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«Ibra» turmhoch

Oliver Meiler am Mittwoch den 16. März 2016
AC Milan striker Zlatan Ibrahimovic, of Sweden, pose in front of the Eiffel Tower with his jersey, in Paris, Wednesday, July 18, 2012 after signing an agreement with the Paris Saint Germain (PSG) club. Ibrahimovic will be the Ligue 1 club's third major signing of the summer, following the arrivals of former AC Milan teammate Thiago Silva and Napoli's Ezequiel Lavezzi. (AP Photo/Jacques Brinon)

Grösser als der Eiffelturm? Zlatan Ibrahimovic bei seiner Ankunft in Paris. (AP Photo / Jacques Brinon)

Hält er sich tatsächlich für den Grössten, den Besten, den Grossartigsten? Oder kokettiert er nur mit seinem barocken Grössenwahn? Bei Zlatan Ibrahimovic aus dem schwedischen Malmö, und vielleicht ist das die unterhaltsamste Note in seiner Geschichte als vermeintlicher Bad Boy und Megalomane des Fussballs, ist man nie ganz sicher – und lacht dennoch: Ach, der Zlatan wieder! Etwa, wenn er sich mit Gott vergleicht. Das tut er gern und mit ernster Miene, so ist die Wirkung noch etwas grösser. Wir nehmen nun einmal an, dass «Ibra» der Selbstironie fähig ist.

Als man ihn nun nach dem Gewinn der vierten französischen Meisterschaft in Folge, den er seinem Verein Paris Saint-Germain fast im Alleingang schon acht Spiele vor Saisonende bescherte, vor laufenden Kameras fragte, ob er denn seinen Vertrag verlängern werde, sagte er: «Ich denke nicht, dass sie den Eiffelturm durch eine Statue von mir ersetzen können. Das können wahrscheinlich nicht einmal die Bosse des Vereins. Aber sollten sie es dennoch schaffen, dann bleibe ich. Versprochen!» Eine hübsche Pointe war das, für einmal vorgetragen mit einem gelösten, sonoren Lachen.

PSG wird ihn wahrscheinlich nicht halten können, so sehr sich die milliardenschweren Vereinsbesitzer aus Katar auch bemühen sollten, die Angebote aus England mit einigen zusätzlichen Gehaltsmillionen zu kontern: Man spekuliert, Ibrahimovic ziehe es zu Manchester United – raus aus der fussballerischen Provinz, zurück auf die wirklich grosse Bühne. Mit 34 Jahren ist das wahrscheinlich seine letzte Chance. In Paris aber könnten ohne seine Nummern am Ball und ohne seine Sprüche schnell die Lichter ausgehen.

«Ibra» war bisher immer alles in einem gewesen: der überragende Fussballer der Liga, selbst wenn er mal einen weniger guten Tag hatte. Er war die wandelnde Litfasssäule von PSG, der Chefunterhalter mit dem Glamourfaktor eines Popstars, der Alleinvermarkter der Ligue 1. Er war gar der einzige Grund, warum man ausserhalb Frankreichs den französischen Fussball in den vergangenen Jahren überhaupt wahrnahm. Die Franzosen verziehen ihm sogar, dass er ihr Land einmal «ein Scheissland» genannt hatte. Und das will etwas heissen. Kein Wunder, sieht er sich als Alternative zum Eiffelturm. Auf diese Allegorie muss man ja auch zuerst einmal kommen.

Vor allem aber zeigt sein Fall exemplarisch, wie wichtig einzelne Figuren in den Businessmodellen der Grossvereine geworden sind – fürs Marketing, fürs Merchandising. Alles wird um sie herum gebaut, ganze Mannschaften. Der Emir aus Katar rechnete sich wohl aus, dass dieser gross gewachsene Schwede mit dem spektakulären Mundwerk seinem Projekt unmittelbar am meisten Strahlkraft geben würde. Es geht ja darum, Katar als Fussballland zu positionieren, für die Weltmeisterschaften 2022. So grotesk das auch wirkt. PSG ist das Schaufenster dafür, und «Ibra» war bisher die schönste Puppe darin – schier unbezahlbar.

Von der Schönheit eines 0:0

Oliver Meiler am Dienstag den 20. Oktober 2015
Inter Milan's Ivan Perisic, right, takes on Juventus' Juan Cuadrado during a Serie A soccer match between Inter Milan and Juventus at the San Siro stadium in Milan, Italy, Sunday, Oct. 18, 2015. (AP Photo/Luca Bruno)

Ein 0:0 bedeutet oft, dass die beiden Mannschaften sich durch geschicktes Taktieren gegenseitig kontrollierten: Inter und Juventus am Sonntag. Foto:Luca Bruno, Keystone

Es sei hier gleich gestanden: Die Idee dieses polemischen Einwurfs wurde – wie das schon mal vorkommen kann – bei der Lektüre des Artikels eines Kollegen geboren. Luigi Garlando von der «Gazzetta dello Sport», Italiens unverzichtbarer Sportzeitung, trauerte kürzlich dem schönsten, rundesten, perfektesten aller Fussballresultate nach, dem 0:0. Es kommt kaum mehr vor, nicht einmal in Italien, wo man sich ja einst viel und zu Recht einbildete, man habe das Verteidigen zur Kunstform erhoben. Ohne dass wir allzu weit zurückdrehen: Wer hat je einen besseren Abwehrspieler am Werk gesehen als Franco Baresi, den grossen Franco Baresi, diesen Kettenzwirner, diesen Mauermeister? Als Baresi spielte, war ein Sieg noch zwei Punkte wert, nur einen Punkt mehr als ein Unentschieden. Ein Unentschieden war also ertragbar, gerade auswärts. Und so spielte man oft unentschieden, nicht selten 0:0. Hellas Verona gewann 1985 den Scudetto, die Meisterschaft, nach acht 0:0.

Dann, 1995, griff die Fifa ein, und das kommt ja selten gut. Für Siege gab es plötzlich drei Punkte, und das Unentschieden verlor seinen ganzen Charme. Es ist näher an der Niederlage als am Sieg, es ist ein Bastard von einem Resultat. An dieser Stelle erheben sich natürlich all die Stimmen derer, die im Tor das Salz des Spiels wähnen, die vom Spektakel eines 4:3 künden, von einem 2:5, die der englischen Premier League huldigen und deren furiosen Schlussphasen, in denen immer alles noch möglich ist, alles, alles, auch zwei, drei Tore, wenn das Spiel eigentlich schon fertig ist. Möglich ist da selbst eine Meisterschaft in der Nachspielzeit, wie das vor einigen Jahren Manchester City gelang. Kino eben, aber komödienhaftes, voll fussballerischer Slapsticks und Dummheiten. Oder um es mit der «Gazzetta» zu sagen: Tore fallen viel öfter wegen Fehlern statt durch Tugend.

Ein 0:0 ist Tugend pur. Ein 0:0 bedeutet oft, dass die beiden Mannschaften sich durch geschicktes Taktieren gegenseitig verhinderten, neutralisierten, kontrollierten, dass ihre Trainer sie ideal vorbereiteten auf die Stärken des Gegners. Zumindest lässt sich sagen, dass bei einem 0:0 die Fehlerquote in der fehleranfälligsten Abteilung einer Fussballmannschaft, in der Abwehrreihe mit ihren krummfüssigen Akteuren, minimal gehalten werden konnte – und zwar auf beiden Seiten. Eine Wohltat, eine Wonne.

Leider liess sich auch Italien vom hollywoodschen Trend anstecken. Wenn ein Trainer mal das defensivere 4-4-2 spielen lässt, hält man ihm vor, dem Publikum das verdiente Spektakel zu verweigern. Verteidiger wie Baresi bringt Italien nicht mehr hervor. Chiellini? Bonucci? Nun ja. Und 0:0? An den ersten acht Spieltagen dieser Saison, in 80 Spielen, gab es nur zwei 0:0, während die Spanier in ihrer Liga bereits 11 erlebten, die Engländer 8, die Deutschen 4, die Franzosen 9. Immerhin, eines war das Derby d’ Italia, Inter gegen Juventus am Sonntag. Ein Schuss an den Pfosten, ein Kopfball an die Latte. Sonst Perfektion, 0:0​. Grosses Kino.

Pep dahoam

Oliver Meiler am Donnerstag den 19. März 2015
Nachspielzeit

Ein Barça-Fan von vielen: Pep Guardiola auf der Tribüne des Camp Nou am Mittwoch, 18. März 2015. Foto: David Ramos (Getty)

Als Laie stellt man sich vor, dass die Herrschaften Fussballtrainer mit der Zeit die kindliche und staunende Freude am Spiel verlieren könnten. Sie bekommen ja jeden Tag im Training so viel zu sehen von ihren Spielern: Kunststücke zirzensischen Zuschnitts, Weitpässe von chirurgischer Präzision, Passspiele mit Tempo Teufel. Pep Guardiola zum Beispiel: Was hat der nicht schon Nummern beigewohnt in seinen Jahren als Spieler und dann als Coach des FC Barcelona und nun beim FC Bayern München. Auch Kunst kann mal redundant werden, vielleicht sogar stumpf, wenn man sie ständig um sich hat.

Und so zoomte das spanische Fernsehen Guardiola ganz nahe heran, als er am Mittwochabend zum ersten Mal nach fast drei Jahren wieder an die Spielstätte seiner grössten Triumphe zurückkehrte: ins Camp Nou, zum Achtelfinal in der Champions League von Barça gegen Manchester City. Er nahm nicht auf der Tribüne für die Prominenten Platz, wo er natürlich hingehört hätte: Es sitzen da bei jedem Spiel Leute von recht zweifelhafter Prominenz. Nein, Pep und sein Vater Valentí setzten sich auf ihre eigenen Sitze, die ihnen als Mitglieder des Vereins und Dauerkartenhalter zustehen – mitten rein, ins Volk. Und man sollte diese Sitzwahl auch unbedingt als Hieb gegen Barças Vereinspräsidentschaft deuten, mit der es Guardiola gar nicht gut kann. Aber das ist ein anderes Thema.

Nachspielzeit

Ein zufriedener Guardiola während des Champions-League-Rückspiels der Bayern gegen Donezk. Foto: AFP

Da sass er also, der Trainer Bayerns, als Fan Barças. Eine Herzensangelegenheit, beinahe privat, hätten ihn nicht einige Millionen Katalanen in jeder Geste beobachtet. Dann traf Ivan Rakitic nach einem fein gezwirbelten Pass von Leo Messi mit einem Lob zum 1:0, 31. Minute. Ein schönes Tor, ein komponiertes. Da reisst es Pep aus dem Stuhl, das Gesicht gelöst, die Arme in der Höhe. Eine halbe Sekunde, dann zieht er seinen Schal übers Gesicht, um sein Lachen zu verdecken, seinen Jubel zu kaschieren, schier reflexartig. Die Fernsehmacher lesen ja mittlerweile von den Lippen ab. Es gab noch so eine Szene, etwas später, da düpierte Messi einen Gegenspieler auf engem Raum mit einem Beinschuss, einem Tunnelball, leichtfüssig und intuitiv. Pep fuhr mit den Händen übers Gesicht, den Mund zum kindlich staunenden «Oh» geformt, zum: Nein, oder?

Wie wir das tun, wir Laien, die wir den beruflich tätigen Fussballern nicht jeden Tag zuschauen beim Jonglieren, die wir verzückt werden wollen von solchen «jugadas», von diesen kleinen Trouvaillen in einem Spiel, diesen ästhetischen Zugaben an einem Alltagsabend. Und ganz offensichtlich handelt es sich da um eine Kunst, deren Kraft auch dann nicht verwelkt, wenn sie oft genossen wird. Mal sehen, wie Pep Messis «jugadas» an der Seitenlinie erleben wird – als Gegner, vor der Bank Bayerns, beruflich also. Vielleicht bald schon. Es wird dann wohl eine Kamera fix auf ihn gerichtet sein.


Video: Guardiolas Reaktion auf Messis Dribbelkünste.

Nach Madrid, nach Madrid!

Oliver Meiler am Freitag den 6. März 2015
Nachspielzeit

Hier jubeln sie am liebsten: Barcelonas Lionel Messi und Neymar im Bernabéu-Stadion in Madrid (25.10.2014). Foto: Sergio Perez (Reuters)

Eigentlich ist es ja so, dass ein nationaler Cupfinal da hingehört, wo die Nation ihr Zentrum hat: in die Hauptstadt also. Und Spaniens Zentrum ist nun mal Madrid, geografisch und politisch, auch wenn das nicht allen Spaniern gleichermassen behagt. Dort sitzt auch der König, der diesem Pokal seinen Namen gibt: Copa del Rey. In Spanien aber wird der Austragungsort des Finals immer erst vergeben, wenn die Paarung bekannt ist, auch um die Madrider Vereine nicht über die Massen zu bevorteilen. Bekannt ist sie jetzt: FC Barcelona vs. Athletic Bilbao, Katalanen gegen Basken, 30. Mai. Die beiden Klubs würden am liebsten im grössten Stadion der Hauptstadt spielen, im Santiago Bernabéu eben, 80’000 Plätze. 40’000 Karten pro Anhängerschaft, Einnahmen und Stimmung wären maximal. Die Reise der Fans wäre ungefähr gleich weit. Passt perfekt.

Nun gibt es da aber noch einige Überlegungen, die der Vernunft locker die Beine weggrätschen und in langen und sehr ernsthaft geführten Talkshows am Fernsehen und am Radio verhandelt werden, die wichtigste vorab: Real Madrid widerstrebt es, dass die ewigen Rivalen aus Barcelona, gewännen sie denn, den Pokal im eigenen Stadion in den Himmel streckten. Es gibt Präzedenzfälle: Die Zeitung «Marca», dem «Madridismo» innig verbunden, schaltete gerade ein Video aus dem Jahr 1997 auf ihrer Webseite – als Ermahnung, als dringende Warnung. Man sieht da unter anderem die Spieler Pep Guardiola (heute Trainer von Bayern München) und Luis Enrique (Trainer Barças) im ausgelassenen Freudentaumel nach dem Cupsieg über Betis Sevilla.

Man darf annehmen, dass mindestens die Hälfte ihres Taumels der schelmischen Freude am Dekor entsprang: an Bernabéus Bühne, dem Rasen der Nemesis. Und so weist Real nun immer alle Anträge ab, mit mehr oder weniger einleuchtenden Motiven, die der spanische Fussballverband aber jeweils als durchwegs valabel wertet. Vor drei Jahren, als Barça und Bilbao zum letzten Mal gegeneinander im Pokalfinal standen und das Spiel gerne im Bernabéu ausgetragen hätten, liess Real ausrichten, das gehe leider nicht, man müsse die WCs renovieren – unverschiebbar, versteht sich.

Der Final fand dann im Vicente Calderón statt, dem Stadion von Atlético Madrid: 54’000 Plätze, halb so grosse Einnahmen. Das wäre natürlich wieder eine Alternative, stünde da am 30. Mai nicht bereits die Bühne für die Rockband AC/DC, die am Tag darauf im Calderón auftritt. Doch selbst wenn das Stadion frei wäre, würde man es nicht gerne hergegeben, zumal als Klangkörper. Beim letzten Final machten die angereisten Basken und Katalanen nämlich dann am meisten Lärm, als es galt, die spanische Nationalhymne zu begleiten – mit Pfiffen, unisono und so laut, dass die Hymne unterging.

Das will man so lieber nicht mehr haben in Madrid, nicht beim ersten Cupfinal des neuen Königs überdies, Felipe VI., Freund des Sports. Und so wird das Endspiel der Copa del Rey 2015 wohl im Stadion Mestalla von Valencia gegeben, 55’000 Plätze, drei Autostunden von Barcelona und fünfeinhalb Autostunden von Bilbao entfernt. Von dort jedenfalls kam jetzt eine Einladung, ohne jede Furcht vor Pfiffen und schelmischem Freudentaumel.

Der Kopfstoss als Exempel

Oliver Meiler am Samstag den 29. November 2014


Diese Bilder der Überwachungskamera im Pariser Prinzenpark gingen um die Welt: Brandãos Kopfstoss gegen Thiago Motta. (Quelle: Youtube)

Ein Kopfstoss gibt zu denken, grundsätzlich schon mal. Nun aber fragt man sich in Frankreich, ob der Richter am Pariser Strafgericht richtig entschied, als er den brasilianischen Fussballer Evaeverson Lemos da Silva, besser bekannt als Brandão, wegen eines Kopfstosses gegen Thiago Motta zu einem Monat Gefängnis verurteilte – unbedingt, ohne Bewährung. Oder ob dieses Urteil nicht «völlig überzogen» sei, wie Brandãos Anwalt findet. Und nicht nur er denkt so: Eine Umfrage der Zeitung «Le Parisien» zeigt, dass auch etwa die Hälfte der Franzosen meint, es werde hier ein Exempel statuiert. Jedenfalls ist der Fall eine strafrechtliche Premiere.

Tauschen verbale Bösartigkeiten aus: Thiago Motta (links) und Brandão im August. Bild: Keystone)

Trash-Talk auf dem Spielfeld: Thiago Motta (links) und Brandão im August. (Bild: Keystone)

Die Szene mit dem Kopfstoss trug sich im vergangenen August im Keller des Pariser Prinzenparks zu, auf dem Weg zu den Umkleidekabinen nach dem Schlusspfiff der Begegnung Paris Saint-Germain gegen den SC Bastia. Brandão und Motta, beide als Hitzköpfe bekannt, hatten während des Spiels verbale Bösartigkeiten ausgetauscht, sich geneckt und provoziert. So soll Motta dem 34-jährigen Stürmer der Korsen etwa zugeraunt haben: «Du bist kein Mann.» So steht es in den Gerichtsakten. Offenbar sprach er Brandão aber auch auf dessen alte Probleme mit der Justiz an. Vor zwei Jahren war der Brasilianer mit einer Vergewaltigungsklage konfrontiert worden, die jedoch mit einem Freispruch endete. Motta soll Brandão gesagt haben, er sei überzeugt, dass er das Mädchen vergewaltigt habe, worauf ihm der Gegner vorschlug, die Sache nach dem Spiel zu regeln. Unter Männern. Und so kam es also, dass Brandão den italienischen Internationalen vor vielen Zeugen und im Fokus der Überwachungskameras des Parc des Princes abpasste, mit einer trockenen Geste den Kopf ins Gesicht rammte und dann schnell wegrannte.

Die Bilder gingen um die Welt. Mottas Nase blutete, sie war gebrochen. Anzeige erstatten mochte aber weder der Spieler noch der Verein. Die Initiative ergriffen stattdessen die Polizei und die Pariser Staatsanwaltschaft. Sie brachten den Fall vor Gericht. Die zentrale Frage war, ob Brandão vorsätzlich gehandelt habe, wie es die Aufnahmen nahelegen: Man sieht darauf, wie er auf Motta wartet, ihm den Kopfstoss verabreicht, ohne davor mit ihm zu reden, und türmt. Oder ob er, wie es sein Verteidiger beteuerte, einem «plötzlichen, unbedachten Impuls» erlegen sei. Die Richter hielten den Vorsatz für erwiesen. Die harte Strafe begründeten sie damit, dass es «grundsätzlich ein Gewaltproblem in den Stadien» gebe und dieser Fall ein starkes Medienecho ausgelöst habe. Der Kopfstoss drängte sich also gewissermassen als Exempel auf.

Vor Gericht: Brandao am 4. November 2014. (Bild: Keystone)

Vor Gericht: Brandão am 4. November 2014. (Bild: Keystone)

Selbst die Anklage war überrascht vom Urteil, sie hatte nur eine Bewährungsstrafe gefordert. Erstaunt war auch Noël Le Graët, der Präsident des französischen Fussballverbands. «Das Urteil dünkt mich etwas gar streng», sagte er. Der Verband hat Brandão für sechs Monate gesperrt, bis Ende Februar 2015. Das Verdikt der Sportjustiz, so fanden Motta und PSG, machte den Gang vor die Strafjustiz vollends überflüssig. Vielleicht wäre es ihnen auch ganz recht gewesen, wenn die Hintergründe von Brandãos gewalttätiger Revanche, diese unhübschen Sticheleien auf dem Platz, nicht so prominent in der Öffentlichkeit verhandelt würden. Man weiss zwar nicht erst seit Zinédine Zidanes ikonenhaftem Kopfstoss gegen Marco Materazzi im WM-Final 2006 in Berlin, dass es sie gibt und dass sie irgendwie dazugehören, wie es dann immer heisst. Nach dieser Lesart gehört auch ein Kopfstoss irgendwie dazu.

Brandão lag übrigens gerade im OP-Saal, unter Narkose, als das Urteil bekannt wurde. Er musste am rechten Oberschenkel operiert werden, just am Tag der Urteilsverkündigung also. Das Gericht hat sich auch darüber geärgert. Ins Gefängnis wird der Brasilianer wohl trotzdem nicht müssen. In der Regel werden solche Strafen umgewandelt in Arbeitseinsätze für gemeinnützige Zwecke. Wie die aussehen könnten, ist nicht bekannt. Vielleicht etwas mit Kopf.

Rosa Phase und zwei Drachen

Oliver Meiler am Mittwoch den 1. Oktober 2014
James und Bale mit Drachen: Yohji Yamamoto (l.) designte das dritte Trikot der laufenden Saison für Real Madrid.

James und Bale mit Drachen auf der Brust: Yohji Yamamoto (l.) designte das dritte Trikot der laufenden Saison für Real Madrid. Bild über: idfootballdesk.com

Es gab mal Zeiten, da waren die Vereinsfarben heilig, unverhandelbar. Da reichte ein Blick auf den Bildschirm, um sich der Begegnung gewahr zu werden, die da gerade gegeben wurde. Nun schaut man oft zwei-, dreimal hin. Und nicht selten wundert man sich über die Farben, die einem da aufgedrängt, ja regelrecht um die Augen geknallt werden. Rosa. Pink. Gold. Manchmal sind die Farben auch noch fluoreszierend. Für Puristen ist es ein Graus, ganz zu schweigen von den Nostalgikern unter uns. Wer hätte gedacht, dass uns der Fussball einmal modischen Schwankungen aussetzen würde.

«Marca» zeigt das Trikot, das heute uraufgeführt werden soll.

«Marca» zeigt das Trikot, das heute uraufgeführt werden soll.

Die Spieler von Real Madrid zum Beispiel, auch als «Los blancos» bekannt, weil ihre Glorie eben immer weiss erstrahlen soll, treten des Öfteren in Grün oder in Fuchsia auf – selbst dann, wenn man sie auch ohne farblichen Akzent leicht vom Gegner unterscheiden könnte.

In der Champions League gegen den bulgarischen Verein PFC Ludogorez soll nun Reals neuste vestimentäre Kreation zur Uraufführung kommen, eine wahre Extravaganz, um nicht zu sagen: eine ästhetische Grobfahrlässigkeit, die wahrscheinlich mehr zu reden geben wird als die sportliche Affiche an sich. Ein japanischer Designer, dessen Name man womöglich kennen sollte, zeichnete zwei silberne Drachen auf schwarzen Grund – einen Königsdrachen, der «Ruhm, Ehre und Triumph» symbolisiere, und einen Drachenvogel mit Flügeln, der für «Agilität, Geschick und Überwindungskraft» stehe.

Nun ja, bei allen hübschen Kategorien und Tugenden, die da bemüht werden: Es sieht einfach nur schrecklich aus. Einige Spieler tragen das Motiv mit den ineinander verschränkten Drachen jetzt offenbar auch auf ihren Schuhen. Karim Benzema etwa.

Training in Pink: Messi und Piqué fallen bei Barça nicht nur mit ihrem Können auf. Foto: Keystone

Training in Pink: Messi und Piqué fallen bei Barça auch modisch auf. Foto: Keystone

Natürlich kommt diese modische Vereinnahmung der Fussballleibchen nicht zufällig. Sie folgt den Gesetzen des immer lukrativeren Geschäfts mit Gadgets und Accessoires der Clubs – dem Merchandising. Spaniens Grossvereine, die das Business mit besonderer Hingabe pflegen, räumen ein, sie würden dank ihren fantasievolleren 2., 3., 4. Ausstattungen viel mehr Trikots verkaufen als bisher schon. Gewachsen ist vor allem die weibliche Kundschaft. Früher war es ja mal so, dass die Damen im Stadion die viel zu grossen, formlosen Shirts ihrer Männer trugen, wenn ihnen der Sinn denn ums Tragen der eingeheirateten Vereinsfarben stand. Nun sieht man sie auch in fein taillierten, super-slim-fitten Auswärtstrikots in Rosa, Pink, Gold. Wahrscheinlich wird bald auch das schwarze Dress der «Blancos» mit den Drachen zum Verkaufsschlager. Die Spieler dienen da als Posterboys, als Mannequins für die neue Ware.

Genaue Zahlen des Phänomens nennen weder Nike, Adidas noch Puma, doch alle dringen mächtig in die Nische vor. Offenbar ist es so, dass sowohl bei Real wie bei Barça die grellen Versionen überdurchschnittlich gut laufen, besser als die traditionellen Farben. In Madrid wurden im Sommer gar viermal mehr Shirts in Fuchsia verkauft als weisse. In Barcelona läuft das Leibchen mit den roten und gelben Streifen, den Farben Kataloniens, besser als jenes mit Barças roten und blauen Streifen. Bei Männern und bei Frauen. Doch das ist eine andere Geschichte – eine politische.

Früher, da war alles einfacher, da waren die Farben heilig, unverhandelbar.

Bollywood mit Ball

Oliver Meiler am Dienstag den 16. September 2014
Nachspielzeit

Goldjunge und Fussballlegende: Allesandro Del Piero, hier bei der Meisterehrung 2012 von Juventus Turin, soll nun den Delhi Dynamos zu Ruhm verhelfen. Foto: Reuters

Wer nach Indien reist, kommt mit vielen Bildern zurück, meist wohl gar mit einem rundum neuen Weltbild. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass auf einem dieser Bilder junge Inder mit einem Fussball spielen, ist klein. Ausser vielleicht in den Strassen von Kalkutta oder im Süden, in Goa und Kerala, wo der Sport etwas Geschichte hat. Indien lebt, atmet, ist Cricket. Cricket durchdringt Kasten und Schichten, drängt alles an die Wand. Und seit 2008 ist Cricket in seiner fernsehtauglichen Kurzform T20 auch ein kommerzieller Erfolg, international. Die Indian Premier League, betrieben von Grossindustriellen und Schauspielern aus Bollywood, zieht mit Millionen die Stars aus dem Ausland an. Nie war mehr Geld im Cricket.

Nun soll das Format auch dem Fussball zu mehr Popularität verhelfen. Ein bisschen etwas ist schon da, zumindest in den urbanen Mittelschichten, die sich am Fernsehen Spiele der englischen Premier League und der spanischen Liga anschauen. Im Oktober beginnt nun die erste Saison der Indian Super League (ISL) einer Kurzmeisterschaft mit acht Teams mit so hübschen Namen wie Chennai Titans, Delhi Dynamos, Kerala Blasters und Atlético de Kolkata. Sie alle haben sich vom Organisator, dem Industriebetrieb Reliance Industries, eine Franchise für mehrere Jahre gekauft. In 69 Tagen treten sie je zweimal gegeneinander an. Die vier Besten machen in Halbfinals und Final den Meister aus. Am 20. Dezember, gerade noch vor Weihnachten, ist die Saison dann auch schon wieder vorbei. Nicht dass Weihnachten sehr vielen Indern etwas bedeuten würde. Es tut es aber etlichen jener Herrschaften Altstars aus Europa und Südamerika, die den Indern den Fussball in einer Pionierleistung beibringen, sie bestenfalls sogar dafür begeistern sollen.

Die meisten von ihnen kommen aus Spanien, Frankreich, Italien, England. Etliche waren schon im Ruhestand, andere tingelten noch durch exotische Ligen, wahre Globetrotter des Fussballs. Hier nun einige Ausrufezeichen aus den bereits unwiederbringlich angegilbt gewähnten Ruhmesalben des Sports: Alessandro Del Piero, 39, zu den Delhi Dynamos! David Trezeguet, 36, zum Pune City FC! Nicolas Anelka und Manuel Friedrich, beide 35, beide zum Mumbai City FC! Luis García, 36, nach Kalkutta! David James, 44, Torhüter und Manager, arbeitet in Kochi! Marco Materazzi, 41, wird Spielertrainer in Chennai! Zico, 61, ist schon Coach des FC Goa!

Die «Times of India» meldet im Tagestakt die Verpflichtung sogenannter Marquee Players: von grossen Zirkusnummern also, von Treibern von Spektakel und Glamour ohne vorgeschriebene Gehaltslimiten. In Chennai, dem früheren Madras, hätten sie gerne die späten Kapriolen von Ronaldinho gezeigt, der ja erst 34 ist, doch er schlug eine überaus generöse Offerte aus und zog stattdessen nach Mexiko. Im Schnitt, so hört man, verdienen die Senioren aus der Ersten Fussballwelt etwa 650’000 Euro – netto, im Monat. Auf ihren Twitterkontos geben sich alle «happy» und «thrilled», und man darf annehmen, dass dieser Enthusiasmus nicht unwesentlich dem unverschämt guten Geld in ungemein kurzer Zeit geschuldet ist. Der eine oder andere freut sich wohl auch auf ein Spiel im Salt Lake Stadium in Kalkutta, mit 120’000 Plätzen eines der grössten Fussballstadien der Welt. Bilder wird das geben!

Doch am Ende hängt das Schicksal des indischen Fussballs weniger am Spätwerk der Altstars als vielmehr an der Strahlkraft der Promoter und Clubbesitzer aus Indien. Hier nun einige doppelte Ausrufezeichen: Salman Khan!! Abishek Bachchan!! Ranbir Kapoor!! Alles Schauspieler aus Bollywood, alles Megastars. Und, wow: Sachin Tendulkar!!! Sourav Ganguly!!! Beides Grosslegenden des Cricket, beides Clubbesitzer in der indischen Fussballliga. Natürlich interessieren sie sich mehr fürs Business als fürs Spiel mit dem grossen Lederball. Doch wenn sie auf der Tribüne sitzen, dann ist Indien bei sich – und auch ziemlich ausser sich.

Happy Hour zur Unzeit

Oliver Meiler am Dienstag den 2. September 2014
Atletico Madrid vs Real Madrid

Um 23.02 Uhr am 22. August erzielte Mario Mandzukic (9) im spanischen Supercup das 1:0 für Atlético gegen Real. Hätte man gewusst, dass es der einzige Treffer bleibt, hätte man eventuell schon vor Mitternacht ins Bett gehen können. Foto: Keystone

Wenn die Spanier englische Begriffe gebrauchen, dann ist es in aller Regel so, dass sie im Spanischen keine besseren gefunden haben oder vielleicht auch gar keine finden wollten: «After Hour» ist ein solcher Begriff. So nennt man im spanischen Fussball eine sonderbare Sottise, die sie wohl in den Büros der Bezahlfernsehsender erdacht haben. Es geht um Meisterschafts- und Cupspiele, die «nach der Stunde» stattfinden, zu Unzeiten also, Anpfiff 23 Uhr. Die zweite Halbzeit beginnt dann kurz nach Mitternacht. Mit etwas Nachspielzeit enden die Begegnungen kurz vor 1 Uhr in der Früh. Wenn es noch einer Verlängerung bedarf, um den Sieger zu bestimmen, vielleicht sogar eines Penaltyschiessens, ach, dann zieht schon der nächste Morgen auf.

Nun ist es ja wahr, dass die Spanier ihre Tage anders einteilen als ein stattlicher Teil der Resteuropäer, hier ragt alles in die Nacht. Gerade im Sommer. Und natürlich erklärt sich die After Hour aus einem elementaren Bedürfnis des Pay-TV, das die Spiele so streut, dass jedes für sich beworben werden kann. Lange sind sie her, die Zeiten, da alle Vereine gleichzeitig spielten, da Konferenzschaltungen am Radio der wahre Reiz dieses Sports waren. Samstagnachmittag in Deutschland. Sonntagnachmittag in Italien und Spanien. Als die Engländer ihren ungeheuren Marktwert in Asien entdeckten, setzten sie Spiele am Mittag an, damit die Fans in Bangkok, Jakarta und Kuala Lumpur etwas zum Vorabend hatten. Zur Happy Hour gewissermassen, zur glücklichen, fröhlichen Stunde.

Die After Hour dagegen ist keine sehr glückliche Stunde. Wahrscheinlich auch für die Spieler nicht, doch die sollen ruhig mal nach den Arbeitsbedingungen ihrer gut zahlenden Vereine auflaufen. Unselig sind die Zeiten für die Zuschauer, wahre Ärgernisse. Für die Kinder, die zu Schulzeiten nicht mit ins Stadion dürfen. Für Frühschichtler, denen der Spass zu viel Nachtruhe raubt. Selbst für den Zuschauer zu Hause vor dem Fernseher. Es ist nämlich nicht so, dass einen das gebotene Spektakel immer aus dem Sofa hauen würde.

Nun könnte man natürlich einfach ausschalten und ins Bett gehen. Doch als irgendwie berufsmässiger Beobachter der Szene geht das nicht immer. Zum Beispiel vor zwei Wochen wieder, spanischer Superpokal, Cupsieger gegen Meister, Real Madrid gegen Atlético Madrid, Anpfiff 23 Uhr. Da kämpft man sich dann also durch die Qualen der After Hour, tätschelt sich die rechte Wange, um wach zu bleiben, vertritt sich zwischendurch mal die Beine, wie man das sonst auf Langstreckenflügen tut, wünscht sich einen plötzlichen Ausfall der Scheinwerfer im Stadion, eine definitive Unterbrechung der Übertragung, einen Stromausfall im Haus, irgendeinen objektiven Grund für ein frühes Ende – por favor!