesst erst Ende August, man darf noch einiges erwarten, wenn Mourinho und ManU schon bereit sind, für einen Paul Pogba 105 Millionen Euro zu bezahlen: In den Jahren 2014/15 (1,2 Milliarden) und 2015/16 (1,4 Milliarden) wurde die Milliarden-Grenze überschritten, da wird man doch noch jemanden finden, mit dem man sein Team aufpeppen kann? Einen mittelmässig begabten deutschen Linksverteidiger vielleicht oder einen vielfachen Internationalen, den man als dritten Goalie engagieren kann, zur Not einen schicken Greenkeeper? Guardiola kann also weiter hoffen, dass sein Club ihm noch den einen oder anderen überteuerten Wunsch von den Augen abliest.
Aber klar ist trotzdem: Die Vorfreude auf diese Saison inmitten des englischen Wahnsinns ist riesig. Allein was sich da an Coaches bei Titelanwärtern messen: Guardiola und Mourinho, Klopp (Liverpool), Conte (Chelsea) und Wenger (Arsenal). Oder können Ranieri (Leicester) und Pochettino (Tottenham) mit weniger Mitteln, aber mehr Ideen, besserer Taktik, grösserer Leidenschaft und Teamgeist die Grossen wieder ärgern, wie es Leicester als Meister vorbildlich gezeigt hat?
Der Zirkus startet am Sonntag mit Arsenal – Liverpool, und schon am 4. Spieltag (10. September) ist High Noon: Manchester United empfängt Manchester City. Der «Guardian» witzelte schon darüber, dass Spanien fast zu klein war für die Egos von Guardiola und Mourinho, als der eine bei Barcelona, der andere bei Real arbeitete. Und nun müssen sich beide das vergleichsweise kleine Manchester teilen, quasi Tür an Tür mit dem jeweiligen Grölef (grösster lebender Feind). Man stelle sich das vor, beide kaufen gleichzeitig im selben Biomarkt ein, und Mourinho schnappt sich die letzte reife Avocado, er knurrt: «In dieser Stadt ist kein Platz für uns beide», im Hintergrund erklingt die Mundharmonika, die Sporen klirren… ach, endlich wieder Fussball!
Zwei, die sich achten und die der Fussballfan liebt: Mauricio Pochettino (links) und Claudio Ranieri führen Tottenham und Leicester an die Spitze der Premier League. Foto: Reuters
Der Showdown findet im Emirates statt. Am Sonntag empfängt Arsenal Leicester zum vorentscheidenden Spiel um die englische Meisterschaft. Arsenal-Leicester? Vor einem Jahr wäre das noch die Partie Titelanwärter gegen Abstiegskandidat gewesen. Jetzt ist es der Herausforderer gegen den Favoriten. Und der Favorit heisst Leicester.
Es wäre eine der grösseren Sensationen in der Geschichte des englischen Fussballs, sollte der Titel tatsächlich in die East Midlands gehen. Aber wer will dieses Team schlagen, dachte man endgültig nach dem 3:1 bei Manchester City. Und Leicester ist nicht das einzige Phänomen-Team in der Premier League, auf Platz 2 folgen die Tottenham Hotspurs. Die sinnigerweise am Sonntag auf eben jenes Manchester City treffen und der lachende Dritte an diesem grossartigen Spieltag sein könnten.
Wer hätte gedacht, dass uns ausgerechnet diese restlos überbezahlte, zunehmend seelenlose Liga, diese verhängnisvolle Mischung aus milliardenschweren Clubbesitzern und utopisch lukrativen TV-Verträgen den Glauben an das Gute im Fussball am Leben mit erhält?
Denn was ist dieses Phänomen anderes als der Beweis, dass Geld zwar Tore schiesst, aber nicht allein den Erfolg ausmacht. Nach dem geradezu atemberaubenden Auftritt in Manchester sagte TV-Experte Alan Shearer auf BBC: «Leicester gab Man City eine Lektion in Leidenschaft, Hunger, Entschlossenheit, es war eine Lektion in der Frage, wie man Fussballspiele gewinnt.» Shearer sagte dies so gnadenlos, wie der Leader in der ewigen Torschützenliste der Premier League einst die Bälle versenkte.
Leidenschaft, Hunger, Entschlossenheit lassen sich also offenbar nicht kaufen. Die elf Leicester-Spieler in der Startformation beim 3:1 am vergangenen Sonntag hatten 22,5 Millionen Pfund gekostet. Insgesamt. Einer davon ist ein eher ungelenker deutscher Abräumer in der Innenverteidigung, der gerne auch mal den Ellbogen rustikal durch die Gegend schwenkt. Aber genau dieser Robert Huth traf zweimal, dabei sah City-Verteidiger Martin Demichelis beide Male derart jämmerlich aus, wie man ihn von schlechtesten Zeiten bei Bayern kannte. Man fragte sich wieder: Was machen die Clubs eigentlich mit den Millionen, die man ihnen Jahr für Jahr hinterherwirft?
Typisch Leicester: Jamie Vardys unglaubliches Tor gegen Liverpool. Quelle: ZEystarn/Youtube
Vielleicht holen sie die falschen Trainer. Und damit sind wir beim schönsten Punkt, wenn es um Leicester und Tottenham geht: Beide werden von ruhigen, zurückhaltenden Vertretern ihrer Zunft geleitet. Der Italiener Claudio Ranieri hat eine schöne Vergangenheit bei namhaften Clubs, wirklich aufgefallen ist er nicht. Und als Nationalcoach in Griechenland ist er so grandios gescheitert, dass Englands Legende Gary Lineker bei der Verpflichtung durch Leicester hämisch twitterte: «Claudio Ranieri? Really?» Inzwischen hat Lineker Ranieri auf dem gleichen Kanal seine Liebe erklärt.
I was wrong and it thrills me to say so. This is why I’m not a pundit. I love Claudio Ranieri! https://t.co/YxWWCo6c6B
Bei Tottenham arbeitet der in der Öffentlichkeit nicht minder gelassene Mauricio Pochettino. Der Argentinier überzeugt als gewiefter Taktiker wie sein Kollege in Leicester. Beide lieben den Fussball mehr als sich selbst. Pochettino wird mittlerweile als grosser Favorit bei Manchester United auf die Nachfolge von Louis van Gaal gehandelt. Wie würde das den stolzen Holländer ins Herz treffen, wenn einer wie Pochettino ihn ersetzt? Was wäre es erst für eine Schmach für José Mourinho, wenn der kleine Argentinier statt ihm das grosse ManU führen dürfte?
Pochettino könnte ManU. Das ist klar. Aber wie wäre es andersherum? Und das ist doch eine interessante Frage: All die selbst- oder fremdernannten Gurus wie Mourinho, van Gaal, Pep Guardiola – die sich selbst so viel wichtiger nehmen als das Spiel, als die Spieler? Könnten sie Tottenham oder Leicester? Könnten sie also erfolgreich sein, ohne dass sie mit Millionen um sich werfen dürfen, bis ein Team beisammen ist, mit dem der Erfolg praktisch garantiert ist?
Christian Andiel am Donnerstag den 8. Oktober 2015
So kennt man Jürgen Klopp aus Dortmund, so möchten ihn nun die Liverpool-Fans erleben – nur in anderen Farben. Foto: Reuters
Geht jetzt alles ganz schnell? Für die englischen Medien ist nur noch die Frage offen, wann Jürgen Klopp als Trainer des FC Liverpool vorgestellt wird. Die Versuchung, an legendärer Stätte für Furore zu sorgen, ist für den 48-Jährigen offenbar doch zu gross. Das angestrebte Sabbatjahr nach grossen, aber auch aufreibenden Jahren in Dortmund findet schon nach drei Monaten ein Ende.
Laut «Mirror» sind die Gespräche mit Klopp bereits so weit fortgeschritten, dass er den Clubbossen signalisiert habe, er wolle im nächsten Transferfenster im Januar keine dramatischen Nachbesserungen im Kader. Die Rede ist von einem Dreijahresvertrag mit Option auf Verlängerung.
Klopp also mittendrin im Zirkus Premier League, ein neuer Gegenspieler für José Mourinho, ein weiterer Player im Milliardenspiel. Kann das gut gehen? Danny Murphy, langjähriger Spieler bei den Reds, hat starke Zweifel, er hätte dem routinierten Carlo Ancelotti den Vorzug gegeben, «Klopp hatte bislang nur bei einem Club Erfolg, und das über sehr kurze Zeit». Auch der «Mirror» empfiehlt Klopp schwer, einen Premier-League-erfahrenen Coach als Assistenten zu bestellen.
Klar, der Stil, den Klopp pflegt, wird in Liverpool ankommen. Dieses leicht Wahnsinnige, Schnelle, fast schon Anarchische, das den Fussball bei der Borussia in ihren besten Zeiten auszeichnete, wird die Zuschauer begeistern. Aber kann Klopp diesen Stil in der Premier League durchziehen, in der Liga, die im Winter keine Erholungspause kennt, die ihre Spieler derart auslaugt, dass sie regelmässig bei grossen Turnieren im Sommer kein Bein mehr vors andere bekommen? Dass die Mehrheit der Fans ihn gegenüber Ancelotti bevorzugt, muss nichts heissen. Sie sind in Liverpool nicht schlauer als anderswo: Wenn es gut geht, war ihnen das eh klar, wenn nicht, findet sich keiner, der einst wirklich für diesen «crazy German» war.
Ein anderer Punkt dürfte entscheidender sein: Im «Guardian» wird Klopps Wirkung auf Menschen fast schon wie die eines Sektenführers beschrieben, er kann andere mitreissen, überzeugen. Die englische Zeitung benutzte dafür den Begriff «Menschenfänger», und sie schrieben ihn auf Deutsch. Kann er diese Wirkung, die er ja auch auf die Spieler ausüben muss, um letztlich erfolgreich zu sein, auch in einer fremden Sprache erzielen?
Und schliesslich: Klopp ist es gewohnt, bei wichtigen Fragen rund um die Personalpolitik die letzte Entscheidung zu haben. In Liverpool wurde mit Einsetzung des nun entlassenen Brendan Rodgers eine fünfköpfige Transferkommission ins Leben gerufen, in der Rodgers nur eine Stimme war. Man kann davon ausgehen, dass sich Klopp dieses Gebilde genau anschauen wird. Es ist schwer vorstellbar, dass er dazu bereit ist, vier anderen die letzte Entscheidung über Neuverpflichtungen zu überlassen. Klopp selbst soll schon gesagt haben, er habe mit diesem Gremium kein Problem. Aber er hatte es in seiner Karriere auch noch nie mit derart reichen Clubbesitzern zu tun wie in Liverpool.
Rodgers hat nach seinem letzten Spiel und kurz vor seiner Entlassung gewarnt, um wieder Grosses erleben zu dürfen, müsse beim FC Liverpool erst etwas aufgebaut werden, das brauche Zeit, «egal, ob von mir oder einem anderen Trainer». Klopp kann das. Er muss nur die Zeit dafür erhalten.
Links: Ancillo Canepa und sein neuer Trainer Sami Hyypiä. Rechts: Peter Crouch und Jockey Nathan Alison.
Aus gegebenem Anlass. «Vielleicht sollte ich nicht neben Jockeys stehen», witzelte Stoke-Stürmer Peter Crouch, als er das Bild mit Jockey Nathan Alison twitterte (r.). Vom neuen FCZ-Trainer Sami Hyypiä ist noch keine ähnliche Aussage betreffend seines Präsidenten Ancillo Canepa überliefert.
Manchester United mag auf eine enttäuschende jüngste Vergangenheit zurückblicken: Kein Titel in den letzten beiden Jahren, nur Rang 4 in der abgeschlossenen Meisterschaft. In wirtschaftlicher Hinsicht gelang dem Verein aus der Premier League allerdings ein gewaltiger Sprung – ManU ist der erste Club, der seinen Markenwert auf mehr als eine Milliarde Dollar steigern konnte, genau sind es 1,206 Milliarden (etwa 1,1 Milliarden Franken).
Das englische Unternehmen Brand Finance erstellt alljährlich verschiedene Statistiken zum Markenwert von Unternehmen, jüngst wurde die neueste Top-50-Rangliste im internationalen Fussball veröffentlicht. Manchester United (im Vorjahr auf Rang 3) hat im vergangenen Jahr Bayern München als Leader abgelöst, die Münchner belegen mit einem Markenwert von 933 Millionen Dollar den zweiten Platz.
Man sieht anhand dieser Entwicklung, dass der von Brand Finance ermittelte Wert nicht nur mit dem sportlichen Erfolg verbunden ist. Noch deutlicher belegt dies die Entwicklung von Barcelona: Die Spanier gewannen zwar als erster Club zum zweiten Mal das Triple aus Champions League, heimischem Cup und Meisterschaft, aber in der Markenwertrangliste rutschten die Katalanen weiter ab, neu ist Barcelona nur noch Sechster, überholt von Manchester City und Chelsea.
Beim Markenwert geht es neben Siegen und Pokalen vor allem um die Möglichkeiten der internationalen Vermarktung, der weltweiten Präsenz der Marke. «Marktwert» und «Markenwert» sind für Ökonomen nicht das Gleiche: Der Marktwert ist für die Berater von Schmid Preissler der «aktuelle Wert eines Wirtschaftsgutes». Der Markenwert hingegen umfasst ungleich mehr: «Der Wert einer Marke wird entscheidend durch ihre immateriellen Werte geprägt, die ihren Ursprung in den sieben Elementen Herkunft, Geschichte, Profil, Positionierung, Image, Bekanntheit und Schutz haben.»
Und in wirtschaftlicher Hinsicht gibt es für David Heigh, CEO von Brand Finance, einen wahren Künstler: «Ed Woodward, Finanzchef von ManU, ist der Cristiano Ronaldo der kommerziellen Bühne.» 74 Millionen Dollar zahlt Chevrolet als Trikotsponsor im Jahr, damit wurde der Betrag, den AON entrichtet hatte, verdoppelt. Deutlich wird die Diskrepanz, wenn man die Verträge von Adidas mit Bayern und ManU vergleicht: Die Deutschen bekommen knapp eine Milliarde Dollar für die nächsten 15 Jahre, das sind umgerechnet 67 Millionen im Jahr. ManU erhält vom bayrischen Sportausrüster 1,1 Milliarden – aber für 10 Jahre, und damit hat Manchester United allein aus diesem Deal Jahr für Jahr 43 Millionen Dollar mehr zur Verfügung als der FC Bayern.
Neben den Sponsoringverträgen und der einzigartigen weltweiten Präsenz half ManU der neue TV-Vertrag mit der Premier League zum Quantensprung beim Marktwert. 3,2 Milliarden bringt der Megadeal den Clubs der höchsten englischen Liga pro Jahr, das ist viermal mehr als die Bundesligaclubs zuletzt aushandeln konnten. Das erklärt auch den hohen Anteil von englischen Clubs unter den Top 50 von Brand Finance: 17 Teams haben den neuen TV-Deal genutzt, dahinter folgen neun deutsche und fünf spanische Vereine. Die extreme Euro-Zentrierung des Fussballs dokumentiert die Markenwerte-Rangliste ebenfalls: Gerade mal zwei der Top-50-Vereine sind nicht aus Europa, sie spielen in Brasilien (São Paulo als 43. und Corinthians als 48.).
Schweizer Clubs (gemeint ist in dieser Hinsicht natürlich der FC Basel) kommen in der Aufstellung nicht vor. Und der FC Bayern kann sich trotz des Rückfalls auf Rang 2 in der Rangliste trösten: Offenbar setzen die Münchner ihre vergleichsweise wenigen Mittel doch wesentlich geschickter ein.
Zwei Persönlichkeiten, ein Job: Die Captains Chikhaoui (l.) und Gerrard. Fotos: Keystone
Ist Liverpools Steven Gerrard der bessere Captain als Zürichs Yassine Chikhaoui?
Es muss doch so sein! Gerrard suchte die Mikrofone, nachdem er im Match gegen Manchester United nach 40 Einsatzsekunden vom Platz geflogen war. Er entschuldigte sich für seine Dummheit bei der Mannschaft. Bei den Mitspielern. Bei den Zuschauern. FCZ-Spieler Chikhaoui tat nach seinem Platzverweis beim 0:3 gegen YB, was er öffentlich am liebsten immer tun würde. Er schwieg.
Ist Yassine Chikhaoui ein guter Captain? Der richtige Captain? Darf einer wie er überhaupt Captain werden, sein, jetzt bleiben? Ein missratener Nachmittag hat genügt, um Fragen auszulösen – sie sind schon fast reflexartig gekommen. Und der «Blick» hat sie schnell beantwortet: Chikhaoui sei ein Schönwetter-Captain und für diese Rolle zu sensibel, empfindlich, emotional und dünnhäutig.
Niemand, der den Fussball versteht, käme auf die Idee, Gerrard wegen einer Sekundbruchteil-Dämlichkeit als Captain infrage zu stellen. Das ist bei Chikhaoui anders. Er hat nicht die natürliche Autorität, die Gerrard schon kraft seiner Liverpooler Kindheit, seiner Leistungen, seiner Loyalität hat. Und vor allem: Chikhaoui polarisiert. Mit seinem Geist, mit seinen Bewegungen, mit seinen Aktionen und Reaktionen. Chikhaoui ist in der Aussensicht: schwarz oder weiss. Gut oder böse. Glücklich oder zornig. Klug oder blöd. Genial oder miserabel. Er ist erster Held im Sieg – wie im Herbst. Oder erster Schuldiger in der Niederlage, wie gerade jetzt. Mit seinen vielen Seiten teilt er selbst FCZ-Anhänger in Jubler und Stänkerer.
Ist Chikhaoui ein guter Captain? Die Frage darf gestellt werden. Immer. Und deshalb auch jetzt, in diesen sportlich schwierigen Tagen für ihn und den FCZ.
Ein guter Captain ist Verbindung zwischen Trainer und Mannschaft, zwischen Mannschaft und Präsidium. Ein guter Captain spürt und führt, er integriert und deeskaliert. Ein guter Captain löscht schon, bevor es brennt, ist dort zart und hier hart. Ein guter Captain stellt die Mannschaft ins Zentrum und tut vieles im Verborgenen. Ein guter Captain stellt sich auch der Öffentlichkeit – nach guten und schlechten 90 Minuten.
Die Abneigung gegenüber Medien ist eine Schwäche des Tunesiers, aber für sich alleine so wenig entscheidend wie seine aufbrausende Reaktion mit Schienbeintritt, Ohrenziehen und Ohrfeige, nachdem ihm Steffen mutmasslich absichtlich in den Unterleib gegriffen hat. Chikhaoui deswegen als Captain infrage zu stellen oder gar abzusetzen – es wäre ein fatales Signal. Weil schwierige Phasen zum Reifeprozess gehören. Weil der Club zu seinem Captain stehen muss, wie der Captain zu seinem Club steht. Gerade jetzt, in diesen schon unruhigen Tagen.
Von Challenge League bis Champions League. Von Gotti Dienst bis Howie Webb. Vom Anspielkreis bis in die Katakomben. Von Neururer bis van Gaal. Vom Schützengarten bis zum Aargauerspiess. Von Gygax bis Gashi. Vom Freistossspray bis zum Videobeweis. Vom Comunale bis zum Stade de Suisse.
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